Conrad Kunze: Deutschland als Autobahn
Rezensiert von Arnold Schmieder, 11.11.2022
Conrad Kunze: Deutschland als Autobahn. Eine Kulturgeschichte von Männlichkeit, Moderne und Nationalismus.
transcript
(Bielefeld) 2022.
457 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5943-6.
D: 39,00 EUR,
A: 39,00 EUR,
CH: 47,60 sFr.
Reihe: Public history - angewandte Geschichte - Band 12.
Thema
Es geht, wie der Titel nahelegt, um die deutsche Autobahn, jedoch als Signum einer nach Argumentation des Autors anhaltenden Fehlentwicklung. Die im Untertitel unter den Stichwörtern Nationalismus und Männlichkeit genannten Thematiken haben im Buch einen durchaus prominenten Stellenwert. Letztere, eine problematische Männlichkeit, wird zwar in ihrer fortwährenden patriarchalen Konturierung thematisch, ist jedoch inzwischen als ‚toxische‘ zu qualifizieren, besonders am (eben auch) Verhalten von Autofahrern auf deutschen Autobahnen. Kunze entfaltet sehr ausführlich, dass und wie und warum für Mussolini und Hitler der Autobahnbau äußerst wichtige Staatsprojekte waren, deren nicht nur ökonomische, sondern auch ideologische Indienstnahme über zahlreiche Belege vorgestellt und zudem mit zahlreichen Quellen unterlegt wird. Dass und wie propagandistische Versatzstücke bis heute nachwirken, stellt Kunze vor. Auch dem italienischen Futurismus als Kunstrichtung gilt seine Aufmerksamkeit, soweit er die faschistische Ideologie unterfütterte. Die sehr ausführlichen historischen Rückgriffe begründet der Autor mit seiner These, „dass unsere Gegenwart die Vergangenheit als Sediment enthält“, „persönlichste Vorlieben (…) Resultate historischer Ereignisse“ sind, was aber, wie man an der Gegnerschaft zum Auto und besonders zu SUVs sowie Autobahnen sehe, nicht „alternativlos“ sei (S. 12). Der Autor fasst sie gar unter den Marxʼschen Begriff „Destruktionskräfte“ und als Moment der Zerstörung des Ökosystems und er verweist darauf: „Das hat einiges mit den Bewegungsgesetzen des Kapitals zu tun“ (S. 13). Deutlich sagt er auch, dass man sich von dem „Glaube an und Wunsch nach ewigem materiellem Wachstum“ verabschieden muss (S. 441). Zudem hält er „Elektromobilität in ihrer jetzigen Form“ – etwa wie die Favorisierung einer „grünen Braunkohle“ oder des „grünen Fliegens“ – „für ein riesiges Feigenblatt“ (S. 14)
Mit seinen Analysen will Kunze die Gegner:innen der Automobilität und des Ausbaus von Autobahnen im Zuge des Klimaschutzes argumentativ munitionieren – aber nicht nur: Die Gleichzeitigkeit von Klimawandel und „Aufstieg der SUV und fortgesetztem Autobahnbau verweist abermals auf den im Kapitalismus immanenten Todestrieb“, den er in seinem Text auszuweisen antritt, und er beschließt seine gegenstandsbezogene Analyse mit einem Zitat von Enzo Traverso, der schrieb, dass eine „‚neue globale Linke‘“ nicht gewinnen könne, „ohne sich durch diese historische Erfahrung durch zu arbeiten. Den emanzipativen Kern des Kommunismus aus diesem Ruinenfeld zu extrahieren ist keine abstrakte, bloß intellektuelle Operation; es wird neue Kämpfe, neue Konstellationen benötigen, in denen die Vergangenheit ganz plötzlich wieder auftauchen wird und Erinnerung aufblitzt. Revolutionen können nicht im Terminkalender geplant werden, sie kommen immer unerwartet‘“ (S. 443).
Autor
Dr. Conrad Kunze ist Historiker und Soziologe und arbeitet als Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum für Nachhaltigkeit, Berlin. Er engagiert sich in der Bewegung für Klimagerechtigkeit.
Inhalt
Das Buch ist nach der Danksagung in siebzehn Kapitel gegliedert, bei einigen kommen meist wenige Unterkapitel hinzu. Tabellen schaffen Übersicht und belegen, zahlreiche Abbildungen veranschaulichen eindrücklich. Die Anmerkungen mit Literaturverweisen sollen nach Hinweis des Autors vor allem für vertiefende Beschäftigung der Leser:innen mit den behandelten Thematiken dienen. Conrad Kunze widmet sein Werk den zu wenigen, vor allem auch den Mitgliedern des internationalen sozialistischen Kampfbundes, von denen viele später ermordet wurden, die „so früh die Propaganda als wahre Natur der Autobahn“ erkannten: „Ihr Scheitern sei uns Mahnung, ihr Mut Ermunterung!“
Gleich eingangs wird in der Kapitelüberschrift betont, dass das „Auto wider die Vernunft“ (S. 11) ist, diese „gefährlichste Maschine in Friedenszeiten“ (S. 18), und die Frage nach den Ursprüngen der Autobegeisterung „führt unweigerlich zu Hitler“ (S. 14). Er beginnt allerdings mit der Kunstströmung des italienischen Futurismus und lokalisiert dort das enge Verhältnis zu Flugzeug und Auto und zeigt, wie hier die Tastatur zu einer Automobil-Politik angeschlagen wurde, die ideologisch motiviert gewesen sei. Der Futurismus habe aus der „geborgten Kraft des technischen Fortschritts“ gelebt, der keineswegs „zum Wohle aller“ gewesen sei. Vielmehr habe der Futurismus die „Genese einer neuen, frauenfeindlichen Männlichkeit“ angeschoben, die aufgerichtet werden sollte „an einer neuen Droge und Erfahrung, der Geschwindigkeit“ (S. 40). (An späterer Stelle wird entsprechend die Frage aufgeworfen: „Muss nicht jede Opposition gegen die Autobahn als Sabotage an der Stützung fragiler Männlichkeit erscheinen?“ [S. 225]) Damit sei einer Ideologie für staatliche Automobil-Politik der Weg bereitet worden. Heute sei, bezogen nicht nur auf Italien und Deutschland, „kaum ein Rausch so billig und zugänglich wie ein schnelles Auto und eine passende Straße dazu“ (S. 46). Und noch heute ließe sich für die BRD und für die DDR schon vor der sogenannten Wende „wie im Italien der frühen Automobilisierung feststellen, dass Vernunft und Realitätssinn für den gewöhnlichen männlichen Autokäufer keine große Rolle spielten“ (so später S. 371). Sein fünftes Kapitel kreist zentral das Verhältnis von faschistischer und – spezifisch – deutscher Moderne ein, eine Grundlage für die folgenden Argumentationen. Nach einem bestimmten Verständnis von Moderne müsse „der Verkehr gesteigert werden, was in der Tat in allen Industrienationen“ geschehen sei (S. 65).
Wer die Nazis protegiert und bezahlt hat, wird ausführlich dargelegt und belegt und die Akteure werden namhaft gemacht – z.B. hat Fritz Thyssen gesagt: „I paid Hitler“ (S. 73) –, wobei allen voran die Auto-Industrie, allerdings auch die Erdöl-, Kohle- und Chemie-Industrie spendabel waren. („Diese Industrie stand nie auf der richtigen Seite der Geschichte“ [S. 421], meint der Autor später festhalten zu müssen.). Gerade Reichskanzler hat Hitler sein Konjunkturprogramm vorgestellt, Automobilindustrie und Autobahnbau standen ganz oben auf der Agenda, allerdings auch die Abschaffung der Kfz-Steuer und die Förderung des Motor-Rennsports (vgl. S. 95). Geklärt wird, warum gerade die Autobahn zu einem Versprechen hinsichtlich allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs werden konnte und wurde. Gleichzeitig widerlegt der Autor die These, dass die damaligen Deutschen mittels des Auto-Kultes zum Nationalsozialismus verführt wurden, wofür er handfestere Erklärungen bereithält. Summarisch: „Nein, 52 Prozent waren schon Nazis. Nur 48 Prozent konnten überhaupt verführt werden, und wahrscheinlich mussten nur die SPD und KPD Wähler*innen und wenige bürgerliche wirklich verführt werden“ (S. 137). Bliebe allerdings die Frage, warum Hitler so viele Autobahnen bauen ließ. Hier habe die propagandistische Inszenierung von – beinharter – Männlichkeit eine Rolle gespielt, „neue männliche Subjektivitäten“ seien „mit der Reichsautobahn entstanden“, und die „mit der Reichsautobahn entstandenen Träume, Symbole, kollektiven Erwartungen und Wahnvorstellungen sind seit 1945 nicht verschwunden“ (S. 142). Die Autobahn sei in diesem (symbolischen) Sinne auch genutzt worden, um Arbeiter für den Nationalsozialismus zu gewinnen und insbesondere jene abzugreifen, die auf Seiten der Roten Front standen. Die Autobahn habe die Rolle erfüllt, „die Klassenschranken symbolisch zu überbrücken und so etwas wie die Volksgemeinschaft zumindest zu simulieren“ (S. 185). Und die Autobahn schuf Arbeit; doch schon vor Kriegsbeginn hatte Max Horkheimer zu dieser ‚Arbeit‘ bemerkt: „Das unablässige Ausheben des Erdreichs im Frieden war schon der Stellungskrieg“ (zit. S. 229). Und über den Holocaust zu reden, heißt auch, über die Vernichtung durch Arbeit im Straßenbau zu reden, wozu Kunze den aktuellen Stand der Forschung präsentiert. Kurz wird erörtert, ob der Bau von Autobahnen ein nicht unwesentlicher Teil der Vorbereitung auf den Krieg war. Auch geht es um die Frage, ob der „ökonomische Irrationalismus des Autobahnbaus (…) die Welt vor einem Sieg der Nazis gerettet haben“ könnte (S. 275), und Kunze meint: „Hitlers Liebe zu Auto und Autobahn, und die Vernachlässigung der Bahn haben dem knappen Sieg der Zivilisation über die deutsche Barbarei einen großen Dienst erwiesen“ (S. 278).
Der Autor untersucht im Anschluss die Versuche der Entnazifizierung in der BRD und DDR, was dazu dienen soll, seine im Folgenden psychoanalytisch anleihende These zu untermauern, dass nach Kriegsende der Automobilismus ein Mittel der gleichsam Kanalisierung war, subjektive nationalsozialistische Bestände umgeleitet auszuleben, wobei er – nach den Gründen des Scheiterns der DDR fragend – zu dem Schluss kommt, dass eben auch die Erfolge im Autobau und Ausbau von Autobahnen der DDR mehr zum Schaden gereicht habe als ihr genützt. Der Autor geht noch weiter; ab etwa 1990 habe Auto und Autobahn eine stabilisierende Funktion im Zuge einer Re-Patriarchalisierung der von Krisen geschüttelten Gesellschaft gehabt, was auch für andere ‚postsozialistische‘ Länder Osteuropas gelte. Sehr ausführlich soll in diesem Zusammenhang eine Forschungslücke gefüllt werden, nämlich jene zu einer post-sozialistischen Mentalität vor allem mit Blick auf die diesbezüglichen Besonderheiten in Ostdeutschland. Dabei thematisiert der Autor auch die Gründe für eine „Re-Nazifizierung der Ex-DDR“, jene „braune Welle, die im Osten immer höherschlägt“, wofür er (u.a.) den „aufsteigenden völkischen Nationalismus durch die Vereinigung“ verantwortlich macht und ebenso einer „weltweiten Konjunktur eines zunehmend wahnhaften Antikommunismus“ zuschreibt (S. 298 f.). In Westdeutschland habe man, so Friedrich Pollock in einer frühen Studie über die Nachkriegsdeutschen und ähnlich den Ergebnissen von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, „dem Nationalsozialismus und Hitler heimlich“ nachgetrauert (S. 304), und Günther Anders habe in dieser Zeit nicht geglaubt, dass Hitler „totgeschwiegen“ wurde und gemutmaßt, „‚ob sie ihn nicht umgekehrt, lebendig-schweigen‘“ (S. 307). Auch der DDR habe die „Pfadabhängigkeit in Richtung Automobilismus (…) geschadet“ (S. 345) und der „Realsozialismus hatte keine Technologie- und Ökologiekritik, obwohl diese in Marxʼ Spätwerk bereits angelegt war“ (S. 352). Was hüben wie drüben bleibe, sei der „aggressiv-weinerliche Mann“ (was der Autor sozialpsychologisch und psychoanalytisch eingekreist hat), der „sein raumgreifendes Refugium im Auto“ finde, Abziehbild eines „überhebliche(n) Herrenmenschentum(s)“, wobei man aber den „strukturelle(n) Zwang (zum Pendeln)“ nicht unterschlagen dürfe (S. 388 f.).
Unter der Hauptüberschrift „Das giftige Erbe“ (S. 391) geht es in den nächsten drei Kapiteln zunächst um die Initiative „Fridays for Hubraum“, mit der eine bislang eher unterschwellige Forderung laut wird und die damit zugleich ein Bild von Männlichkeit aufhellt, das (nicht nur vom Autor) als ‚toxisch‘ bezeichnet wird. Was Wunder daher, dass Autobahnbau und SUVs weltweit bei den sogenannten neuen Rechten als Ausdruck einer Sehnsucht zurück in eine verklärte Vergangenheit herhalten, deren Menschenverachtung der Autor vorher dargestellt hat. Im „Kulturkampf von Rechts“ werde der „Autobahnbau nicht mehr begründet, sondern nur noch sans phrase als stummer Sachzwang hingestellt. Denn SUV und Straßenbau sind nicht mehr mit Vernunft begründbar, jedes diskutieren schadet ihnen“ (S. 417). Das letzte Kapitel, u.a. philosophisch anleihend, schließt mit „erfreulichen Ausblicken“ (S. 27): Dass nämlich unter der Bedrohung durch den Klimawandel „Automobilismus und Maskulinismus zunehmend ideologisch verteidigt werden (müssen) verweist auf ihre neuerliche Fragilität“. Das eröffne ein „Möglichkeitsfenster für Veränderungen zum Besseren“. Jedoch verweise der „Aufstieg des SUV und fortgesetzte(r) Autobahnbau (…) auf den im Kapitalismus immanenten Todestrieb“. Mit einer „Gefahr zur größtmöglichen Eskalation des Todestriebes“ sei zu rechnen (S. 442). Schließlich sei das Auto „von Anfang an eine Maschine des Kriegs und des toxischen Maskulinismus gewesen“ (S. 424 f.). Heil könne aus „radikalen Bedürfnissen“ kommen, wozu der Autor auf die „Georg Lukács-Schüler*innen Leo Koffler und Agnes Heller“ zurückgreift, die versuchten, die „Frage nach dem Lebensglück des einzelnen Menschen“ zu erhellen. Agnes Heller habe im Begriff der „radikalen Bedürfnisse“ geantwortet, es „gehe zuerst darum, diese wieder zu fühlen, sie freizulegen. Ihr Unterdrückt-Sein sei ein Grund für die missglückten Versuche einer befreiten Gesellschaft im sozialistischen Osteuropa gewesen“ (S. 425). Jenem „Lebensglück“ ist der Automobilismus eine höchst zerbrechliche Krücke, bedenkt man zum einen und folgt Kunze, dass das Auto „einige Schuld an diesem schlechten Zustand der Welt“ hat (S. 429), und zum anderen der scharfen Kritik von Andreas Malm und dem Zetkinkollektiv, das Auto sei „eine materielle und symbolische Verkörperung des technologischen Rassismus“ (S. 436 f.). So weist Kunze unter Bezugnahme auf Andras Malm den von ihm scharf kritisierten Automobilismus als gravierendes Moment im „Konzept des euro-zentristischen Fossilismus“ aus (S. 27). Dies ist gleichsam die historische und politische Quintessenz, der eine Subjektivität zur Seite zu stellen ist, die laut Erich Fromm die „Lust andere zu beherrschen“, signalisiert, und die „ihre Wurzeln in einer Ich-Schwäche“ habe, jener „sado-masochistische Charakter“ sei, „was wir als Normalität kennen.“ Insofern seien „Petromaskulinität oder fossile Maskulinität“ die „populäre und am stärksten verbreitete Form des zuvor elitären eurozentristischen Techno-Rassismus“ (S. 440 f.). Solche „Hypermaskulinität“ schlage schließlich um „in ökologische und soziale Irrationalität und kann verstanden werden als ein Ausdruck des Freudianischen Todestriebes“ (S. 440 f.).
Diskussion
Man darf schließen, dass für Kunze die Autobahn und ihre Geschichte Teil jenes „‚Ruinenfeldes‘“ ist, von dem Enzo Traverso in dem Zitat spricht (s.o.), mit dem der Autor sein Buch enden lässt, auch eine „‚historische Erfahrung‘“, die zu vergegenwärtigen ist. Eben auch in der Autobahn taucht „‚Vergangenheit ganz plötzlich‘“ wieder auf, der Kampf gegen sie und alles, was mit ihr zusammenhängt, könnte und sollte Teil „‚neue(r) Konstellationen‘“ werden (s.o.), der sich inne ist und über Aktionen aufklärend dagegenhält: „Beim Auto setzt der deutsche Verstand und die Courage aus“ und es gelte, zur wenig beliebten Wirklichkeit vorzudringen, was heiße, „zur Wirtschaft vordringen. Das ist noch weniger beliebt“ (schrieb der Romanautor Friedrich Christian Delius). Falls Kunze so richtig interpretiert ist (wofür es einige Anhaltspunkte gibt), positioniert er sich in einer ambitionierten (linken) Diskussion, innerhalb derer ein zwar (noch) randständischer Zweig fortzusetzender Kapitalismuskritik und zugleich Klassenpolitik angemahnt wird, anstatt in bspw. Diskussionen und Kritiken über Rassismus, Intersektionalität und Identitätspolitiken zu verharren, auf einen grünen und zu domestizierenden Kapitalismus zu hoffen, der über Reformansinnen weichgespült und so unter der Hand als letzten Endes alternativlos naturalisiert wird. Kunze ist da nicht zu verorten. Gleich eingangs schreibt er, dass die „Massenproduktion von Elektroautos ohne Neo-Imperialismus nicht zu haben ist“ und die „umfassende Mobilitätswende der Antriebswende zu opfern, heißt, das Klima aufzugeben und sich das ganze grün zu lügen“ (S. 22 f.).
Das Zitat des trotzkistisch orientierten Revolutionstheoretikers Enzo Traverso steht wie ein unvermittelter, jedenfalls in dieser Deutlichkeit nicht erwarteter Paukenschlag am Ende des Bandes. In diesem Zitat ist auch von „Erfahrung“, einer historischen, die Rede, die Kunze mit seinem Buch nährt. Wie sie, zumindest von oppositioneller Seite, im gegenwärtig krisengeschüttelten Alltag ‚erlebt‘ wird, zentral was die klimakatastrophische Entwicklung betrifft, stellt der Autor vor und dockt dabei soziologisch an: „‚Erfahrung‘“, ließ der namhafte Soziologe Zygmunt Bauman wissen, „ist, was mir geschieht, ‚Erlebnis‘, was innerhalb von mir geschieht, was ich fühle, empfinde, die Emotion, die vom Geschehen kommt.“ Nicht nur scheint’s plakativ kann gegen eine sich dergestalt äußernde kritische Sozialwissenschaft eingewandt werden, sie schnalze mit postmoderner Zunge und ihre „Beliebtheit“ ließe sich „durch die Kombination von kritischem Habitus und liberalen theoretischen Prämissen erklären. Sie kann außerdem als theoretischer Ausdruck der sich ausdifferenzierten Lebensrealitäten im Neoliberalismus verstanden werden“ (so verallgemeinernd Eleonora Roldán Mendívil, Bafta Sarbo). Kunze bleibt nicht eindeutig in dieser Spur, wenn er an der ‚Autobahn‘ und ihrer seit Beginn immer schon interessierten Legitimationsbasis und deren Fortbestand rüttelt. Zumindest deklamatorisch und dabei sozialpsychologische Problemlagen einbeziehend verweist er darauf, dass das „Ganze (…) das Unwahre“ ist (Theodor W. Adorno), somit – am Exempel Autobahn – zu überwinden, und zwar in Richtung einer Transformation der Marktgesellschaft und ihres dem Wesen von Gesellschaft entgegenstehenden Materialismus, der schon Karl Polanyi testierte, dass diese Marktgesellschaft existenzielle Bedrohung sei und soziale und kulturelle Verwahrlosung schaffe. Unbestreitbar, dass Kunze diese „Verwahrlosung“ zum Thema wird; dass er die weltweite Eigentumsordnung und den sich ebenso weltweit verbreitenden Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital nur implizit in Art einer Flammenschrift an der Wand thematisiert, zeigt allemal, dass er diese anderenorts geführte und weiterreichende Diskussion nicht entmündigt. Kehrt er doch hervor, dabei in Schulterschluss mit Andreas Malm gehend (der in Bezug auf die sich kumulierenden Auswüchse, wie sie aus der Gleichgültigkeit des Kapitals gegenüber Mensch und Natur folgen, aktive Gegenwehr proklamiert), dass die „Wurzeln des Automobilismus (…) heute abermals sichtbar in einem anachronistisch erscheinenden ‚pali-defensiven Ethnonationalismus‘ in dem unter anderem das Auto als Vorrecht der ‚weißen Rasse‘ und des nationalistisch und hetero-normativen imaginierten Mannes verteidigt wird“ (S. 441) – was reißerisch bündelnd klingt, aber mehrere Körnchen Wahrheit enthält.
Man kann Kunzes Buch auch auf einer anderen Stufe ansiedeln und entsprechend würdigen. Er bringt „manchem etwas“, und weiter mit Johann Wolfgang Goethe, „und jeder geht zufrieden aus dem Haus“, wobei zu hoffen ist, dass er oder sie nicht nur das persönliche Sahnestückchen rauspickt. Auch Max Horkheimer wird er gerecht: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Vom Faschismus und Nationalsozialismus generell und darin dann auch der Indienstnahme des Autobahnbaus redet Kunze als kritischer Historiker ausführlich und auch in anderen, interdisziplinär anleihenden Passagen seines Werkes scheint es, als entferne er sich doch recht weit von seinem eigentlichen Gegenstand und würde so „manchem etwas“ bringen, Opponierende auf verschiedenen Kampffeldern ‚bedienen‘. Doch damit trägt er zu einer „Evolution des Wissens“ bei (jüngst Jürgen Renn, der seinen Begriff der Evolution nicht in schlichter Analogie zum biologischen verstanden wissen will), was auf der theoretischen Annahme aufsattelt, dass sich Wissen und normatives Denken nicht völlig trennen lassen. Folgt man Renn, bilden sich neue Theorien gleichsam kollektiv heraus und sind eben nicht (nur) Erkenntnisleistungen einzelner Geistesriesen. Nur auf der Folie, was Menschen im Zusammenhang ihrer jeweils gegebenen materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen tun, sei der Prozess der Schaffung von Wissen und somit ein Wissenswandel zu verstehen – so Renn, der mit dem „Kapitalozän“ endet und vor dem warnt, was zu passieren droht, wenn nicht die ganze Menschheit ihr Wissen zum Wohle aller organisiert, wozu sie ‚frei‘ sein müsse. Dazu, zu einer Verschränkung eines anderen denn dekretierten Wissens und emanzipatorischen Ausrichtung normativen Denkens, trägt Kunze seinen Teil bei, wobei diese schon vor Jahrzehnten mit scheelem Blick angesehene Car Culture inzwischen im Zuge der dräuenden Klimakatastrophe ein alles Leben in den Abgrund ziehendes Schwergewicht darstellt. Das bleibt es, auch wo ein „struktureller Zwang (zum Pendeln)“ (s.o.) mit dem Auto herrscht, wie bspw. für Landbewohner, was Kunze nicht entgangen ist. Doch hinter u.a. diesem Argument verschanzen sich diejenigen, die ein Interesse an der Beibehaltung des Individualverkehrs haben, wobei dann auch flugs das Argument der Sicherung von Arbeitsplätzen aus dem Ärmel gezogen wird.
„Das Kapital“ ist kein zwecksetzendes Subjekt, aber es ist eine historische Produktionsweise, die als ‚System‘ den Zweck setzt, der durch den „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (Marx) eine adäquate Subjektivität aufherrscht, die – wie die kapitalistische Produktionsweise selbst – widersprüchlich strukturiert ist. Das weist an zu untersuchen, wie psychologische Ausstattung, wie verallgemeinerbare Strukturen von Subjektivität aus – basalen – sozialen Strukturen vermittelt sind, in denen sich die psychischen entwickeln und manifestieren. Ob und wie dann ein systemisch gesetzter „Widerspruch im Subjekt“ (Paul Parin) unterdrückt wird oder kanalisiert oder aber virulent wird und sich äußert, ist – auch – eine Frage nicht nur der Klassenlage und eine von Widerspruchserfahrungen, sondern auch der Aufklärung, was seit Jahr und Tag diskutiert wird. Augenfällig ist und wird es zunehmend, dass die kapitalistische Produktionsweise „nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (entwickelt), indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“ (Marx), eben auch und als Teil einer breiten Facette durch Autobahnen (und Versiegelungen) und Autos (als Schadstoffemittenten) und insbesondere angesichts von Bedrohungen aus Umwelt- und Naturzerstörungen ‚unvernünftigen‘ wie ‚irrational‘ erscheinenden subjektiven Verhaltensweise, gegen die eine oftmals mehr humanistisch als kapitalismuskritische unterlegte Grundhaltung nicht nur greinend murrt, sondern lautstark opponiert. In diesem Zusammenhang auch gegen eine indizierte ‚toxischen Männlichkeit‘, deren Bestimmungsgründe Kunze ähnlich wie Klaus Theweleit, den er zitiert, vorstellt. Ein vormals zu Recht kritisierter Patriarchalismus scheint in diesem Begriff brandgefährlich aufzuflammen, was zwar spektakulär (und gegenwärtig ‚modisch‘) daherkommt, aber es wäre doch erst einmal zu skizzieren, wie diese Form der Subjektivität dem entspricht, was der kapitalistische Produktions- und Reproduktionsprozess eh und je abverlangte, und zwar nicht erst in seiner neoliberalen Variante. Doch wo – wie derzeit – Klimakatastrophe, pandemische Wellen und ein imperialer Krieg das Leben auf diesem sensiblen Planeten in Frage stellen, wird solche Subjektivität aus der kapitalistischen Produktionsweise gefährlich, weil sie diese nicht nur flankiert, sondern aktiv stützt. Jener „immanente Todestrieb“ (s.o.), den der Autor in gewagter Begriffsanleihevon Sigmund Freud bezieht (ging Freud doch – wie nachzulesen – sehr vorsichtig bis skeptisch mit diesem auf Menschen bezogenen Begriff um), er eignet ‚dem Kapitalismus‘ nicht, seine Logik ist Werteverwertung und Profit, gleichviel in welcher chamäleonesken Tarnung. Doch auch in Bezug auf jedwede Tarnkappe bieten sich politische Angel- und Ansatzpunkte, mehr nicht, die dann ‚auf’s Ganze‘ zu gehen hätten. Autobahn und Auto sind Exempel und richtig bleibt, dass hier einer der vielen „Partialfaschismen“ (Georg Seeßlen) kenntlich gemacht werden kann, was Kunze höchst elaboriert darstellt und dagegen keine spekulativen Retro-Idyllen als Wochenbett einer ‚befreiten Gesellschaft‘ extemporiert. Woran sich in Erinnerung insbesondere an den Stalinismus die prominenten Köpfe der Frankfurter Schule nicht die Finger verbrennen wollten, nämlich ‚Revolution‘ und vor allem, wie sie übel entarten kann, gleichwohl Transformation nicht aussparend, reaktiviert Kunze, und zwar Revolution als Denkmöglichkeit. Damit provoziert er eine Zweck-Mittel-Diskussion.
Die Leser:innen mögen über eine ganze Reihe orthographischer und grammatikalischer wie schlichte Tippfehler stolpern, was mehr über das Lektorat aussagt als über die Sorgfalt des Autors. Irritiert mag man sein, wenn Günther Anders als „Sohn Eichmanns“ bezeichnet wird (S. 123), was er nicht war, vielmehr lautet ein Buchtitel des Autors „Wir Eichmannsöhne“, wie der Anmerkung zu entnehmen. Leichter geht man dann über Fehler wie den hinweg, dass aus Leo Kofler ein „Leo Koffler“ wird (S. 425) – zum Beispiel. Dass „Hitlers Liebe zu Auto und Autobahn, und die Vernachlässigung der Bahn (…) dem knappen Sieg der Zivilisation über die deutsche Barbarei einen großen Dienst erwiesen“ hätten (S. 278), klingt wie ein Nachkarten am Stammtisch und ist aus Sicht anderer Historiker – mit Verlaub – starker Tobak, im Grunde auch auf der Folie der Argumentation von Kunze, nach der der Autobahnbau durch anderes als durch Hitlers Liebhaberei motiviert gewesen sei. Stirnrunzeln mag sich einstellen, wo es heißt, dass „ein zufälliger Beischlaf etwas anderes als Prostitution“ sei (S. 423), was faktisch richtig ist, weil der mehr oder weniger toxische Mann für einen one-night-stand nicht zahlen muss, jedenfalls nicht cash, aber eine solche Bemerkung geht recht lasch über alles hinweg, was vor allem in der Folge des Begriffs „repressive Entsublimierung“ von Marcuse als Emanzipation von konsumorientierter Sexualität diskutiert wurde. – All das darf erwähnt werden, wirft aber kein Schlaglicht auf die inhaltliche Qualität des Buches.
Kritische Kunsthistoriker:innen werden ggf. mäkeln, dass die Sicht auf den Futurismus (für den auch das Etikett „Dynamismus“ bzw. „Elektrizität“ in Erwägung gezogen worden war) und seine Vertreter etwas einseitig ausfällt und darauf verweisen, wen alles diese ‚jungen Wilden‘, vor allem Filippo Tommaso Marinetti, auf ihren Schild gehoben haben, u.a. Pierre-Joseph Proudhon und Michail Alexandrowitch Bakunin, Karl Marx und Friedrich Engels, auch Georgi Walentinowitsch Plechanow, die wohl kaum als bewusste Einfädler rechter Ideologie gelten können. Mit ganz so heißer Nadel wie Kunze sollte man eine Kritik am Futurismus nicht stricken, was allerdings wie z.B. auch durch Schulterschlüsse mit dem Duce ex post erst einmal zu überzeugen vermag wie auch heute irritierende Bemerkungen in den verschiedenen Manifesten. Darin heißt es u.a.: „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“ Das hat – heute – mehr als Geschmäckle, stößt übel auf und einigen solcher ‚Verherrlichungen‘, wenn auch nicht ganz so emphatisch, werden – derzeit – wieder in die Hirne massiert. Ob Marinetti und seine Mitstreiter gezielt dem italienischen Faschismus und einem Autobahnbau im Sinne dessen Interessen den ideologischen Teppich ausgerollt haben, dazu bedarf es differenzierterer Analysen. Auch mögen Zweifel aufkommen, ob tatsächlich Hitlers „Liebe zu Auto und Autobahn“ (s.o.) den Autobahnbau forciert hat und eine „Vernachlässigung der Bahn“ (s.o.) ihn dann ggf. um den Endsieg gebracht hat. Ob er für diesen Fall das Bahnnetz hätte so ausbauen lassen, wie es heute mehr dringlich als nur wünschenswert ist, darf bezweifelt werden. ‚Arbeit‘ wäre jedoch auch damit geschaffen worden. Die NSDAP brauchte Mitglieder und Anhänger. Zwar hatte sie bislang bei jeder Gelegenheit zum Streikbruch aufgerufen, was sich aber in manchen Fällen als inopportun erwies, so etwa beim schnell abgebrochenen Streik der Berliner Verkehrs-Aktiengesellschaft im November 1932 (der bis heute als Schulterschluss von KPD und NSDAP so falsch wie zäh kolportiert wird). Zur Beteiligung äußerte sich Hitler gegenüber Hindenburg: „Wenn ich meine Leute von der Beteiligung abgehalten hätte, hätte der Streik doch stattgefunden, aber ich hätte meine Anhänger in der Arbeiterschaft verloren.“ Erklärlich also der Schachzug, dass sich Hitler am 1. Mai 1933 zum „oberste(n) Arbeiter“ ausrufen ließ. Sicher wollte er damit (auch) die klassenbewussten Arbeiter keilen und an deren Kampfruf anschließen und dies ganz im Sinne einer Volksgemeinschaft. Dieser Ruf lautete: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ (1863, Text von Georg Herwegh, wurde schnell verboten, aber illegal verbreitet). ‚Still‘ durften die Räder nicht stehen, so deutlich in einer propagandistischen Werbekampagne der Deutschen Reichsbahn von 1942: „Räder müssen rollen für den Sieg!“ (was zu Reiseverzicht aufrief, um die Transportkapazität der Wehrmacht zu erhöhen). Ob auf Autobahn oder Schiene, es musste halt ‚rollen‘. – Aber auch mit Blick auf solcherlei kritischen Marginalien sind die Analysen und Botschaften des Buches nicht ad acta zu legen, zu belangvoll ist das Problemfeld, das der Autor vor Augen führt. ‚Still‘, metaphorisch gesprochen, darf nämlich derzeit und wie stets im Kapitalismus nach dem Mantra fortlaufenden Wachstums auch nichts stehen.
Fazit
Auch wenn man bisweilen während der Lektüre nach dem roten Faden schielen mag, von dem die im Einzelnen behandelten politischen und kulturhistorischen Aspekte, besonders die historischen Argumentationen, recht weit abzweigen, bleibt das Buch allein darum und wegen des darin gegebenen Informationsgehalts empfehlenswert und der Aufhänger, „Deutschland als Autobahn“, ist in der Zusammenschau berechtigt. Der ein oder andere theoretische Stolperstein bietet Anlass zu weiterführenden Diskussionen, weil es, wenn auch aspektisch, um nicht weniger geht als darum, was einem vernünftigen und mehr als überfälligen Aufbau von Barrieren gegen den sogenannten Klimawandel im Wege steht.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 11.11.2022 zu:
Conrad Kunze: Deutschland als Autobahn. Eine Kulturgeschichte von Männlichkeit, Moderne und Nationalismus. transcript
(Bielefeld) 2022.
ISBN 978-3-8376-5943-6.
Reihe: Public history - angewandte Geschichte - Band 12.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29867.php, Datum des Zugriffs 08.11.2024.
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