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Tilman Reitz: Funktionen der Soziologie

Rezensiert von Prof. Dr. René Gründer, 22.12.2022

Cover Tilman Reitz: Funktionen der Soziologie ISBN 978-3-7799-3831-6

Tilman Reitz: Funktionen der Soziologie. Eine wissenssoziologische Einführung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 258 Seiten. ISBN 978-3-7799-3831-6. D: 14,95 EUR, A: 15,40 EUR, CH: 21,30 sFr.

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Thema:

Thema des Buches ist die Wissenssoziologische Einführung in Soziologie.

Was passiert, das Erkenntnisinteresse und die Methodik der Wissenssoziologie auf den Gesamtbestand des Faches Soziologie angewendet werden um darüber in das Fach insgesamt einzuführen?

Tilman Reitz nutzt diesen Ansatz, um sachkundig und dabei ebenso kritisch wie unterhaltsam in die je zeitgebundenen Funktionen und Funktionalisierungen von Soziologie als analytische Selbstreflexion und Selbstvergewisserung von Gesellschaft einzuführen.

Autor

Der Soziologe Tilman Reitz lehrt auf einer Professur im Fachgebiet der Wissenssoziologie seit 2015 an der Universität Jena.

Entstehungshintergrund

In der Einleitung des Buches verweist der Autor auf dessen Entstehungszusammenhang aus den von Ihm gehaltenen Einführungsvorlesungen in die Soziologie. Daraus ergibt sich auch die didaktische Aufbereitung des Inhalts, die sich etwa in der durchgängigen Hervorhebung der Namen von ‚klausurrelevanten‘ Autor:innen und klassischen Studien im Buchtext zeigt.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in drei große Abschnitte, und eine orientierende Einleitung mit dem Titel „Wozu Soziologie“. Die Hauptkapitel sind mit „Gründungsgeschichten“, „Forschungsgebiete und Theorieschulen“ sowie schließlich „Konflikt- und Untersuchungsfronten“ überschrieben. Jedem Kapitel wird dabei eine wissenssoziologische Einordnung des darin Thematisierten nachgestellt.

Inhalt

In der Einleitung (S. 13 f.) legt der Autor seine Vorannahmen zur vielfältigen Funktionalität von soziologischer Gesellschaftsreflexion dar. Typisch für Soziologie sei ein multiparadigmatischer Kanon von zeitgleich nebeneinander bestehenden Forschungs- und Theoriezugängen, deren Bedeutung vor allem von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen her zu verstehen sei. „Um die gesellschaftlichen Bedingungen von Vielfalt, Streit und Vorherrschaft zu erschließen, kann man sich daran orientieren, wer über die für Soziologie notwendigen Ressourcen verfügt und worum im Fach und in seinen Kontexten besonders heftig gestritten wird. Anzeichen für die gesellschaftliche Einbettung der Soziologie sind anders gesagt Aufträge und Konflikte, wissenschaftliche Erwerbstätigkeit und Situationen, in denen fachlicher Austausch durch wechselseitige Bekämpfung ersetzt wird.“ (S. 14).

Das Kapitel „Gründungsgeschichten“ setzt mit der klassischen politischen Theoriebildung und Staatsphilosophie seit der Antike ein und folgt diesem Pfad bis zur politischen Ökonomie bei Adam Smith und Karl Marx. In diesem Prozess werden bekanntlich die unterschiedlichen, aber stets menschgemachten Ordnungen gesellschaftlichen Zusammenlebens als solche reflexiv bewusst und dadurch einer wissenschaftlichen Untersuchbarkeit (sowie soziotechnischen Veränderbarkeit) zugeführt.

Ausgehend von den klassischen Problematisierungen neuzeitlicher und moderner Gesellschaftsverständnisse (Liberalismus, Sozialismus, Konservativismus und Faschismus) zeigt Reitz unter Verweis auf Karl Mannheims Wissenssoziologie, dass letztlich jeder analytische Gesellschaftsbegriff implizit durch politische Haltungen (mit)bestimmt ist (S. 46).

Im dritten Kapitel wird die Geschichte der Soziologie als empirische Wissenschaft vor dem Hintergrund steigender Nachfrage nach ‚Steuerungswissen‘ in komplexen Vergesellschaftungsformen der Moderne dargestellt (S. 48 ff.).

Das Referat der soziologischen Klassiker (Weber, Simmel, Pareto), S. 65 f. fokussiert auf deren macht- und herrschaftssoziologische Konzepte und aktualisiert insbesondere die historischen Einordnungen zum Faschismus vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen durch Rechtspopulismus (S. 78). Im Kapitel zur Entstehung der industriesoziologischen Feldforschung zum Beginn des 20. Jahrhunderts werden deren Bedeutung für die Schärfung eines Selbstverständnisses der Soziologie als empirische Wissenschaft durch die Auseinandersetzung mit externen Steuerungsaufträgen und das Ringen um methodisch ‚saubere‘ Erhebungsformen herausgearbeitet (S. 90 f.).

Im zweiten Teil des Buches, der mit „Forschungsgebiete und Theorieschulen“ überschrieben ist geht es zunächst um die Funktion von Intellektuellen bzw. um die Rolle von Soziologen bei der Formierung dieser spezifischen Gruppe im 20. Jahrhundert. Dieses Thema wird sachkundig am Beispiel der unterschiedlichen Generationen der „Frankfurter Schule“ bzw. der Kritischen Theorie diskutiert. An diesem Beispiel zeigt Reitz, dass und wie ehemals marginalisierte Intellektuelle durch institutionelle Aufwertungsprozesse ihrer Rollen zu wirkmächtigen Begründern kultursoziologischer Denkschulen werden konnten und deren gesellschaftlich etablierte Schüler jedoch unter Aufgabe kapitalismuskritischer Perspektiven eher zur Affirmation und Legitimation bestehender Gesellschaftsstrukturen beitrugen (vgl. Habermas).

Die Darstellungen zur klassischen Ungleichheitsforschung bzw. Sozialstrukturanalyse ab S. 111 zeigen klar deren Entstehungszusammenhang aus der seinerzeitigen Systemkonkurrenz staatssozialistischer und marktwirtschaftlicher Gesellschaften in der Nachkriegszeit.

Die anschließende Darstellung zur Lebensstilforschung/Milieutheorie bei Pierre Bourdieu und dem privaten Sinus-Institut in Deutschland eignet sich wissenssoziologisch besonders gut zur Kontrastierung unterschiedlicher erkenntnistheoretischer Hintergründe und Rahmenbedingungen in „kommerzieller und akademischer Forschung“ (S. 140) in Bezug auf vergleichbare Forschungsgegenstände in der Soziologie.

Reitz kann an weiteren Beispielen zur mehr oder minder nachvollziehbaren Verwendung von kommerziellen Milieuforschungsbefunden zeigen, dass die privatwirtschaftlichen Interessen hinter Auftragsforschung einer umfassenden freien Nutzung im Kontext akademischer Wissenschaft oft strukturell entgegenstehen (S. 141).

Im Folgenden wendet sich der Autor den Theorieschulen der Systemtheorie anhand ihrer amerikanischen (Talcott Parsons) und deutschen (Niklas Luhmann) Exponenten zu. An ausgewählten Beispielen zum Exklusionskonzept kann der Autor zeigen, dass Luhmann sowohl den logischen Widerspruch zwischen dem (totalen) Inklusionskonzept einer funktional differenzierten Gesellschaft und empirisch feststellbarer sozialer Exklusion durchaus wahrnahm und in seiner Einschätzung zur Inklusionssicherung durch wohlfahrtsstaatliche Mittel jedoch „ambivalent“ (S. 157) bzw. zunehmend kritisch eingestellt sei.

Der Theorieströmung einer ‚verstehenden Soziologie‘ widmet sich das folgende Kapitel (S. 160 ff.). Hierbei werden pragmatistische, hermeneutisch/phänomenologische und z.T. strukturalistische Ansätze anhand ihrer Klassiker vorgestellt. Verfremdungs- und Normalisierungsprozesse werden als Felder intersubjektiven Sinnverstehens bzw. -rekonstruierens in der Soziologie behandelt. Reitz betont, dass die Themen und Methoden verstehender Soziologie besonders häufig „(…) an den Rändern der Psychiatrie und Sozialarbeit, in der Polizei und im Justizwesen“ aufträten. „Die verstehende Soziologie hilft (…), bis heute die Verständigungsprobleme zu bewältigen, die an diesen gesellschaftlich definierten Rändern der Normalität auftreten.“ (S. 175).

Das Kapitel zum Poststrukturalismus (S. 180 ff.) wird mit den französischen Klassikern der 1960er Jahre eingeführt und deren Wirkung in emanzipativen Bewegungen beleuchtet. Reitz fragt wissenssoziologische folgerichtig nach der gesellschaftlichen Situiertheit poststrukturalistischen Wissens und seiner bis heute wirkmächtigen Vertreter:innen am Übergang von Moderne zu Post-Moderne. Postmoderne und Poststrukturalismus können als denkerische Konsequenz einer „neuen Phase des Kapitalismus“ (S. 194) angesehen werden.

Kapitel 12 ist mit „Gleichheitsversprechen“ überschrieben und fokussiert ungleichheitssoziologische Perspektiven, die sich mit den Feldern Arbeit, Bildung, Geschlecht und Migration beschäftigen. Reitz verweist darauf, dass diese Themen Kondensationsorte latenter bzw. künftig offener Konflikte in modernen Gesellschaften darstellten. Die Geschlechterforschung sei „zwar vielfältig, aber normativ und sogar moralisch stark aufgeladen: Wer hier forscht oder reflektiert, bezieht unweigerlich Stellung und riskiert leicht, etwas sehr falsch zu machen.“ (S. 212.).

In den Kapiteln zu soziologischen Zeitdiagnosen und den Herausforderungen der Ökonomisierung wird die „interessierte Öffentlichkeit“ (S. 218) als ein wichtiger „Abnehmer“ soziologischer Reflexionen von Gesellschaft bestimmt. Soziologie konkurriert dabei mit vielen anderen Disziplinen (S. 235). Ihre Wissensarbeit gerät ebenso unter vielfältigen Verwertungsdruck (S. 229). Beforscht, reflektiert und publiziert wird zunächst einmal (nur) das, wofür ein Markt und eine Nachfrage bestehen.

In einer abschließenden Gesamtbetrachtung rahmt Reitz die Fachgeschichte der Soziologie durch die je unterschiedlichen Sichten auf das seit Max Weber klassische Themenfeld von „Wirtschaft und Gesellschaft“. Plausibel werden die (etwa durch sozialisatorische Wertmaßstabvermittlung bestimmten) Grenzen der allgemeinen Tendenz zur Erklärung jedweden sozialen Handelns auf Basis rationaler Wahlmodelle aufgezeigt (S. 245) und letztlich Kapitalismuskritik als Dauerthema einer (kritischen) Gesellschaftsanalyse benannt (S. 247–256).

Eine „Soziologie der kapitalistischen Gesellschaft“ ist für Reitz bislang noch unabgeschlossen. Der Autor meint dabei, dass die wirkmächtigeren Erklärungsangebote kapitalistischer Gesellschaft heute „von kapitalismuskritischer – sozialistischer, feministischer, antikolonialer – Seite“ her kämen (S. 256). Hoffnung für eine diesbezüglich relevante Thematisierungen in der Soziologie sieht Reitz momentan am ehesten im Bereich der Ungleichheitsforschung.

Diskussion

Tilman Reitz unternimmt mit seinem Buch „Funktionen der Soziologie“ den ambitionierten Versuch, die heterogenen Entwicklungspfade der Soziologie unter dem Erwartungsdruck einer wissenssoziologischen Einführung in die Soziologie möglichst prägnant darzustellen.

Beim Rezensenten hinterlässt das Buch diesbezüglich einen etwas zwiespältigen Eindruck: Es ist als Einführung sehr gut lesbar geschrieben und deckt die maßgeblichen klassischen Theorieschulen und Methodenlehren der Soziologie gut ab. Das Werk kann auch in einigen Kapiteln – namentlich zur Intellektuellensoziologie der Frankfurter Schule (S. 94–110) oder zur Milieusoziologie (S. 128–145) – als wissenssoziologische Selbstreflexion des Faches überzeugen. Allerdings wird diese interessante Perspektive über den Gesamttext nicht so konsequent durchgehalten, wie dies etwa durch eine kritische Analyse der jüngeren Konflikte um die Funktion der Sozialwissenschaften möglich gewesen wäre, die bis zum Schisma zwischen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und der Akademie für Soziologie im Jahre 2017 führten.

Neben der umfassenden Auseinandersetzung mit „der Ökonomik“ gerät die ebenso gebotene soziologische Befassung mit machtvollen Steuerungslogiken der Informationsgesellschaft (Stichwort: Algorithmierung von Konsumverhalten, Bewirtschaftung von Aufmerksamkeitsökonomien, Desinformation, Künstliche Intelligenz und Selbstmarginalisierung des Menschen in der Technosphäre) aus dem Blick. Dabei werden die gesellschaftlichen Nebenfolgen von datensetzenden Machtprozessen (i.S. Popitz 1992), die einen Kernbestand der neuen Warenformen im Informationskapitalismus darstellen, im Buch leider zu wenige Ausführungen gewidmet.

Fazit

In seinem Buch „Funktionen der Soziologie“ formuliert Tilman Reitz auf 256 Seiten eine überzeugende Einführung in das Fach, die gut verständlich und in gebotener Breite über die wesentlichen Entwicklungslinien und Theorieschulen informiert. Den Anspruch des Autors, dabei zugleich eine wissenssoziologische Selbstreflexion der Disziplin vorzulegen kann das Buch nach Auffassung des Rezensenten allerdings nicht durchgängig überzeugend einlösen.

Literatur

Popitz, Heinrich (1992): Phänomene der Macht. 2., stark erw. Aufl. Tübingen: Mohr.

Rezension von
Prof. Dr. René Gründer
Duale Hochschule Baden-Württemberg Heidenheim, Fachbereich Sozialwesen. Homepage: https://www.heidenheim.dhbw.de/dhbw-heidenheim/ansprechpersonen/prof-dr-rene-gruender
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Zitiervorschlag
René Gründer. Rezension vom 22.12.2022 zu: Tilman Reitz: Funktionen der Soziologie. Eine wissenssoziologische Einführung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. ISBN 978-3-7799-3831-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29820.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.


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