Julia Böcker: Fehlgeburt und Stillgeburt
Rezensiert von Dr. med. Judith Zimmermann, 16.02.2023
Julia Böcker: Fehlgeburt und Stillgeburt. Eine Kultursoziologie der Verlusterfahrung.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
336 Seiten.
ISBN 978-3-7799-6697-5.
D: 39,95 EUR,
A: 41,10 EUR.
Reihe: Randgebiete des Sozialen.
Thema
Julia Böcker untersucht in ihrer qualitativ angelegten Dissertation Fehl- und Stillgeburtserfahrungen im Kontext der kulturell-diskursiven Ordnungen, in die sie eingebettet sind.
Entstehungshintergrund
Bei der Arbeit handelt es sich um den Text ihrer Dissertation aus dem Jahr 2020 an der Universität Lüneburg.
Aufbau und Inhalt
Nach einem einleitenden Kapitel klärt die Autorin im zweiten Kapitel zunächst Begriffe, rechtliche Bestimmungen, zeigt den Stand der Forschung auf und konstruiert die Leitfragen ihrer Arbeit. Ein drittes Kapitel beschäftigt sich mit der Methodik und dem Forschungsfeld. In einem vierten Kapitel wird ein Modell zur Art der Körperdeutung der Schwangeren entwickelt. Die Autorin unterscheidet Schwangere dahingehend, ob sie bezüglich des Status ihrer Schwangerschaft vor allem auf das eigene Körperempfinden bauen oder vor allem auf Expertenrat vertrauen oder beide Informationen zur Informationsgewinnung nutzen.
Im fünften Kapitel bespricht Julia Böcker die medizintechnischen Diagnostikmöglichkeiten (Ultraschall, Schwangerschaftstests etc.), mit der frühe Schwangerschaften beurteilt werden können und unterscheidet in einem zweiten Teil des Kapitels Schwangerschaften mit einem nachweisbaren kindlichen Körper und solche, bei denen ein darstellbarer kindlicher Körper fehlt.
Das sechste Kapitel befasst sich mit besonderen Formen von Kindsverlusten, nämlich Schwangerschaftsverlusten an der Grenze zur Lebensfähigkeit und Schwangerschaften, bei denen pränatal infauste Diagnosen gestellt werden oder in denen sich die werdenden Eltern für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden.
Im siebten Kapitel wird an Hand von Namensgebung, Ritualen in Kliniken, Umgang mit der Leiche und mit Formen der Bestattung sowie personenstandsrechtlichen Bescheinigungen besprochen, inwiefern die Personalität des verstorbenen Kindes vom sozialen Umfeld und gesellschaftlich anerkannt wird oder nicht.
Das achte Kapitel zieht ein theoretisches Fazit, das neunte und letzte Kapitel hat die subjektverantwortete Trauerkultur zum Thema. Intersubjektiv müssen drei Voraussetzungen gegeben sein, damit ein Kindsverlust gesellschaftlich anerkannt wird: es muss ein kindlicher Körper vorhanden sein, dieser muss gelebt haben und das Kind muss in seiner Personalität anerkannt worden sein. Für die Eltern hingegen kann das Kind unter Umständen bereits mit dem positiven Schwangerschaftstest als eigene Person und menschliches Leben anerkannt werden und dessen Verlust als Kindstod erlebt werden. In diesem Spannungsfeld gibt es viele individuell unterschiedliche Möglichkeiten das werdende Leben wahr zu nehmen. Insbesondere bei Schwangerschaftsverlusten an der Grenze zur Lebensfähigkeit sowie bei infausten pränatalen Diagnosen kann es auch zu Deutungskrisen kommen.
Julia Böcker hat für ihre Dissertation mehrere Interviews mit von Fehlgeburt- oder Stillgeburt Betroffenen durchgeführt sowie zwei VLOGs und einen Klinikleitfaden untersucht und u.a. Gespräche mit zwei Bestatterinnen geführt. Aus diesem Material wird im Verlauf der Arbeit immer wieder zitiert und die Aussagen der Betroffenen entsprechend der jeweiligen Thesen gedeutet.
Diskussion
Julia Böcker nimmt sich in ihrer Dissertation eines bisher noch wenig beachteten Themas an.
Der Umgang mit Fehlgeburten und Stillgeburten ist in unserer Gesellschaft nach wie vor stark tabuisiert.
Die Autorin arbeitet sehr gut heraus, welche Voraussetzungen vorhanden sein müssen, damit gesellschaftlich ein Kindsverlust wahrgenommen wird und die Eltern von der Umgebung als trauernde Eltern behandelt werden. Weiterhin wird gezeigt, dass die individuelle Wahrnehmung von der gesellschaftlichen stark abweichen kann, es aber auch keine allgemeingültigen Muster gibt sondern jedes Paar individuell entscheidet, wie es den eigenen Verlust einschätzt. So sind insbesondere das einleitende und die beiden schlussfolgernden Kapitel sehr gut gelungen und lesenswert.
Das Kapitel zur Körperdeutung erscheint für die Arbeit hingegen nicht unbedingt notwendig, da es in den frühen Stadien einer Schwangerschaft ohne Medizintechnik nun mal nicht möglich ist, zeitnah Aussagen zur Intaktheit der Schwangerschaft zu treffen. So hat die Autorin auch keine Frau gefunden, die sich hier ausschließlich auf ihr eigenes Körpergefühl verlassen hätte. Hier wären stattdessen möglicherweise Fragen zu religiösen oder ethischen Überzeugungen zum Beginn des Lebens gewinnbringender gewesen.
Durch die vielen Zitate aus den Interviews mit Betroffenen wird der dissertationstypisch sehr wissenschaftlich formulierte Text erfreulich aufgelockert. Allerdings erscheinen viele Deutungen der Aussagen der Interviewten etwas konstruiert, möglicherweise, damit sie in das Raster der Untersuchung passen, d.h. viele Aussagen der Betroffenen oder Deutungen der Aussagen im Klinikleitfaden hätten meines Erachtens auch völlig anders interpretiert werden können.
Insgesamt wird das Thema, das bisher fast nur im medizinischen Kontext bearbeitet wurde und zu dem es noch einen erheblichen Forschungsbedarf gibt, jedoch in vielen Facetten beleuchtet. Das Buch ist insbesondere für Fachpersonal, das mit Betroffenen im Berufsalltag Umgang hat, interessant.
Fazit
Julia Böcker nimmt sich in ihrer Dissertation zu Fehlgeburt und Stillgeburt eines gesellschaftlichen Tabuthemas an und untersucht, unter welchen Bedingungen die Verlusterfahrung gesellschaftlich als Kindsverlust eingeschätzt wird und wie die Betroffenen selbst ihre Erfahrung empfinden.
Rezension von
Dr. med. Judith Zimmermann
Fachärztin für Innere und Allgemeinmedizin, Systemische Therapeutin, Beratung bei unerfülltem Kinderwunsch (BKiD)
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Es gibt 9 Rezensionen von Judith Zimmermann.
Zitiervorschlag
Judith Zimmermann. Rezension vom 16.02.2023 zu:
Julia Böcker: Fehlgeburt und Stillgeburt. Eine Kultursoziologie der Verlusterfahrung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
ISBN 978-3-7799-6697-5.
Reihe: Randgebiete des Sozialen.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29821.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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