Rudolf Kammerl, Claudia Lampert et al. (Hrsg.): Sozialisation in einer sich wandelnden Medienumgebung
Rezensiert von Prof. Dr. Anna Zembala, 22.12.2023
Rudolf Kammerl, Claudia Lampert, Jane Müller (Hrsg.): Sozialisation in einer sich wandelnden Medienumgebung. Zur Rolle der kommunikativen Figuration Familie. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2022. 260 Seiten. ISBN 978-3-8487-8482-0. 59,00 EUR.
Thema
Das behandelte Thema ist derzeit von großem Interesse und sehr komplex. Es handelt sich um die medialen Rahmenbedingungen in denen Kinder aufwachsen, Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen und sich selbst in verschiedenen (medial-)sozialen Kontexten positionieren. Mit der umfassenden Studie Connected Kids – Sozialisation in einer sich wandelnden Medienumgebung (ConKids-Studie) wurde untersucht, wie sich Kindheit und Jugend im Zusammenhang mit der tiefgreifenden Mediatisierung und Digitalisierung verändern. In dem hier besprochenen Band finden LeserInnen eine Auswertung dieser Studie mit Beiträgen von den HerausgeberInnen und Studienverantwortlichen Rudolf Kammerl, Claudia Lampert und Jane Müller sowie weitere Besprechungen von Studienergebnissen der AutorInnen Andreas Dertinger, Paul Petschner, Katrin Potzel und Marcel Rechlitz.
Entstehungshintergrund und HerausgeberIn
Das Forschungsprojekt ConKids wurde in einer Kooperation zwischen dem Hamburger Leibniz-Institut für Medienforschung, dem Hans-Bredow-Instituts und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ins Leben gerufen. Es ist Teil des Forschungsnetzwerks Kommunikative Figuration der Universität Bremen, das sich kritisch mit den vielschichtigen Verflechtungen und Auswirkungen medialer Transformationen auf die gelebte Kommunikation auseinandersetzt. Das Forschungsvorhaben wurde/wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 2018 bis 2024 finanziell unterstützt, was dem Forscherteam ermöglichte auch Längsschnittstudien durchzuführen
Aufbau
Das Buch präsentiert die erste Auswertung der ConKids-Studie. Insgesamt acht Beiträge bieten einen umfassenden Überblick über die aktuellen Themen einer medienbedingten Sozialisation in Familien. Neben einer Einordnung in das Forschungsfeld wird ausführlich die Forschungsmethode der kommunikativen Figuration besprochen, gefolgt von der Vorstellung der Studie selbst. Anschließend werden die Forschungsfragen und -ergebnisse im Hinblick auf die Mediensozialisation im Grundschulalter und nach dem Übergang auf weiterführende Schulen diskutiert.
Inhalt
Der Ansatz der kommunikativen Figuration basiert auf der Prozesssoziologie von Norbert Elias. Dabei handelt es sich um ein komplexes Geflecht von wechselseitigen Abhängigkeiten, das durch das aktive Zusammenspiel verschiedener Akteurinnen und Akteuren entsteht und sich ständig verändert. Dieses so entstandene Netzwerk von kommunikativen Interdependenzen macht die Beziehungen zwischen den Handelnden sichtbar. Folglich erlauben die Figurationen dieser Beziehungen eine Erforschung des Interagierens sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene und heben die theoretisch gedachten Grenzen zwischen den handelnden Individuen und den gesellschaftlichen Gegebenheiten auf. Dieser neue figurative Ansatz trägt zur Erforschung von Sozialisationsprozessen innerhalb von Familien wesentlich bei und ermöglicht eine gleichzeitige Betrachtung sowohl der gesellschaftlichen als auch der individuellen Mediatisierung. Die Auswertung der Studienergebnisse zeigt deutlich, dass Kinder und ihre Eltern digitale Medien selbstverständlich in ihren Alltag integrieren. Die Eltern nehmen die tiefgreifende gesellschaftliche Mediatisierung als relevant wahr und reflektieren dies im Hinblick auf die gesellschaftliche Entwicklung sowie im Kontext ihrer eigenen individuellen Medienbiografie. Gleichzeitig erkennen sie den Einfluss, den die Peers und/oder Schule auf die Mediennutzung und -repertoires ihrer Kinder haben. Bei ihren Bemühungen um angemessene erzieherische Entscheidungen bewerten die Eltern den außerfamiliären Einfluss nicht immer positiv, da sie stets zwischen der Angst vor negativen Auswirkungen der Medien und dem Wunsch nach förderlichen Medienkompetenzen und Medienbesitz abwägen müssen. Die Kinder hinterfragen die Präsenz und die Nutzung von Medien nicht. Während die jüngeren Kinder den Vorgaben ihrer Eltern folgen, nehmen die älteren Kinder die Widersprüche zwischen ihrer eigenen Mediennutzung und der ihrer Peers wahr. Dadurch entstehen die ersten Spannungsverhältnisse und Aushandlungsprozesse. Nur wenige Eltern sind bereit, über die Regulierung von Medieninhalten und Medienzeit hinauszudenken. Zwar verstehen sie die Wichtigkeit sowohl der Medienerziehung als auch der aktuellen medialen Transformationen, treffen jedoch Entscheidungen, die den digitalen Entwicklungen nur begrenzt gerecht werden. Ansätze, den Kindern die Gestaltbarkeit der digitalen Welt zu verdeutlichen und hierbei Kreativität sowie Produktivität bei der Nutzung digitaler Medien zu fördern, finden sich nur in wenigen Familien (S. 190).
Diskussion
Die Entscheidung, den theoretischen Ansatz kommunikativer Figuration als Grundlage für die Forschungsmethode zu wählen, kann als erfolgreich betrachtet werden. Es ist eine überzeugende Einladung, weiterhin in diesem Bereich zu forschen, um konkrete kommunikative Figurationen gelungener Mediensozialisation zu identifizieren und speziell die Besonderheiten gegenwärtiger Medienkompetenz zu definieren. Im Sinne der kommunikativen Figuration könnte untersucht werden, inwiefern eine geförderte Medienkompetenz, die zu einer gekonnten Mediennutzung führt, möglicherweise die individuelle Entwicklung und Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen doch beeinträchtigt.
Fazit
Die vorgelegte Besprechung der ConKids-Studie hat bestätigende Hinweise zu vorangegangenen Studien der letzten Jahre geliefert. Gleichzeitig hat sie neue Perspektiven für die Themen der Mediatisierung heutiger Kindheit und Jugend eröffnet.
Rezension von
Prof. Dr. Anna Zembala
Kultur- und Medienpädagogin sowie Professorin an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW) in Köln
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Es gibt 16 Rezensionen von Anna Zembala.
Zitiervorschlag
Anna Zembala. Rezension vom 22.12.2023 zu:
Rudolf Kammerl, Claudia Lampert, Jane Müller (Hrsg.): Sozialisation in einer sich wandelnden Medienumgebung. Zur Rolle der kommunikativen Figuration Familie. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2022.
ISBN 978-3-8487-8482-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29838.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
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