Etta Wilken (Hrsg.): Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen
Rezensiert von apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting, 12.12.2022

Etta Wilken (Hrsg.): Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2022. 165 Seiten. ISBN 978-3-17-041504-1. 32,00 EUR.
Thema
Die Zeiten, in denen vor allem eventuelle Probleme von zwei- oder mehrsprachig aufwachsenden Kindern in den Fokus rückten, sind schon lange Geschichte. Heute gilt es als wissenschaftlich erwiesen, dass Kinder perfekt dazu in der Lage sind, simultan oder sukzessiv zwei oder mehr Sprachen zu erlernen, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind, so etwa eine Immersion in die jeweiligen Sprachen und ihre klare Trennung der Sprachen nach den Personen, mit denen das Kind kommuniziert, in klassischer Diktion die Differenzierung in „langage de Maman“ und „langage de Papa“. Inwieweit auch Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen zur Zwei- und Mehrsprachigkeit in der Lage sind und wie auch sie davon profitieren, beleuchtet der vorliegende Sammelband.
Herausgeberin
„Prof. Dr. Etta Wilken lehrte am Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover Allgemeine und integrative Behindertenpädagogik. Sie verfügt über jahrzehntelange Erfahrungen in der Förderung von Kindern und Jugendlichen mit kognitiver Beeinträchtigung sowie in der Beratung von Eltern und Pädagogen“ (Klappentext).
Entstehungshintergrund
Die Beiträge des Bandes fußen auf der Feststellung, dass es auch in Deutschland keine Ausnahmeerscheinung mehr ist, dass Kinder zwei- oder mehrsprachig aufwachsen. Laut Statistischem Bundesamt hatten im Jahr 2021 mehr als 20 % der Kinder bis sechs Jahre einen Migrationshintergrund (vgl. S. 7). Darunter zählen auch Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen, deren besondere sprachliche Förderung in institutionellen Kontexten mitbedacht werden muss.
Aufbau
„Zwei und Mehrsprachigkeit bei Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen“ gliedert sich in ein Vorwort der Herausgeberin und elf Einzelaufsätze, die größtenteils mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis ergänzt werden.
Inhalt
Solveig Chilla bietet zu Beginn eine Einführung in den Themenkreis des „mehrsprachigen Erwerbs“ im Allgemeinen, in der sie fünf Eckpunkte der letzten Jahre resümiert und kommentiert.
- Global betrachtet sei Mehrsprachigkeit die Regel und das lange dominierende „Konstrukt des ‚idealen einsprachigen Sprechers‘“ sei heute überholt (S. 11).
- Mehrsprachigkeit gehe grundsätzlich nicht mit kognitiver Überforderung einher, vielmehr gehe aus Studien hervor, dass die simultan-bilingualen Versuchsteilnehmenden meist über ein größeres Maß an kognitiver Flexibilität verfügten. Jedoch sollten bilinguale Menschen nicht mit der monolingualen Norm verglichen werden.
- Polylingualität sei insofern besonders, als die jeweiligen Sprechenden eine Vielzahl von „Sprachpraktiken“ erwürben, die weit über monolinguale Systeme hinausgingen.
- Für Monolinguale definierte Erwerbsmodelle seien für Polylinguale unzureichend. Jedoch sei es schlechterdings unmöglich, ein passendes Modell für die sehr differierenden Erwerbsbedingungen zu konstruieren.
- Es gebe dennoch ein weites Spektrum der Vergleichbarkeit, denn viele Erwerbsschritte ähnelten im zwei- und mehrsprachigen Erwerb dem einsprachigen.
Im zweiten Beitrag widmen sich Maren Aktas und Sylvia Maria Wolf diagnostischen Fragen zur Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen. Vor dem Hintergrund des hier präsentierten „entwicklungsorientierten Ansatzes“ führen die beiden Autorinnen zunächst eine Reihe von Fragen auf, die beim Erstkontakt mit dem Kind zu stellen seien – so etwa ob überhaupt eine Entwicklungsbeeinträchtigung vorliege und wo das Kind aktuell in der Kommunikations- und Sprachentwicklung stehe (vgl. S. 29). So könne man der diagnostischen Herausforderung adäquat begegnen. Das Autorinnenduo konturiert das aus dem Spracherwerb von Kindern ohne Beeinträchtigungen übernommene theoretische Modell des Spracherwerbs – grob die vier Phasen des „vorsymbolischen Handelns“, „impliziten Symbolwissens“, „impliziten Sprachwissens“ und „expliziten Sprachwissens“ (vgl. S. 32 f.) –, bevor sie ihr Procedere in der Praxis darstellen und anhand eines Fallbeispiels erläutern. Der Weg des Assessments beginnt mit einem Elterngespräch, führt hin zur „Erfassung der kommunikativen und sprachlichen Fähigkeiten in allen Sprachen“ und endet mit der „Analyse weiterer sprachrelevanter Fähigkeiten“ (S. 35). Dabei kommen sowohl freie Beobachtungen in bestimmten Kommunikationssituationen als auch spezifische Testverfahren zum Einsatz.
Im Weiteren nehmen Janina Dott und Ulla Licandro die Möglichkeiten alltagsintegrierter Sprachförderung in Krippe oder Kindertagesstätte in den Blick (Sprachförderung von mehrsprachigen Kindern mit Beeinträchtigungen im Vorschulalter). Sie betonen, dass zum einen selbstredend in den Erwachsenen-Kind-Interaktionen Sprachförderung stattfinde, es wesentlich sei, dass sich die pädagogische Fachkraft mit hoher Sensibilität, Sensitivität und Responsivität auf die Sprachen der Kinder einlasse und ihre sprachlichen Kompetenzen wahrnehme und dass eine anregungsreiche Umgebung zu kreieren sei, die literale Fähigkeiten stimuliere. Zum anderen seien Peer-Interaktionen im pädagogischen Alltag ebenso zu fördern, wohlwissend und der entsprechenden Gefahr begegnend, dass Kinder mit Entwicklungsbeeinträchtigungen einem größeren Exklusionsrisiko als andere ausgesetzt seien (vgl. S. 54 f.). Letztendlich müssten alle Personen und Instanzen, mit denen das Kind zu tun habe, in die Förderung einbezogen werden: neben den Eltern und pädagogischen Fachkräften seien dies in erster Linie Unterstützungsangebote aus dem medizinischen und therapeutischen Bereich.
Sprachsensibler Unterricht – ein Konzept für zwei- und mehrsprachige Schülerinnen und Schüler mit kognitiven Beeinträchtigungen? – diese Fragestellung verfolgen Tanja Jungmann und Ingeborg Thümmel. Empirischen Untersuchungen zufolge habe Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen, insbesondere bei Vorliegen von Autismus-Spektrum-Störung und Trisomie 21, positive Effekte auf die Entwicklung. Es sei also ratsam, vom oftmals den Eltern noch empfohlenen monolingualen Habitus Abstand zu nehmen und in einem sprachsensiblen Unterricht sprachliche und kulturelle Pluralität zu fördern (vgl. S. 67). Die beiden Autorinnen skizzieren „didaktisch-methodische Konzeptelemente für mehrsprachige Schülerinnen und Schüler mit kognitiven Beeinträchtigungen“ und plädieren dafür, dass das Konzept des sprachsensiblen Unterrichts für „Kinder und Jugendliche im Schwerpunkt Geistige Entwicklung […] auf dem Prinzip der Durchgängigkeit der Sprachbildung in allen Lernbereichen“ (ebd.) beruhe. Dabei seien die Lehrkräfte verpflichtet, allen Herkunftssprachen mit Wertschätzung zu begegnen und Zwei- und Mehrsprachigkeit gegenüber positiv eingestellt zu sein. Im Rahmen eines „Makro-Scaffolding“ planten sie den Unterricht, den sie mit Elementen des „Mikro-Scaffolding“ gestalteten, d.h. mit speziellen Strategien, die Lernende dabei unterstützten, „die in der ZNE (Zone der nächsten Entwicklung) liegenden Kompetenzen zu erreichen“ (S. 70).
Dass Gebärden in der Sprachförderung zwei- und mehrsprachiger Kinder mit kognitiver Beeinträchtigung eine große Bedeutung zukommt, beweist Etta Wilken, indem sie aufzeigt, dass lautspracheergänzende Gebärden „als eine visuell und motorisch hilfreiche Brücke“ (S. 79) zwischen den Sprachen eingesetzt werden können. Es geht dabei um Gebärden-unterstützte-Kommunikation (GuK) als ein Verfahren, das vorwiegend bei Kindern genutzt werde, die imstande seien zu hören, aber noch nicht sprächen. Wenn die gesprochene Sprache ausreichend entwickelt sei, verzichte man auf Gebärden. Wilken listet „entwicklungsorientierte Angebote und Förderziele“ für Kinder bis zum Alter von zwei Jahren und darüber hinaus – beginnend bei emotionaler, dialogischer Ansprache mit prosodischer Betonung (0-8 Monate), über alltagsorientierte Gebärden, kontextbezogenes Sprachverständnis (8-18 Monate) und Gebärden, die Objekte und Bilder ergänzend benennen, Bilderbücher sowie Fingerspiele (1-2 Jahre), um schließlich zum „Aufbau des Gebärdenwortschatzes und des begleitenden Sprechens“ (2 Jahre und älter) zu kommen. Mit lautsprachlicher Orientierung und GuK ließen sich bei auditiv unbeeinträchtigten Kindern lexikalische und syntaktische Kompetenzen spielerisch erweitern. Überdies werde die Kommunikationsfähigkeit „durch aktives, kommunikatives Warten“ (S. 90) optimiert. Es sei individuell sehr unterschiedlich, wie lange es Sinn ergebe, die Sprachentwicklung eines Kindes mit Beeinträchtigung gebärdend zu unterstützen (vgl. S. 91).
Im Mittelpunkt der beiden folgenden Beiträge stehen zwei Syndrome, Autismus-Spektrum-Störungen und Trisomie 21, die oft mit kognitiven Beeinträchtigungen einhergehen: Kerstin Snippe (Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen) geht der Frage nach, ob man für mehrsprachige autistische Kinder, sowie für das Sprechen-Lernen dieser Gruppe überhaupt, eine „autismusspezifische Herangehensweise“ (S. 93) benötige. Gerade bei neuro-atypischen Kindern müsse das familiäre Umfeld respektvoll in alle Überlegungen einbezogen werden. So seien Eltern darüber zu informieren, dass Mehrsprachigkeit nach aktuellen Erkenntnissen kein zusätzliches Risiko für ihre Kinder bedeute. Zudem sollten sie darin bestärkt werden, zuhause die Familiensprache zu verwenden (vgl. S. 101). Kinder im Autismus-Spektrum seien oft nur mit therapeutischer Hilfe dazu in der Lage, „in eine funktionelle verbale Sprache“ (S. 104) zu kommen. Schwierigkeiten bereiteten ihnen all die Dinge, die mit dem kommunikativen Akt als solchem zu tun hätten – in dieser Hinsicht Erfahrungen zu machen und Sprache als pragmatisches Instrument zu erleben, sei sprachenübergreifend.
Bevor Etta Wilken genauer auf Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit Down-Syndrom eingeht, lässt sie Meilensteine der Sprachentwicklung Revue passieren und fokussiert dabei Zwei- und Mehrsprachigkeit. Bei Kindern mit Down-Syndrom gehe sowohl der Spracherwerb als auch die weitere Entwicklung der Sprache langsamer vonstatten als bei Kindern ohne Beeinträchtigung. So benötigten sie anstatt 50 einzelnen Wörtern ungefähr 80–100, um Zwei-Wort-Sätze zu bilden; für die Konstruktion komplexerer Sätzen seien in etwa 250–300 Wörter vonnöten. Während Jugendliche mit Down-Syndrom ihre pragmatischen kommunikativen Kompetenzen und auch ihren Wortschatz kontinuierlich differenzierten, gebe es in anderen Bereichen, in Satzbau und Grammatik etwa, kaum Fortschritte. Sprache in sozialen Kontexten zu verwenden sei oft eine besondere Stärke dieser Jugendlichen (vgl. S. 113).
Wegen des verzögerten Sprechbeginns und der Kluft zwischen Sprachverständnis und Sprachproduktion müssten die eventuell auftretenden zusätzlichen Probleme bei Zwei- und Mehrsprachigkeit genau betrachtet werden. Eine wichtige Komponente dabei sei die Elternbefragung. Die Auswertung lasse, bei einer großen Bandbreite individueller Unterschiede, einige Rückschlüsse zu: wenn die Familiensprache eine andere als die Umgebungssprache sei, solle das Kind zuerst die Familiensprache lernen; Eltern mit unterschiedlichen Muttersprachen sollten mit dem Kind von Anfang an in ihrer jeweiligen Sprache sprechen, denn emotionale Nähe lasse sich so leichter herstellen; in extrafamiliären Bereichen sei es essenziell, den Sprachen des Kindes mit Wertschätzung zu begegnen. Ein Kind mit Down-Syndrom, das bilingual aufwachse, solle jedoch „zumindest in einer Sprache eine gute basale Sprachkompetenz entwickeln“ (S. 121), auf deren Grundlage die Zweitsprache zu verstehen sei.
Unterstützte Kommunikation bei Zwei- und Mehrsprachigkeit ist für Kinder „mit komplexen Kommunikationsbeeinträchtigungen“ (S. 125) relevant. Ca. 30 % von ihnen wachsen mehrsprachig auf. Forschungen zur UK bei Zwei- und Mehrsprachigkeit seien bislang kaum vorhanden – so Lena Lingk zu Beginn ihres Beitrags. In der Praxis gebe es außerdem kaum mehrsprachige Kommunikationshilfen, wie etwa Kommunikationstafeln oder elektronische Kommunikationshilfen in mehr als einer Sprache. Verschärft werde die Situation durch „Herausforderungen in der Kooperation zwischen familiärem Umfeld und UK-Fachkraft“ (S. 126). Diesen könne man sich stellen, indem man als Erstes differierende Perspektiven auf Mehrsprachigkeit untersuche, sogenannte „Sprachideologien“, die um die Grundannahmen von „Sprache als System“ und „Sprache als Handlung“ kreisten. Für UK-Maßnahmen eigneten sich besonders eine „integrierte Mehrsprachigkeit“ (System und Handlung) sowie das „Translanguaging“ (Handlung). Letzteres gehe davon aus, dass ein Mensch lediglich „über eine mentale Repräsentation von Sprache“ verfüge, auf dieser Basis aber ein unendliches „sprachliches Repertoire“, „komplex und anpassungsfähig in Abhängigkeit vom sprachlichen Input und den kommunikativen Gelegenheiten“ (S. 128), anlegen könne. Dieser Ansatz ermögliche eine „umfassende Teilhabe“ in der UK. Sein Erfolg hänge davon ab, ob Kinder, die mit mehreren Sprachen Kontakt hätten, in der Lage seien, „ihre alternativen Kommunikationsformen mehrsprachig kompetent“ zu nutzen (S. 130). Diese Kompetenz bestehe aus linguistischen, operationalen, sozialen und strategischen Fähigkeiten (vgl. S. 131), welche mit dem „Goals Grid Raster“ detailliert aufgeschlüsselt werden könnten. Im Hinblick auf die Konzeption und Konstruktion mehrsprachiger Kommunikationshilfen müssten Sprachexpert:innen mit Akteur:innen aus dem Umfeld des Kindes zusammenarbeiten, um etwa Sprachtypologien zu erstellen und einen alltagsrelevanten Wortschatz zu erarbeiten (vgl. S. 138).
Die letzten drei Aufsätze beweisen, dass bilinguales Aufwachsen auch beim Vorliegen kognitiver Beeinträchtigungen zu guten Resultaten in der Lebenspraxis führen kann: Etta Wilken berichtet von einer Elternselbsthilfe (Bilinguale Entwicklung von Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen unter kultur- und sprachspezifischen Aspekten – Elternselbsthilfe Mina – leben in Vielfalt e.V. Berlin), indem sie sich auf Interviews mit zwei türkischstämmigen Müttern und einem Vater, deren Kinder bilingual aufwachsen, bezieht. Nur eines der Kinder weise eingeschränkte verbale Fähigkeiten auf, die allerdings nicht auf die Zweisprachigkeit, sondern auf die Beeinträchtigung zurückzuführen seien. Die interviewten Mütter hätten sich mehr Unterstützung gewünscht und gern auf jeden ungefragten Ratschlag und jede Besserwisserei verzichtet.
Ein Chromosom extra und zwei Sprachen – Aufwachsen mit Down-Syndrom auf zwei Kontinenten – das gilt für zwei der drei Kinder von Verena Weinert. Die freie Journalistin und Autorin lebt mit ihrer Familie in Deutschland und den USA. Während ihre Tochter Thea, die früh mit den Gebärden nach GuK gelernt habe, dies möglicherweise nicht benötigt hätte, weil sie schnell in die verbale Sprache gefunden habe und Deutsch sowie Englisch mühelos beherrsche, sei bei ihrem fünf Jahre jüngeren Bruder Johannes eine Sprechapraxie diagnostiziert worden, sodass er von Gebärden, in diesem Fall der American Sign Language (ASL) profitiert habe. Thea, 12, könne in beiden Sprachen sicher sprechen, einfache Texte lesen und selbst schreiben; Johannes, 7, verstehe sowohl Deutsch als auch Englisch, spreche verbal und gebärde gleichermaßen, um zu kommunizieren. Jeder Erfolg in der einen Nationalsprache manifestiere sich auch in der anderen (vgl. S. 157).
Zu guter Letzt kommt Andrea Halder zu Wort. Sie ist selbst vom Down-Syndrom betroffen und beherrscht seit ihrer Kindheit Deutsch und Holländisch (Deutsch und Holländisch – das ist für mich kein Problem). Von klein auf habe sie im Grunde genommen sogar drei Sprachen gelernt, denn die Familie lebte einige Jahre in Neuseeland. „Sprache macht Spaß!“ (S. 162) – so lautet Halders Fazit.
Diskussion
Es ist rundum begrüßenswert, dass fast alle Autorinnen wissenschaftliches Neuland betreten. Sie liefern einen wertvollen Beitrag zum Abbau von Vorurteilen, denn sie verdeutlichen, dass zwei- und mehrsprachiges Aufwachsen in den meisten Fällen für Kinder förderlich ist und dass dies ebenfalls für Kinder mit Beeinträchtigungen gilt. Nicht zuletzt der Erfahrungsbericht einer zweisprachigen Autorin mit Beeinträchtigung ist dazu angetan, dies eindrücklich zu unterstreichen.
Es verwundert indessen nicht, dass die einzelnen Beiträge des Sammelbands sehr heterogen sind: Gleich zu Beginn vermittelt Solveig Chillas an sich grundlegend wichtiger Beitrag aus der Forschungspraxis zur Bi- und Polylingualität den Eindruck, sehr flott zusammengeklaubt bzw. aus Versatzstücken einer größeren Arbeit kompiliert worden zu sein. Einige Rechtschreibfehler springen ins Auge („es wird deutsch gesprochen“, „in wie weit“, „Interkation“), zudem ist am Anfang die Rede von fünf Punkten, so auch im Text selbst, in der Aufzählung auf S. 10 treten dagegen sechs Spiegelstriche auf. Solche Nachlässigkeiten hätten vermieden werden müssen.
Maren Atkas und Sylvia Maria Wolf punkten sowohl mit der Auffächerung der theoretischen Basis von Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit Beeinträchtigungen als auch mit der Darstellung konkreter Schritte im Umgang mit den Betroffenen. Detailliert skizzieren sie die diagnostische Herausforderung, vor der pädagogische und therapeutische Fachkräfte stehen, bevor sie diese für die Praxis funktionalisieren. Das eine lässt sich problemlos nachvollziehen, das andere ließe sich sofort in diagnostisch-therapeutischen Kontexten gewinnbringend heranziehen.
Tendenziell bleiben Janina Dott und Ulla Licandro in Binsenweisheiten stecken, doch was sie schreiben, lässt sich nie genug betonen: Im Vergleich zu Kindern, die eine normale Entwicklung durchlaufen, benötigen Kinder mit Verzögerungen ein noch höheres Maß an Sensitivität und Responsivität.
Durch ihre Praxisnähe bestechen die Strategien des Makro- und Mikroscaffolding, die Tanja Jungmann und Ingeborg Thümmel mit dem Verweis auf Lew Wygotskis „Zone der proxymalen Entwicklung“ erläutern.
Etta Wilken – Expertin für Gebärdensprache und gebärdenunterstützte Kommunikation – ist es zugute zu halten, dass sie nicht nur auf den Vorteilen der GuK beharrt, sondern in ihrem Beitrag auch auf mögliche Problematiken einer eventuell zu ausgeprägten Orientierung am Visuellen auf Kosten des Verbal-Auditiven hinweist.
Die beiden vorzüglichen Beiträge zur Thematik bei Autismus-Spektrum-Störung einerseits und bei Kindern mit Down-Syndrom andererseits demonstrieren mehr noch als andere, wie unzureichend die Forschungslandschaft zu Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen entwickelt ist. Des Weiteren pointieren beide Autorinnen, dass sich in den unendlich komplexen und sehr individuell geprägten Syndromen nicht selten Probleme in den Vordergrund schieben, die der Sprachentwicklung vorausgehen bzw. diese unterlaufen. Bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen residieren die Schwierigkeiten im präverbalen Bereich der Kontaktaufnahme zu anderen, bei Kindern mit Down-Syndrom ist mit einer ausgeprägten Dysbalance zwischen Sprachverständnis und Sprachproduktion zu rechnen.
Lena Lingks Studie zur unterstützten Kommunikation bei Zwei- und Mehrsprachigkeit ist ohne jeden Zweifel eines der wissenschaftlichen Highlights des Bandes. Bevor die Autorin auf mehrsprachige UK-Maßnahmen in der Praxis eingeht, lässt sie „Sprachideologien“ Revue passieren. Dieser Teil hätte sogar noch intensiviert werden können.
Die abschließenden lebenspraktisch orientierten Berichte stellen weitere Höhepunkte der Publikation dar: Verena Weinert schreibt einen spannenden persönlichen Erfahrungsbericht, in dem sie gleichwohl ihre induktiv gewonnenen Erkenntnisse systematisiert, und Andrea Halder nimmt die Leser:innen mit in die autobiografischen Etappen ihres Bilingualität-Erwerbs.
Leider kann man über eine Ordnung in der Abfolge der Beiträge nur Mutmaßungen anstellen. Aber dabei eine Systematik zu begründen wäre im Vergleich zu einer prononcierteren Vernetzung der Texte untereinander ohnehin weniger wichtig. Viele Autorinnen referieren den Standardratschlag, der Eltern und/oder Erziehungsberechtigten oft erteilt wird, dass sie nämlich ihr Kind einsprachig und vorzugsweise in der Sprache erziehen sollten, in deren Umfeld die Familie lebe. In dieses repetitive Muster reiht sich darüber hinaus ein wirkmächtiges Vorurteil ein: Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen seien nicht dazu in der Lage, eine zweite Sprache simultan oder sukzessiv zu erwerben. Vielleicht hätte man da an der einen oder anderen Stelle zumindest aufeinander verweisen können.
In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass Etta Wilken und ihr Autorinnenteam einen Sammelband vorgelegt haben, in dem sich – genrebedingt – wissenschaftliche Ausarbeitungen ein Stelldichein geben, die so individuell sind wie die Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen, deren Kompetenzen im Zentrum des Inhalts stehen. Für diese gilt ohne Einschränkungen, dass für ihre Einzigartigkeit und ihren Facettenreichtum kein Generalrezept, kein Panazee für den Spracherwerb existiert. Allein das, was für Kinder ohne Beeinträchtigungen gilt, trifft für Kinder mit Entwicklungsproblemen erst recht zu: Am effektivsten ist die Förderung von Sprache dann, egal ob in einer ersten und/oder simultan bzw. sukzessiv zu lernenden zweiten, wenn sie in den Alltag der Kinder integriert wird, wenn im Rahmen spielerischer und entspannter Kommunikationssituationen eine sensible, sensitive und responsive Begleitung gewährleistet wird, mit der idealerweise die Zone der proxymalen Entwicklung in einem immersiven Flow der dynamischen und im besten Sinne automatisierten Aneignung von Sprache erreicht werden kann.
Fazit
Jede:r, die:der sich über Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen informieren möchte, egal ob in der Theorie und/oder der Praxis, wird die Beiträge des vorliegenden Bandes mit Gewinn lesen. Das Ziel, „Informationen zu Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen zu geben und Eltern sowie pädagogische und therapeutische Fachkräfte zu ermutigen, den simultanen bilingualen oder sukzessiven Mehrspracherwerb als möglich anzusehen und nicht vorschnell abzulehnen“ (S. 9) haben die unterschiedlichen Autorinnen mit ihren ebensolchen Beiträgen vollumfänglich erreicht.
Rezension von
apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting
Literaturwissenschaftlerin (Venia legendi für Romanische Literaturwissenschaft, Französisch und Italienisch) sowie Dozentin an einer Fachschule für Sozialpädagogik.
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