Ingrid Hotarek, Klaus Jenewein et al. (Hrsg.): Geflüchtete an gewerblich-technischen Berufsschulen unterrichten
Rezensiert von Prof. Dr. phil. Barbara Wedler, 19.09.2024
Ingrid Hotarek, Klaus Jenewein, Marianne Friese, Susan Seeber, Lars Windelband (Hrsg.): Geflüchtete an gewerblich-technischen Berufsschulen unterrichten. Neue Anforderungen und Arbeitsstrategien von Lehrkräften in Tirol.
wbv Media GmbH & Co. KG
(Bielefeld) 2022.
468 Seiten.
ISBN 978-3-7639-7084-1.
59,90 EUR.
Reihe: Berufsbildung, Arbeit und Innovation - Dissertationen und Habilitationen.
Thema
Die Fluchtdynamik der letzten Jahre und die damit verbundene Zuwanderung potentieller Arbeitskräfte in Österreich verändert ebenfalls die Anforderungen an Berufsschullehrer:innen. Wie aus Statistiken zu entnehmen ist, könnten die Auszubildenden mit Fluchterfahrung auch dem drohenden „Loch“ des Arbeitskräftemangels entgegenwirken. Die Autorin fokussiert ihre Forschungsarbeit auf gewerblich-technische Berufsschulen in Südtirol. Neben der ökonomischen Sicht richtet sich das Forschungsinteresse vor allem auf die Wahrnehmung des Unterrichtens mit Geflüchteten und welche Anforderungen an Lehrkräfte sich daraus ergeben.
Autorin
Ingrid Hotarek ist Professorin an der PH Tirol. Neben weiteren professoralen Aufgaben leitet sie das Institut für Berufspädagogik. Ihre zahlreichen Publikationen sowie Projekte fokussieren die Themenbereiche (Berufs)Schule und Bildung.
Entstehungshintergrund
Die Berufserfahrungen der Autorin regten diese zu der vorliegenden qualitativen Studie an. Mit den Erkenntnissen aus daraus soll die Wissenslücke zum Berufsschulunterricht mit Geflüchteten geschlossen werden. Die Ergebnisse der Studie wurden in der Dissertation der Forscherin wissenschaftlich aufbereitet.
Aufbau
Nach einer Danksagung, dem Überblick über den Inhalt widmet sich die Autorin in sieben Schwerpunkten dem Forschungsprojekt. Literaturverzeichnis, Abbildungsverzeichnis, Tabellenverzeichnis, Anhang und Angaben zur Autorin runden den Inhalt des Bandes ab.
Inhalt
In der vorausgehenden Danksagung würdigt die Autorin all die Personen, die ihr in ihrem Forschungsprozess unterstützend zur Seite standen. In der Einleitung (1. Kapitel) stellt Hotarek klar, dass die Fluchtdynamik, als Phänomen der gesamten Menschheitsgeschichte, Chancen und Herausforderungen mit sich bringt. Verbindet man damit das Ziel der abgeschlossenen beruflichen Ausbildung für alle ankommenden Jugendlichen und Erwachsenen, muss vor allem die Lehrerbildung auf die daraus resultierenden veränderten Anforderungen vorbereitet sein. In der Darstellung der Ausgangslage und Theorieexploration (2. Kapitel) erläutert die Forscherin zunächst die aktuelle sowie im historischen Verlauf sich entwickelnde Situation der dualen Ausbildung, mit besonderem Blick auf die Berufsschule, in Österreich. Im historischen Kontext, die Zeit nach 1955 in Österreich, betrachtet, wird die Differenzierung zwischen Flucht und anderen Migrationsformen schwierig. Die entsprechenden Phasen der österreichischen Migrationspolitik stellt die Autorin ausführlich dar und diskutiert diese, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf die Ausländer- und interkulturelle Pädagogik gelegt wird. In diesem Rahmen setzt sich Hotark sowohl mit dem Begriff der „Heterogenität“ auseinander und begründet fachlich fundiert die Notwendigkeit von sprachsensiblem Unterricht. Welche Konsequenzen dies für die (Berufsschul-)Lehrkräfte hat, erarbeitet die Autorin detailliert und stützt sich dabei ebenfalls auf Forschungsergebnisse aus der deutschsprachigen Schweiz und Deutschland. Besondere Beachtung, auch als Basis der vorliegenden Studie, findet das EPIK-Modell von Schratz für die Lehrkräfteausbildung. Die normativen Anforderungen an die Lehrkräfte in der Arbeit mit Geflüchteten, das Ergründen diverser Bearbeitungsstrategien der Lehrkräfte sowie Konsequenzen für die Lehrkräfteausbildung sind Ziele dieser Studie und im 3. Teil des Fachbuches werden der Methodische(r) Zugang und Forschungsdesign erläutert. Weiterhin werden die Auswertungsmethodik sowohl für die Vor- als auch Hauptstudie vorgestellt. Hotarek lässt Leser:innen am Forschungsprozess teilhaben, beschreibt die Ablaufmodelle und Kategorienbildung en detail und ergänzt dazu exemplarisch eine Kategorienanwendung mit Dokumentation. Auf die abschließende Gütesicherung aufbauend erfolgt die Darstellung der Ergebnisse der Vorstudie sowie Konzeption des Interviewleitfadens für die Hauptstudie (Kapitel 4). Obwohl die vollständige Ergebnisinterpretation der Vorstudie entfällt, dienen diese der Präzisierung des Forschungsfeldes, der inhaltlichen Erarbeitung des Interviewleitfadens für die Hauptstudie und fließen in das sensibilisierende Konzept, welches die Grundlage der problemzentrierten Interviews mit Tiroler Lehrkräften aus gewerblich-technischen Berufsschulen bildet. Zur Darstellung der Ergebnisse der Hauptstudie in Kapitel 5 werden zunächst die erhobenen Daten aus den Interviews nach dem Katergoriensystem Unterrichten mit Geflüchteten einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen. Die abgeleiteten Kategorien werden zusätzlich unterschieden zwischen den rekonstruierten Aussagen der Lehrkräfte sowie den Interpretationen durch die Forscherin. Erkenntnisse und Folgerungen aus der Vor- und Hauptstudie werden in Kapitel 6 herausgearbeitet. Zunächst fasst Hotarek die Erkenntnisse zur Wahrnehmung von Heterogenität zusammen. Ebenso werden die Erkenntnisse zu den Anforderungen an Berufsschullehrkräfte im Umgang mit der Heterogenität innerhalb der Berufsschulklassen und die Strategien der Lehrkräfte im Umgang mit Geflüchteten im Berufsschulunterricht zusammengetragen. Zu den zentralen Erkenntnissen der Studie zählen die Konsequenzen für Lehrkräfteausbildung sowie abgeleitete Vorschläge zur Erweiterung bestehender Theorien und Modelle. Schlussbetrachtung und Ausblick (7. Kapitel) reflektieren nicht nur kritisch die gewählte Forschungsmethodik sondern geben auch zu bedenken, dass evtl. die Nutzung ökonomischerer Methoden in der Vorstudie den Erkenntnisbereich erweitern könnten. Auch geht die Autorin davon aus, dass neben dem EPIK-Modell weitere theoretische Konstrukte das Professionalisierungskonzept bereichern kann. Grundsätzlich geht Hotarek davon aus, dass ein Transfer der Ergebnisse sowohl auf die Ausbildung der Lehrkräfte von Berufs- als auch Allgemeinbildenden Schulen möglich ist und beide Berufsgruppen davon profitieren.
Diskussion
Der Austausch von Erfahrungen, das Erfragen von Haltungen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Lehramtsausbildung sind wegweisend. Deutlich werden Vorzüge der beruflich – technischen Ausbildung innerhalb des dualen Systems gerade für Auszubildende mit Fluchtbiographie herausgearbeitet. Unterschiede zu den Gastarbeiter:innenmigrant:innen werden deutlich. Dabei erreicht die Autorin eine inhaltliche Tiefe, die nur aufgrund des gut durchdachten Forschungsdesigns möglich geworden ist. Bereits die Vorstudie ist sehr aussagekräftig und fließt mit den Ergebnissen in der Erarbeitung des Interviewleitfadens der Kernstudie ein. Die Wahl für das problemzentrierte Interview wird ausführlich begründet und die Arbeitsschritte im Forschungsprozess sind nachvollziehbar. Die sich wiederholende innere Logik bei der Aufbereitung der Forschungsergebnisse mit den anschaulichen Grafiken erleichtert den Lesefluss. Als Hauptergebnis kann festgehalten werden, dass sowohl Sprachhürden als auch die Fluchterfahrungen der Auszubildenden enorme Herausforderungen an die Lehrenden stellen. Diesen Herausforderungen begegnet Ingrid Hotarek indem sie das EPIK-Modell von Schratz et. al. (2008) theoretisch erweitert. Daraus ableitend, entwickelt die Verfasserin weiterführende Impulse für die zukünftige Lehrkräftebildung. Die strukturgebenden Abbildungen, die übersichtlichen Ergebnisdarstellungen sowie die Verwendung von Fußnoten macht dieses Fachbuch besonders lesefreundlich.
Fazit
In diesem Buch steckt 100 % Wissenschaft, Methodensicherheit sowie Forschungsergebnisse von gesamtgesellschaftlichem Wert. Hotarek vermittelt einen unvoreingenommenen, wissenschaftlich basierten Blick auf Menschen mit Fluchtbiographie und wie diese auch dank Ausbildung die Wirtschaft und letztendlich die Gesellschaft bereichern können. Welche Kompetenzen Lehrkräfte in der Ausbildung Geflüchteter benötigen, arbeitet die Verfasserin ebenfalls heraus.
Ein Fachbuch, dass auf Erfordernisse der Zeit wissenschaftlich eingeht. Absolut empfehlenswert!
Rezension von
Prof. Dr. phil. Barbara Wedler
Professur für klinische Sozialarbeit und Gesundheitswissenschaften
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Es gibt 81 Rezensionen von Barbara Wedler.
Zitiervorschlag
Barbara Wedler. Rezension vom 19.09.2024 zu:
Ingrid Hotarek, Klaus Jenewein, Marianne Friese, Susan Seeber, Lars Windelband (Hrsg.): Geflüchtete an gewerblich-technischen Berufsschulen unterrichten. Neue Anforderungen und Arbeitsstrategien von Lehrkräften in Tirol. wbv Media GmbH & Co. KG
(Bielefeld) 2022.
ISBN 978-3-7639-7084-1.
Reihe: Berufsbildung, Arbeit und Innovation - Dissertationen und Habilitationen.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29832.php, Datum des Zugriffs 15.10.2024.
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