Roland Voigtel: Der Sinn der Sucht
Rezensiert von Dipl.-Psych. Laslo Scholtze, 03.07.2023
Roland Voigtel: Der Sinn der Sucht. Eine Krankheit psychodynamisch verstehen.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2022.
445 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3144-0.
D: 39,90 EUR,
A: 41,10 EUR.
Reihe: Therapie & Beratung.
Thema
1,6 Millionen Menschen sind laut BMG in Deutschland alkoholabhängig und Schätzungen legen nahe, dass 2,3 Millionen Menschen von Medikamenten abhängig sind. Rund 600.000 Menschen weisen einen problematischen Konsum von Cannabis und anderen illegalen Drogen auf und gut 500.000 Menschen zeigen ein problematisches oder sogar pathologisches Glücksspielverhalten. Dazu kommen schätzungsweise rund 560.000 Menschen, die als onlineabhängig gelten können.
Autor
Dr. phil, Dipl.-Psych., Dipl.-Pol. Roland Voigtel, geb. 1951, ist Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker (DGPT, DPG) und Supervisor in eigener Praxis in Berlin. Er arbeitet seit vielen Jahren mit Suchtmittel-abhängigen Patient*innen in ambulanter psychodynamischer Einzeltherapie. Er war zwölf Jahre lang (1988–1999) Wissenschaftlicher Leiter eines Modellprojekts des Berliner Senats zur Suchtprävention an Schulen. Er ist sowohl für Kolleg*innen mit eigener Praxis als auch für psychiatrische Klinikabteilungen und Teams aus Einrichtungen der Suchthilfe als Supervisor tätig. Er hatte Lehraufträge zu den Themen Psychoanalyse und Sucht an verschiedenen Fachbereichen der Berliner Universitäten, hat zur Psychoanalyse der Sucht, zu Jugendproblematiken und zu Fragen der psychodynamischen Behandlungsführung publiziert und Vorträge gehalten.
Entstehungshintergrund
Nachdem Voigtel bereits vor einigen Jahren ein kompaktes Buch zum Thema Sucht im selben Verlag publiziert hat (Roland Voigtel: Sucht. Psychosozial-Verlag, Gießen; 2015), legt er nun ein umfassendes Werk vor, das als Ergebnis jahrzehntelanger klinischer Erfahrung und intensiver Beschäftigung mit dem Thema gelten kann.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in drei Teile aufgeteilt. Voigtel beginnt mit einem aufschlussreichen und mitunter auch überraschenden Überblick über die historische Entwicklung des Alkoholkonsums in Deutschland bzw. Europa. Im Rahmen dieser historischen Darstellung skizziert er auch den zivilisatorischen und geistesgeschichtlichen Prozess der Problematisierung der „Rauschsucht“ aus Perspektive eines sich emanzipierenden, mit protestantischer Moral ausgestatteten Bürgertums, das vertragspartnerschaftliche Ideale wie Rationalität, Selbstkontrolle- und -disziplinierung und eben auch Nüchternheit propagiert. Darüber hinaus ist unter kapitalistischen Bedingungen die Selbstdisziplinierung der Arbeitskräfte auch eine ökonomische Notwendigkeit, nicht zuletzt im Interesse der herrschenden Klassen. So zeigt sich für Voigtel im Übergang von der sozialen Stigmatisierung eines körperlichen Zustands hin zu einer medizinischen Diagnose die „soziale Herstellung einer Krankheit“. Im Weiteren werden die sozialen Bedingungen wie Elend und Armut zugunsten der verteufelten Substanz verdeckt:
„Die gesellschaftshistorische Analyse erkennt den Flucht- und Befreiungscharakter des impulsiven rauschhaften Trinkens in Bezug auf eine innere psychische Spannung des Widerstrebens gegen eine sozial induzierte Selbstdisziplinierung. […] Was ihr noch fehlt ist die Erkenntnis, dass das Berauschen nicht nur Ventilfunktion hat, sondern auch gegen eine permanente psychische Spannung, ein andauerndes Missbehagen hilft, das aus dem Gewahrwerden entspringt, zur selbstdirigierenden und -disziplinierenden Lebensführung grundsätzlich unfähig zu sein.“
Daran anschließend diskutiert Voigtel ein breites Spektrum an Theorien zu Wesen und Entstehung der Sucht: er stellt Ansätze der Psychiatrie, Kulturkritik, Soziologie, Lerntheorie, Neurowissenschaft und Genetik dar und arbeitet heraus, wo die jeweiligen Modelle an Grenzen stoßen, aber auch, wo sie relevante Aspekte der Sucht erhellen können. Ebenso verfährt er im Rahmen eines historischen Überblicks über die psychoanalytische Theorieentwicklung zur Sucht, wobei er u.a. auf die Beiträge von Abraham, Glover, Radó, Krystal & Ruskin, Khantzian, Heigl-Evers, Wurmser und Rost eingeht. Als Synthese fasst er zusammen, dass die Sucht eine für die moderne Gesellschaft spezifische Krankheit und mit problematischen Lebenslagen verknüpft ist. Ihre Funktion besteht im Betäuben von sich perpetuierenden Leiderfahrungen im Sinne einer innerpsychischen Abwehr bzw. Selbstmedikation. Im pathogenetischen Zentrum steht dabei „initiale Dysphorie“ im Zusammenhang mit frühen narzisstischen Verwundungen oder gar introjizierten sadistischen Objektbeziehungen. Es geht also um missglückte frühkindliche Beziehungserfahrungen, die allerdings mithilfe des externen Suchtmittels affektiv verleugnet und durch chemisch erzeugte Affekte ersetzt werden (Transsubstantiation). Lerntheoretisch wird zudem Habitualisierung wirksam, sobald die Grundkonstellation des süchtigen Konsums etabliert ist. Das cortikale Belohnungssystem Süchtiger ist neurochemisch nachweislich verändert, was nicht als „Ursache“ der Sucht missverstanden werden sollte, jedoch darauf verweist, dass süchtige Menschen durch eine grundlegende affektive Missstimmung dauerhaft eingeschränkt sind im Empfinden von Lust, Freude und Zufriedenheit.
Passive Überlassung ans unbelebte Objekt
Im zweiten Teil des Buches stellt Voigtel sein Modell der Sucht dar, wobei er unter Sucht grundsätzlich stets eine „schwere“ Sucht im Sinne einer ich-strukturellen Frühstörung versteht in Abgrenzung zu einer „symptomatischen“ Sucht, wie sie auf neurotischem Niveau analog zu depressiven, zwanghaften oder phobischen Symptomen auftreten kann. Sucht sei der unbewusst erzwungene Versuch eines Indivduums, einen unerträglichen affektiven Zustand (Hilflosigkeit, Angst, Leere, Sehnsucht) infolge langfristiger innerer oder äußerer Notlagen durch Überlassung an ein affektveränderndes Mittel zu vermeiden oder zu verändern. Es werde also primär kein zusätzlicher Genuss angestrebt, sondern die Beseitigung einer Not. Zentral für Voigtels Suchttheorie ist zum einen die frühe Beziehungsstörung, also der missglückte Aufbau eines gesunden Bindungssystems, zum anderen die passive Überlassung an das unbelebte Objekt. Die „passive Überlassung“ – als Verzicht auf eigene Willensregungen, eigene Gefühle, das eigene Selbst – ist eine bereits früh in der Kindheit erworbene Anpassung innerhalb der gestörten Primärbeziehung. Die ersatzweise süchtige Bindung an ein unbelebtes Objekt stellt die Abwehroperation des heranwachsenden bzw. erwachsenen Individuums dar. Die Substanz als etwas Unbelebtes bietet die Möglichkeit, Gefühlzustände wie Wärme, Geborgenheit, Vitalität, Freude, etc., zu erleben und gleichzeitig eine echte Beziehung, die auch einen Kontakt zum eigenen, verletzten Selbst bedeuten würde, zu vermeiden. Die mühelose Verfügbarkeit und die Unbezogenheit sind das Entscheidende in dieser Ersatzbindung an das Suchtmittel. Sie bieten Schutz vor drohender Enttäuschung und Frustration wie auch vor eigenen Gefühlen der Unzulänglichkeit und Schlechtigkeit innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen. Ein intensiver, gierig-unersättlicher, entgrenzter Beziehungswunsch wird so einerseits ausgelebt, gleichzeitig aber zum Verschwinden gebracht, weil er sich nicht an einen lebendigen Beziehungspartner richtet, sondern eben an ein unbelebtes Objekt. Wesentlich für die psychoanalytische Dimension von Voigtels Suchttheorie ist die eingehende Darstellung der psychodynamischen Abwehroperationen, die sich rund um die Überlassung an das unbelebte Objekt organisieren. Hierzu zählt auch der „Rückzug in den beruhigenden Raum“, einem Ort, der spontane Fantasien und affektive Verschmelzung ermöglicht, ein „Refugium des Sich-Selbst-Fühlens“. Vertieft wird das konzeptionelle Störungsverständnis durch die Einordnung der Sucht in das Spektrum der „manischen Abwehrsysteme“, zu denen etwa kontraphobische Selbstbehauptung, die Illusion eines autarken (Größen-) Selbst, Perversionen, Magersucht oder Workaholismus zählen. Der Autor legt hier wiederum differenziert Gemeinsamkeiten und Unterschiede dar.
Im Kapitel zur Therapie werden Behandlerinnen auf einige Herausforderungen insbesondere zu Anfang der Therapie mit süchtigen Patienten vorbereitet. Die Gegenübertragung sei anfangs häufig von Verständnis- und Hilflosigkeit geprägt, bisweilen sogar von Desinteresse, was letztlich in der Angst der Patienten vor echter Beziehung begründet sei. Der Autor plädiert für ein aktives, „vorangehendes“ therapeutisches Beziehungsangebot, das deutlich Interesse am Patient und seiner Gesundung signalisiert und die eigene affektive Involviertheit bisweilen offen zeigt. Es sei wichtig, „Vertragsbrüche“ bei Absprachen und Abstinenz nicht persönlich zu nehmen bzw. als Verletzung der Beziehung aufzufassen. Gleichzeitig sei auf die Abstinenz konsequent zu bestehen, um die in und mittels der Sucht verleugneten Affekte erkennen und durcharbeiten zu können. Insgesamt hält Voigtel eine ausreichend lange Therapie für unabdingbar, die u.a. durch die Identifikation mit der Therapeutin den Aufbau neuer Objektbeziehungsrepräsentanzen ermöglicht.
Diskussion
Voigtels Werk zur Sucht ist tiefgehend und breit angelegt, etwa hinsichtlich der soziologischen Einbettung, der gesellschaftskritischen Überlegungen zu Erziehungshaltungen oder auch der Ausführungen zur Entwicklungspsychopathologie sowie zum Zusammenhang der Sucht mit Borderline- und anderen psychischen Störungen. Das ist eindeutig eine Qualität des Buches, die gleichwohl ein Bedürfnis nach der schnellen Übersicht, nach dem immer beliebter werdenden Kompaktformat nicht bedient. Dafür wäre wohl eher Voigtels Büchlein „Sucht“ (2015, Psychosozialverlag) zu empfehlen, das klinisch Tätigen, die nicht schwerpunktmäßig mit Sucht arbeiten und sich nicht ganz so weit ins Thema vertiefen möchten, geeigneter, weil handlicher, erscheinen mag. Im hier besprochenen Buch ist das Therapiekapitel eher kurz gehalten, sodass auch das Bedürfnis, einen Leitfaden für die Praxis zu erhalten, nur bedingt erfüllt wird. Geboten wird vielmehr ein grundsätzliches und sorgfältig ausgearbeitetes Verständnis, wie Sucht als eigenständiges klinisches Störungsbild psychodynamisch erfasst werden kann. Dies gelingt durch die sehr differenzierte Auseinandersetzung mit konkurrierenden Modellen (über die man auf diese Weise auch einiges lernt) und eine ebenso differenzierte Einordnung innerhalb psychoanalytischer Konzepte, insbesondere hinsichtlich der beteiligten innerpsychischen Abwehrformationen, und wird bereichert durch ausführliche ätiologische und differentialdiagnostische Darstellungen. Voigtels eigener Eklektizismus, sich psychonanalytischer Modelle wie eines „Bausteinsortiments“ zu bedienen, ist sympathisch und transparent umgesetzt und beeinträchtigt die theoretische Kohärenz seiner Ausführungen nicht. Insgesamt eine sehr gewinnbringende, klar strukturierte und verständliche Lektüre, die von einigen Redundanzen insgesamt nicht beeinträchtigt wird.
Fazit
Sucht versteht der Autor als strukturelle Frühstörung auf dem Hintergrund einer missglückten Primärbindung. Zentral für die Psychodynamik ist dabei die passive Überlassung an das Suchtmittel als unbelebtes Objekt, wodurch ein Beziehungswunsch vermeintlich realisiert und gleichzeitig vermieden wird. Das Bucht bietet ein kohärentes und tiefgehendes Verständnis der Sucht; die präzise und klar verständliche Ausdrucksweise des Autors steigert den Gewinn der Lektüre.
Rezension von
Dipl.-Psych. Laslo Scholtze
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Zitiervorschlag
Laslo Scholtze. Rezension vom 03.07.2023 zu:
Roland Voigtel: Der Sinn der Sucht. Eine Krankheit psychodynamisch verstehen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2022.
ISBN 978-3-8379-3144-0.
Reihe: Therapie & Beratung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29822.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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