Anne van Rießen, Christian Bleck (Hrsg.): Handlungsfelder und Adressierungen der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Peter Löcherbach, 23.02.2023
Anne van Rießen, Christian Bleck (Hrsg.): Handlungsfelder und Adressierungen der Sozialen Arbeit. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2022. 630 Seiten. ISBN 978-3-17-039846-7. 69,00 EUR.
Thema
Die Herausgeber haben sich zum Ziel gesetzt, einen umfassenden Blick über die Handlungsfelder der Sozialen Arbeit zu geben. Da sich die Soziale Arbeit permanent im Wandel befindet und sich derzeit zu dieser Thematik keine aktuelle Literatur „auf dem Markt“ befindet, verspricht das Werk eine wichtige Lücke zu schließen. Die Titelergänzung soll zugleich auf die „Adressierung“ von Inanspruchnehmenden fokussieren.
Autor:in oder Herausgeber:in
Im Herausgeberwerk von Anne von Rießen und Christian Bleck (Professorin und Professor an der Hochschule Düsseldorf) sind über 90 Autor:innen (überwiegend) aus der Sozialen Arbeit vertreten, die für das jeweilige Handlungsfeld über die entsprechende Expertise und z.T. Reputation verfügen.
Aufbau
Der Aufbau des Buches ist klar gegliedert: Nach einem einleitenden Kapitel der Herausgeber, das den Zugang zu der Thematik überzeugend erläutert, folgen 20 Kapitel mit 73 (!) Einzelbeiträgen, in denen die Arbeits- bzw. Handlungsfelder vorgestellt werden. Da jeder Beitrag über eigene Literaturangaben verfügt, folgt im Anhang nur noch ein Abkürzungs- und Autorenverzeichnis.
Inhalt
Alles eine Frage der Perspektive? So lautet der Titel des ersten Kapitels von Anne van Rießen & Christian Bleck. Neben einer sehr kurzen Vorstellung der Systematik der Handlungsfelder mit bekannter Einteilung nach lebensphasen(alter)- und lebenslagenbezogen sowie „lebensraum- und lebenskontexbezogen“ gibt es eine neue Gruppe: „disziplin- und professionsbezogene“ Handlungsfelder, das schon zeigt, dass tatsächlich Neues zu erwarten ist. Gleichzeitig wird noch der Begriff „Adressierungen“ als „soziale Konstruktionsprozesse, über die Menschen zu Adressat:innen Sozialer Arbeit werden“ eingeführt – ein im Buch inflationär verwendeter Begriff.
Die Einteilung ist übersichtlich:
I Lebensphasenbezogene Handlungsfelder
2 Kindheit und Familie: 2.1 Beratung bei familiären Pflege- und Sorgearbeiten; 2.2 Frühe Hilfen und Familienbildung; 2.3 Kindertageseinrichtungen und Kindertagesbetreuung; 2.4 Kinderschutz; 2.5 Hilfen zur Erziehung und sozialpädagogische Familienhilfe;2.6 Pflegekinderhilfe und Adoption; 2.7 Heimerziehung; 2.8 Leaving Care – Übergänge aus stationären Erziehungshilfen ins Erwachsenleben
Die einzelnen Kapitel sind bei den meisten Autor:innen so aufgebaut, dass nach grundlegender Definition ein mehr oder weniger kurzer historischer Überblick gegeben wird, bevor das Handlungsfeld in Theorie und Praxis erläutert wird. Abschießend erfolgt ein Ausblick auf die künftigen Herausforderungen sowie zwei bis drei zentrale Literaturhinweise und das Literaturverzeichnis. Von den Beiträgen in Kapitel zwei ist 2.8 besonders herzvorzuheben, da es neue Entwicklungen im Bereich der Kinder- und Familienhilfe aufzeigt, in Beitrag 2.5 erfolgt allerdings eine unverständliche Verengung auf die SPFH, das Feld Hilfen zur Erziehung ist doch viel weiter.
3 Jugend; 3.1 Ganztagsschule; 3.2 Schulsozialarbeit; 3.3 Offene Kinder- und Jugendarbeit; 3.4 Jugendverbandsarbeit; 3.5 Jugendsozialarbeit
Die Beiträge in Kapitel 3 sind aktuell und beinhalten auch, und das ist gut und angemessen, Auswirkungen der Covis-19-Pandemie.
4 Alter(n): 4.1 Offene Altenhilfe; 4.2 Beratung im Hinblick auf Unterstützung im Alter und zur Pflege; 4.3 Ambulante, teilstationäre und stationäre Altenhilfe; 4.4 Hospiz und Palliative Care
Gut recherchiert sind die Beiträge im Handlungsfeld Alter(n). Am Beispiel Pflegestützpunkte wird deutlich, wie sich unterschiedliche bundesländerspezifische Vorgaben negativ auf die Ausgestaltungsmöglichkeiten im Feld auswirken.
II Lebenslagenbezogene Handlungsfelder
5 Armut: 5.1 Sozialberatung; 5.2 Soziale Schuldenberatung
Kapitel 5 zeigt das Problem von Einteilungen. Was alles fällt unter „Armut“ bzw. sollte darunter fallen? Ich hätte mir gut vorstellen können, dass hier das komplette Kapitel 16 (Wohnen) subsummiert worden wäre. Die beiden Beiträge Sozialberatung und Schuldenberatung sind zwar nicht überschneidungsfrei, geben aber einen fundierten Einblick in den „Umgang“ Sozialer Arbeit mit dieser zentralen Thematik.
6 Behinderung: 6.1 Beratung und Unterstützung für Menschen mit Behinderung und deren Vertrauenspersonen; 6.2 Ambulante und stationäre Betreuung und Begleitung im Alltag für Menschen mit Behinderungen; 6.3 Eingliederungshilfe – Schwerpunkt: Teilhabeförderung von Menschen mit psychischen Erkrankungen; 6.4 Teilhabe an Erwerbsarbeit
Die Beiträge in Kapitel 6 werfen unterschiedliche Blickwinkel auf ein großes Handlungsfeld, wobei der eröffnende Artikel schon ein „Zumutung“ für die Leser:innen ist: ohne (Vor-)Kenntnisse zum SGB IX ist dieser Beitrag schlicht nicht verständlich. Insgesamt zeigen die Beiträge allerdings sehr gut das sich wandelnde Verständnis in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung: Selbstbestimmung statt Paternalismus.
7 Delinquenz: 7.1 Jugendarrest und Jugendvollzug; 7.2 Jugendhilfe im Strafverfahren; 7.3 Erwachsenenstrafvollzug; 7.4 Bewährungshilfe; 7.5 Opferhilfe: Fachberatung und Zeug:innenbegleitung; 7.6 Psychosoziale Prozessbegleitung
Neben den klassischen Bereichen (7.1-74.) werden mit den Beiträgen Opferhilfe und Psychosoziale Prozessbegleitung zwei relativ neue Handlungsfelder vorgestellt und beschrieben. Sie zeigen, wie sich Soziale Arbeit in diesem Feld weiter ausdifferenziert
8 Drogen und Sucht; 8.1 Prävention und Suchtvorbeugung; 8.2 Beratung suchterfahrener Menschen; 8.3 Niedrigschwellige, lebensweltunterstützende, akzeptierende Drogenarbeit
Ein durch und durch etablierter Bereich wird in drei Beiträgen historisch unterlegt, aber modern und an die Zukunft anschlussfähig vorgestellt.
9 Erwerbsarbeit: 9.1 Soziale Arbeit im Betrieb; 9.2 Erwerbslosigkeit
Die Bandbreite von Sozialer Arbeit und Erwerbsarbeit wird in zwei fundierten Beträgen vorgestellt und diskutiert.
10 Gender und Sexualities: 10.1 Mädchen* und Frauen; 10.2 Jungen und Männer; 10.3 Queer; 10.4 Sexuelle Bildung; 10.5 Sexarbeit/​Prostitution; 10.6 Geschlechterspezifische digitale Gewalt
Die Themenvielfalt um Gender und „Sexualities“ wird im 10. Kapitel ausführlich erörtert und fokussiert auch auf kontroverse Themen (10.5.). Hier wird besonders deutlich, dass die Konstitution gesellschaftlicher Probleme/​Fragestellungen in besonderer Weise Soziale Arbeit beschäftigt.
11 Gesundheit und Krankheit: 11.1 Gesundheitsbezogene Soziale Arbeit im Sozialwesen; 11.2 Soziale Arbeit im Gesundheitswesen; 11.3 Klinische Sozialarbeit
Die drei Beiträge führen sach- und fachgerecht in ein „altes“, aber aktuell besonders „umkämpftes“ Handlungsfeld ein und stellen die Schnittstellen von Gesundheits- und Sozialwesen anschaulich dar.
III Lebensraum- und lebenskontextbezogene Handlungsfelder
12 Demokratie: 12.1 (Politische) Bildung; 12.2 Nachhaltigkeit und Bildung für nachhaltige Entwicklung; 12.3 Diskriminierung; 12.4 Radikalisierung(sprävention); 12.5 Rechtsextremismus
Ohne gesonderte Einführung kommt auch der 3. große Block „daher“. Das Kapitel 12 umfasst eine riesige Bandbreite unter dem Stichwort „Demokratie“, wobei neben erwarteten Beiträger (12.1 sowie 12.3-12.5) die Ausführungen zu „Nachhaltigkeit und Bildung für nachhaltige Entwicklung“ positiv überraschen und die Anschlussfähigkeit der Sozialen Arbeit an Nachhaltigkeitsorientierung herstellen.
13 Kultur, Ästhetik und Medien: 13.1 Bildende Kunst; 13.2 Musik;13.3 Theater; 13.4 Soziokultur; 13.5 Medienpädagogik; 13.6 Sportsozialarbeit
Auch Kapitel 13 weist neben „Klassikern“ (13.1, 13.2, 13.3, 13.5, 13.6) einen positiven Ausreißer aus: Die Ausführungen zu Soziokultur bzw. 600 Soziokulturellen Zentren weisen auf relativ neue und integrierte Ansätze hin.
14 Migration, Flucht und Rassismuskritik: 14.1 Rassismus und Rassismuskritik in der Sozialen Arbeit; 14.2 Soziale Arbeit in Sammelunterkünften für Geflüchtete
In Kapitel 14 wird schon in der Überschrift die Position der Sozialen Arbeit in diesem Feld markiert: …kritik. Die Ausführungen zeigen, wie gerade in diesem Feld die Widersprüche zwischen rechtlichen Vorgaben und fachlichen Vorstellungen die sprichwörtliche „Ambiguitätstoleranz“ überstrapazieren bzw. zeigen, dass diese nicht ausreicht, um in der Praxis diese „Zustände“ auszuhalten.
15 Sozialer Raum: 15.1 Gemeinwesenarbeit; 15.2 Stadtteilarbeit und Quartiersmanagement; 15.3 Transnationaler Sozialraum; 15.4 Digitale Räume
Ein sich wandelnder Begriff Sozialer Raum wird in seinen Bezügen und vielfältigen Dimensionen vorgestellt. Dabei erfolgen die Abgrenzungen bzw. Überschneidungen in den Beiträgen von 15.1 und 15.2 m.E. nicht deutlich genug. Mit 15.4 erfolgt der Transfer ins 21. Jahrhundert.
16 Wohnen: 16.1 Prävention – Beratung zur Vermeidung von Wohnungsnotfällen; 16.2 Notversorgung wohnungsloser Menschen; 16.3 Unterstützung im Wohnraum
Auch Kapitel 16 ist nicht überschneidungsfrei, zeigt aber insgesamt die Bedeutung Sozialer Arbeit im Handlungsfeld Wohnen. Neben klassischen Vorgehensweisen und orientierender Systematik werden auch neue Entwicklungen (Housing first) vorgestellt.
17 Zivilgesellschaft: 17.1 Zivilgesellschaftliches Engagement; 17.2 Selbstorganisation und Selbsthilfe
Die beiden Beiträge im 17 Kapitel verdeutlichen die Bedeutung von sogenannten „Informellen Unterstützungssystemen“ und thematisieren Erfahrungen aus der Covid-19-Pandemie im Hinblick auf das große Potential von selbstorganisierter Hilfe. Der Beitrag 17.2. zeigt anschaulich, wie ausdifferenziert sich das „System“ Selbsthilfe mittlerweile darstellt.
IV Disziplin- und professionsbezogene Handlungsfelder
18 Entwicklung und Professionalisierung: 18.1 Aus- und Weiterbildung; 18.2 Supervision
19 Forschung, Evaluation und Planung: 19.1 Forschung; 19.2 Evaluation; 19.3 Sozialberichterstattung und Sozialplanung
Die Kapitel 18 und 19 bieten so etwas wie eine Innenschau, die ausgewählte Themen vorstellt. Hier bleibt es allerdings häufig bei Übersichten (18.1; 19.2) und Überschneidungen (19.1 und 19.2) werden kaum reflektiert. Besonders beachtenswert ist allerdings der Beitrag zur Sozialberichterstattung und Sozialplanung (19.3) mit einer gelungenen Darstellung eines wenig diskutierten Bereiches.
20 Politik: 20.1 Individuelle und organisatorische Selbstvertretung; 20.2 Protest; 20.3 Politisches Handeln und Soziallobbying
Der Beitrag 20.1 ist zugleich ein (er-)nüchtender wie aufschlussreicher, zeigt er doch, dass es „der“ Sozialen Arbeit auch nach über 100 Jahren nicht gelungen ist, sich berufspolitisch gut aufzustellen. Besonders gefallen kann aber, dass der Beitrag nicht lamentierend ist, sondern analytisch aufzeigt, woran das liegt. Die übrigen Beiträge vermitteln einen Eindruck davon, wie schwierig die „Arbeit an den Verhältnissen“ ist, zeigen aber hier und da Ansatzpunkte auf.
Diskussion
Das Buch ist ohne Zweifel ein wichtiges. Doch neben den z.T. wirklich hervorragenden Beiträgen, die einen fachlich fundierten und aktuellen Überblick über die Handlungsfelder geben, fallen einige Punkte negativ auf: Ein solch umfangreiches Werk (630 Seiten) ohne Sachwortverzeichnis auszustatten, ist mehr als ärgerlich. Dies hätte zumindest die spärlichen Querverweise ergänzen können. Zu bemängeln ist auch, dass die Beiträge in Sprache und inhaltlicher Aufbereitung sehr unterschiedlich ausgefallen sind. Bei über 90 Autor:innen ist das zwar zu erwarten, aber die Herausgeber hätten möglicherweise doch hier und da korrigierend eingreifen können. So wird der Begriff „Adressierung“ nicht nur (zu) häufig gebraucht, er wird in seinen Facetten in manchen Beiträgen so ungeniert benutzt, dass er zu einer unbestimmten Worthülse zu verkommen droht. Es hätte dem Buch auch gut getan, wenn die 4 großen Themen mit den 20 zugeordneten Handlungsfeldern (mit 73 Beiträgen) in ihrer Systematik und Verschränkung ausführlicher vorgestellt worden wären, jeweils zu Beginn der Blöcke. Es erschließt sich nicht von selbst wie die Zuordnung in den einzelnen Kapiteln erfolgt und es kommt zu vermeidbaren Redundanzen. Leser:innen, die nicht über profundes Vorwissen verfügen, dürfte es nicht leichtfallen, die feinen, aber zentralen Unterschiede und Diskussionsstränge zu identifizieren.
Fazit
Ein großartiges Buch, aber… voraussetzungsvoll. Ohne profunde Vorkenntnisse in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit sind viele Beiträge schwer verständlich und sowohl inhaltlich wie auch sprachlich (der aktuelle SAW-Code sollte schon beherrscht werden) schwer verdaulich. Wer dies überwindet, erhält einen fast vollständigen Ein- und Überblick über die Handlungsfelder der Sozialen Arbeit – und wirklich auf dem neuesten Stand.
Rezension von
Prof. Dr. Peter Löcherbach
Prof. Dr. Peter Löcherbach, Professur für Wissenschaft der Sozialen Arbeit an der Kath. Hochschule Mainz, Mitherausgeber der Zeitschrift „Case Management“
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Es gibt 2 Rezensionen von Peter Löcherbach.
Zitiervorschlag
Peter Löcherbach. Rezension vom 23.02.2023 zu:
Anne van Rießen, Christian Bleck (Hrsg.): Handlungsfelder und Adressierungen der Sozialen Arbeit. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2022.
ISBN 978-3-17-039846-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29824.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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