Klaus Weber, Wolfgang Veiglhuber (Hrsg.): Wagenknecht – Nationale Sitten und Schicksalsgemeinschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt, 24.10.2022
Klaus Weber, Wolfgang Veiglhuber (Hrsg.): Wagenknecht – Nationale Sitten und Schicksalsgemeinschaft. Gestalten der faschisierung 2.
Argument Verlag
(Hamburg) 2022.
288 Seiten.
ISBN 978-3-86754-531-0.
13,00 EUR.
Reihe: gestalten der faschisierung - 02.
Thema und Entstehungshintergrund
Mit ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ hat Sarah Wagenknecht eine heftige Diskussion (nicht nur) in der Linken ausgelöst, die bis hin zu einem Parteiausschlussverfahren für die Autorin geführt hat. Der vorliegende Band in der Reihe „Gestalten der Faschisierung“ des Argument Verlags (ein bereits erschienener anderer Band setzt sich mit dem Werk von Peter Sloterdijk kritisch auseinander) distanziert sich von einem bürokratischen Umgang mit dem Buch von Wagenknecht und will eine sachliche Auseinandersetzung über deren zentrale Thesen und Argumente anregen.
Aufbau und Inhalt
Der Band gliedert sich in 5 Kapitel, die sich mit Wagenknechts Themen kritisch auseinandersetzen und schließt mit einem Brief des Mitherausgebers Klaus Weber an Sahra Wagenknecht ab.
Im ersten Kapitel analysiert Klaus Weber den „Rechtsschwenk“ von Sahra Wagenknecht und setzt sich mit ihrer Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse auseinander. Ihr Bekenntnis zum deutschen Nationalstaat und einer nationalen Marktwirtschaft wird dabei eher ausgeblendet, im Vordergrund steht die Frage, wie Sahra Wagenknecht „Gesellschaft“ denkt. Klaus Weber sieht dabei erhebliche Überschneidungen der zentralen Begrifflichkeiten von Wagenknecht (Lebensraum, Gemeinschaftsgefühl, Stammesbande) mit den Ausführungen Björn Höckes.
Aus seiner Sicht will Wagenknecht die gesellschaftlichen Gründe, aufgrund derer Menschen in andere Länder fliehen, nicht benennen, um „den Gegensatz von Gemeinschaftszugehörigen und Gemeinschaftsfremden für ihre Form des sozialen Nationalismus „auszubeuten““ (S. 23).
Weber kommt zu dem Ergebnis, dass Wagenknechts Gesellschaftsbeschreibung weder etwas mit Aufklärung noch mit Selbstaufklärung zu tun hat. Aus seiner Sicht kultiviert sie in ihren Schriften ein idealistisch-konservatives und reaktionäres Gedankengut, mit dem sie die „Brücke ins völkisch-nationale Lager“ überschritten hat und Menschen denunziert, die sich gegen die neofaschistische Gefahr stellen.
Michael Wendl setzt sich unter der Überschrift „Marktwirtschaft statt Kapitalismus“ mit Wagenknechts ökonomischem Glaubensbekenntnis auseinander und er spricht von einer ordoliberalen Kapitalismuskritik. Dabei geht es ihm in einer historischen und analytischen Sichtung des Zusammenhangs ordoliberaler Ideen mit sozialistischen Vorstellungen darum zu zeigen, dass Wagenknechts ordnungspolitische Vorstellungen mit der Kernkritik des Ordoliberalismus, die auf eine Abwehr staatlicher Eingriffe in den Markt hinausläuft, wenig zu tun haben. An verschiedenen Stellen weist er auf das Unverständnis der Werttheorie von Karl Marx durch Wagenknecht hin und den daraus resultierenden Fehleinschätzungen von Konkurrenz und Kapitalismus. Michael Wendl kritisiert Wagenknechts Sehnsucht nach einer Rückkehr zu Märkten mit vollständiger Konkurrenz und er führt dies auf eine Sichtweise zurück, die den Ordoliberalismus deshalb adelt, weil er ökonomische Erkenntnisse „aus einem Set von Moral- und Tugendregeln des einzelwirtschaftlichen Handelns mit einem starken Staat, der die Einhaltung dieser Tugendregeln garantiert“ verbindet (S. 107).
Ernst Wolowicz setzt sich in seinem Beitrag mit Wagenknechts Drei-Schichten- und Zwei-Lager- Modell auseinander und er findet dies „wenig originell, empirisch nicht unterlegt und zu einfach“ (S. 117).
Im Zentrum seiner Analyse steht die Frage, ob Wagenknechts Klassenanalyse empirischen Befunden Stand hält und er kritisiert, dass ihre Thesen empirisch wenig gesättigt sind. So ist die von ihr behauptete Schwächung der Gewerkschaften durch hohe Migranten-Anteile ebenso wenig nachweisbar wie ihre Darstellung der Arbeiterschaft und der Servicebeschäftigten als monolithischer Block. „Er wird der differenzierten Lage und den differenzierten Bewusstseinsstrukturen nicht gerecht“ (S. 149).
Peter Bierl befasst sich in seinem Aufsatz unter der Überschrift „Von Ulbricht zu Erhard“ mit Wagenknecht als „Brückenbauerin nach rechts“. Es handele sich bei ihrer Entwicklung um einen Prozess, keinen Bruch. In einer Nachzeichnung der Entwicklung der Argumentation bei Wagenknecht markiert er ihren Übergang zu bürgerlichen bis reaktionären Vorstellungen in dem Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ von 2013. Habe sie bis dahin noch vage sozialistische Projektionen entwickelt, so fordert sie hier, dass Leistung, Wettbewerb und echte Unternehmer gefördert werden sollen. Ihre zentrale These, der Kapitalismus zerstöre die Marktwirtschaft, wird von Bierl als kontrafaktisch kritisiert. Kapitalismus ist Marktwirtschaft unter modernen industriellen Bedingungen, hält er Wagenknecht entgegen und hierzu gehören unvermeidbar „Zentralisation und Konzentration von Kapital, Konzerne und Banken, Oligopole und Monopole“ (S. 193).
Wagenknechts Ideal einer antimonopolistischen, krisenfreien und vom Weltmarkt abgeschotteten Marktwirtschaft sei ein „Wolkenkukucksheim“. Ihre Beschwörung der nationalen Volksgemeinschaft laufe auf die These hinaus, dass nur ein Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit die Basis eines Sozialstaats sein könne.
Peter Bierl schlussfolgert, dass Wagenknecht die Linke anschlussfähig nach rechts mache, aber bei aller Ähnlichkeit mit faschistischen Konzepten keine Faschistin sei. Fast alles, was sie verkündet, „findet sich in der Linken längst, gehört oftmals zum unreflektierten Tatbestand“ (S. 210).
Wolfgang Veiglhuber setzt sich in einem sehr erhellenden Beitrag mit „Gemeinsinn, Zusammenhalt und Nation: Eine nationale Perspektive ohne Kapitalismuskritik“ auseinander. Nachdem er zunächst den Gemeinsinn-Gedanken bei Wagenknecht auffächert und zeigt, dass dies nur für die der Nation Zugehörigen Geltung haben kann, kommt er zu der Schlussfolgerung, dass die Begriffe „Gemeinwohl“ und „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ von ihr in ihrer Bedeutung in einer Klassengesellschaft nicht erläutert werden. Wagenknecht – so Veiglhuber – abstrahiert in ihren Bestimmungen „recht rücksichtslos“ von den Bedingungen der Produktion und Reproduktion der Menschen in kapitalistischen Gesellschaften. Sie nehme bei ihren Unterscheidungen nicht Maß an den wirklichen Lebensverhältnissen, sondern konstruiere harmonische Verhältnisse auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene.
Wagenknechts Vorstellung einer vorstaatlichen, quasi volksmäßigen Identität von Menschen (vermittelt über Sprache, Abstammung, Kultur und Geschichte) sei eine Konstruktion, an der „nichts stimmt“ (S. 225). Bei Wagenknecht kommen die realen Lebensverhältnisse nicht vor, stattdessen verkenne ihr unkritischer Bezug auf Nation und nationale Identität, dass die Trennung von politischer und ökonomischer Herrschaft Resultat des sich heraus bildenden Kapitalismus des 18. und 19. Jahrhunderts sei. Es sei deshalb auffällig, dass Wagenknecht ohne jede Darlegung zur Frage des Staates in kapitalistischen Gesellschaften auskommt.
Ihr Verzicht auf Kapitalismus- und Staatskritik begründe eine Sicht auf „Neoliberalismus“ als Grund für die Probleme des kleinen Mannes. Und obwohl Wagenknecht nicht so weit wie Höckes „Solidarischer Patriotismus“ im Rahmen des Sozialsystems gehe, legt auch sie nahe, bei sozialstaatlichen Leistungen nach Zugehörigkeit zur Nation zu unterscheiden.
In einem analytisch anspruchsvollen Kapitel zu Nation und Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung widmet sich Wolfgang Veiglhuber der Frage von Notwendigkeiten und Fehlern der Arbeiterbewegung mit Bezug auf Staat und Nation und kennzeichnet dies mit Bezug auf Jühnke als einen überwiegend tragischen Lernprozess.
Veiglhubers Fazit lautet, dass Wagenknecht sich von der Kritik der politischen Ökonomie und damit von Kapitalismuskritik verabschiedet habe und dass sie mit ihrer Verteidigung der nationalen Identität jede andere Form der Artikulation von Teilidentitäten verurteile. Sie habe sich damit das Lob der Rechten und die Kritik der Linken redlich verdient. „Fragt sich nur, wo die Kritik aus der Partei Die Linke bleibt“? (S. 264).
Der Band schließt ab mit einem Brief von Klaus Weber „Entsorgung der Vergangenheit? Brief an Sahra Wagenknecht“.
Diskussion
Die Auseinandersetzung mit den Thesen von Sahra Wagenknecht ist – so nimmt der Rezensent die Argumentation des Bandes wahr – in der Konsequenz eine Auseinandersetzung mit dem Nationalismus in der Linken. Das Buch hebt sich dadurch von anderen (auch kritischen) Diskussionen zum Thema Wagenknecht ab, dass es eine durchweg sachliche und theoretisch gehaltvolle Analyse ihrer Schriften und deren historischer Entwicklung mit einer Polemik verbindet, die sich aus den durchgeführten Begründungen ableitet.
Damit kritisiert der Band auch eine Vorgehensweise, die dem Standpunkt von Wagenknecht lediglich ihren eigenen entgegen setzen. Obwohl manche Aufsätze des Buches sehr voraussetzungsvoll sind, ist der Band in seiner Gesamtheit als Lektüre auch für diejenigen empfehlenswert, die beginnen, sich mit dem grassierenden linken und rechten Nationalismus kritisch auseinander zu setzen.
Dass die Autoren des Bandes in ihren Schlussfolgerungen mehrfach auf Überschneidungen des patriotischen Denkens einer Wagenknecht mit rechten und neorechten Thesen hinweisen, verdankt sich der Sache. Eine durchweg empfehlenswerte Lektüre mit hohem Lehr- und Lernpotenzial.
Fazit
Der Argument Verlag hat mit seinen zwei Bänden einen Startpunkt für kritische Auseinandersetzungen mit bekannten Theoretikerinnen und Theoretikern gesetzt, die auf nachfolgende Bände hoffen lässt. Dem Buch zur kritischen Analyse der Thesen von Sahra Wagenknecht ist eine weite Verbreitung zu wünschen, da es Aufklärung im besten Sinne des Wortes liefert.
Rezension von
Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt
Professor i.R. für Sozialmanagement, Verwaltung und Organisation am Fachbereich Sozialarbeit der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe Bochum
Mailformular
Es gibt 47 Rezensionen von Norbert Wohlfahrt.
Zitiervorschlag
Norbert Wohlfahrt. Rezension vom 24.10.2022 zu:
Klaus Weber, Wolfgang Veiglhuber (Hrsg.): Wagenknecht – Nationale Sitten und Schicksalsgemeinschaft. Gestalten der faschisierung 2. Argument Verlag
(Hamburg) 2022.
ISBN 978-3-86754-531-0.
Reihe: gestalten der faschisierung - 02.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29815.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.