Günther Thomé: Abc und andere Irrtümer
Rezensiert von Dr. Torsten Mergen, 02.01.2023

Günther Thomé: Abc und andere Irrtümer über Orthographie, Rechtschreiben, LRS/Legasthenie. ISB-Fachverlag (Oldenburg) 2021. 5., aktualisierte Auflage. 156 Seiten. ISBN 978-3-942122-23-8. 14,80 EUR.
Thema
Der pensionierte Sprachwissenschaftler und Didaktiker Günther Thomé beschäftigt sich in einem teils essayistisch, teils populärwissenschaftlich angelegten Buch, das inzwischen in fünfter Auflage vorliegt, mit Irrwegen bzw. Irrtümern in den Bereichen des Rechtschreiblernens, des Umgangs mit Diktaten sowie der Legasthenie-Problematik. Dabei postuliert er vor allem einen Gegensatz zwischen verbreitetem (Pseudo-) Wissen und wissenschaftlich fundierter Erkenntnis. Um die Anschaulichkeit und Verständlichkeit für eine breite Leserschaft zu sichern, kreiert er zwei fiktive Erzählfiguren – „Herr Bisher Dachtemann“ und „Herr Dagegen Weißmann“ –, die zu kontroversen Themen wie dem Verhältnis von Laut- bzw. Silben-Prinzip gegenüber dem Buchstaben-Lernen oder zum frühen Schreiben-Lernen Position beziehen.
Autor
Prof. Dr. Günther Thomé (Jg. 1952) forschte und lehrte nach der Habilitation 1998 mit der Studie „Orthographieerwerb: Qualitative Fehleranalysen zum Aufbau der orthographischen Kompetenz“ bis zu seiner Pensionierung 2015 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main in den Bereichen Sprachwissenschaft des Neuhochdeutschen und Sprachdidaktik. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Orthographietheorie, Schriftspracherwerb, LRS-/Legasthenie-Förderung, erschwerter und/oder verzögerter Rechtschreib-Erwerb, Rechtschreibförderung sowie -diagnostik.
Aufbau
Das Buch ist in zehn Kapitel sowie ein Abbildungs- und Tabellenverzeichnis, Literaturangaben, Sachregister und Abkürzungen gegliedert. Die einzelnen Kapitel des Buchs befassen sich mit jeweils einem populären bzw. (pseudo-)wissenschaftlichen Irrtum:
Über Irrtümer im Allgemeinen
- Irrtum: Rechtschreiben lernt man durch das Lesen
- Irrtum: Früher konnten die Schüler besser rechtschreiben als heute (leider kein Irrtum)
- Irrtum: Mit dem ABC schreiben wir die Laute unserer Sprache
- Irrtum: Die Unterrichtsmaterialien sind geprüft und korrekt
- Irrtum: Alle können die Rechtschreibregeln (nur ich nicht)
- Irrtum: Rechtschreiben lernt man durch Diktate
- Irrtum: Je früher, desto besser
- Irrtum: Jeder, der rechtschreiben kann, kann es auch unterrichten
- Irrtum: LRS/Legasthenie gibt es – LRS/Legasthenie gibt es nicht
Ergänzt wird das Buch durch ein Abbildungs- und Tabellenverzeichnis, ferner ein 20-seitiges Literaturverzeichnis sowie ein Sach- und Irrtümerregister.
Inhalt
Einführend wirft Günther Thomé Fragen auf, die sich mit menschlicher Erkenntnis und Wahrnehmungsfähigkeit sowie pädagogischer und deutschdidaktischer Expertise beschäftigen, u.a. stellt er zur Diskussion: „Warum hat man nicht schon längst das Lesen und Rechtschreiben erforscht? Warum wissen wir so wenig?“ (S. 9) Ferner erläutert er den Antrieb seiner Darstellung: „Nur durch das Hinterfragen von Alltäglichem und scheinbar Klarem zeichnet sich Wissenschaft erst aus.“ (S. 10)
Die folgenden Kapitel beziehen sich auf verschiedene Irrtümer, von denen der Autor neun expliziert: Der erste Irrtum sei, dass man Rechtschreiben durch das Lesen lernt. Dies sei eine irrige Annahme, da Lese- und Rechtschreibschwächen auch jeweils isoliert auftreten können und damit „kaum ein direkter Zusammenhang zwischen Lese- und Rechtschreibleistungen besteht“ (S. 16).
Der zweite Irrtum irritiert prima vista, denn Thomé konstatiert: „Früher konnten die Schüler besser rechtschreiben als heute (leider kein Irrtum)“ (S. 22). Dies fundiert er durch aktuelle empirische Forschungsergebnisse, um zu zeigen, dass viele Schülerinnen und Schüler vermehrt schlechte Leistungen im Rechtschreiben zeigen, was er einerseits auf die Struktur und Leistungsfähigkeit des Bildungssystems zurückführt, anderseits auf die Praxis der schulischen Rechtschreibvermittlung und -testung. Vor allem der Diktatpraxis tritt Thomé kritisch entgegen und plädiert für eine Steigerung des Anteils an freien Schreibübungen. Ferner berücksichtigt er negative Entwicklungstendenzen, die durch die Corona-Pandemie und den Lehrkräftemangel bestärkt wurden.
Der dritte Irrtum bezieht sich auf die Aussage: „Mit dem Abc schreiben wir die Laute unserer Sprache“ (S. 39). In diesem Kapitel formuliert der Sprachwissenschaftler seine Kernthese, indem er auf das Verhältnis von Standardlautung zu Standardschreibung sowie auf die Beziehung von Lauten und damit verbundenen Schreibzeichen eingeht: „Die Buchstaben unseres Alphabets bilden nicht die Laute unserer Sprache ab. Lehrkräfte und Therapeuten sollten die korrekte Lautgliederung von Wörtern auf der Grundlage der Standardlautung beherrschen. Besondere Bedeutung kommt dabei der Unterscheidung zwischen Lang- und Kurzvokalen zu.“ (S. 47) Dies verweist konzeptionell auf die Methodik, Schülerinnen und Schülern die Basisgrapheme in einer verbundenen Schreibschrift zu vermitteln, d.h. eine Abkehr von einer Buchstabenorientierung beim Rechtschreiblernprozess und einer Fokussierung der Schrifteinheiten, „die sich auf die Lauteinheiten beziehen“ (S. 58).
Mit dem vierten Irrtum weitet Günter Thomé seine kritische Musterung auf die Unterrichtsmaterialien für den Deutschunterricht aus. Durchaus mit polemisierender Tendenz stellt er dar, wie es zu einer „Abc-Nulldidaktik“ (S. 66) gekommen sei und tritt vehement für eine didaktische Vermittlung der „Zuordnung von Lang- und Kurzvokalen“ (S. 68) ein, ferner für eine intensive Berücksichtigung der sog. Ranschburgschen (Ähnlichkeits-) Hemmung. Damit gemeint ist die lernpsychologische Erkenntnis, dass Lern- und Gedächtnisprobleme oftmals im Lernprozess „aufgrund ähnlicher (Lern-) Inhalte entstehen“ (S. 70), was vor allem bei der Buchstabenvermittlung häufiger auftrete.
Dies führt den Autor zum fünften Irrtum, dass die Kenntnis von Rechtschreibregeln zu einer verbesserten Rechtschreibung führen soll. Der Sprachwissenschaftler thematisiert den Kontrast zwischen bewusster, kognitiv ausgerichteter Regelanwendung und einer (halb)automatisierten, auf Routinen angelegten Schreibung, mit anderen Worten: Nicht der Fehler sei das Problem, sondern der Umgang damit, denn es gelte: „Eine fehlerhafte Schreibung verweist auf einen spezifischen Könnensstand, der auf einer jeweils gegebenen mentalen Struktur im Gehirn beruht, denn […] Wissen und Können gehen auf neurophysiologische Strukturen zurück.“ (S. 88) Entsprechend bewirkt weniger die ausschließliche Vermittlung expliziter Regelkenntnisse in der Schule, sondern vielmehr die Entwicklung eines „innerer Regelapparats“ (S. 89) durch die Lernenden bessere Rechtschreibergebnisse.
Folglich sei es als sechster Irrtum anzunehmen, dass man Rechtschreiben durch Diktate lernen kann. Günther Thomé verweist zunächst auf einen seiner Meinung nach weit verbreiteten Irrglauben, dass dies geschehe „in ‚guter‘ Absicht, weil angenommen wird, Diktate seien lernförderlich, gerecht und objektiv. Relativ schnell auszuwerten sind sie ja.“ (S. 96) Hingegen seien Diktate in nuce nichts anderes als Fehlerfallen, die einer Augenscheinvalidität entsprechen würden. Insoweit plädiert er für andere Formate, um den Grundwortschatzbezug zu stärken und den Fehlertypen nach Rechtschreibbereichen besser gerecht zu werden.
Der siebte Irrtum beschäftigt sich mit der Frage, ab wann mit dem Rechtschreibtraining begonnen werden sollte. Die Leitthese des Autors lautet: „Bevor die Kinder keine altersadäquate Sprache […] entwickelt haben, ist an keine schriftsprachliche Förderung zu denken.“ (S. 107) Insofern wendet er sich gegen eine zu frühe systematische Schriftsprachförderung zugunsten eines spielerischen Erwerbsprozesses durch „Freude am Sprechen und Singen“ (S. 107).
Der Frage, wer überhaupt geeignet ist, die Rechtschreibung zu vermitteln, geht das Kapitel zum achten Irrtum nach: „Jeder, der rechtschreiben kann, kann es auch unterrichten.“ (S. 108) Dies sei viel zu kurz gegriffen, denn nur Logopädinnen und Logopäden würden in ihrer Ausbildung die korrekte Lautgliederung und damit die Standardlautung lernen. Während in der Schule vermittelt würde, dass es fünf Vokale gäbe, verweist Thomé darauf, dass „wir im Deutschen 16 Einzelvokale plus 3 Diphthonge, also 19 Vokale,“ (S. 109) haben, was aber im Unterricht nicht hinreichend berücksichtigt werden würde. Folglich entstünden Fehler im Unterricht „häufig durch unsachgemäßes Gliedern sprachlicher Einheiten. Die Überprüfung lautlicher Fähigkeiten […] bedarf einer soliden Professionalität der Lehrkräfte“ (S. 112). Mangelndes Professionswissen führt der Autor auf den Zustand bzw. die Ausstattung der sprachdidaktischen Lehrstühle an den lehrkräftebildenden Hochschulen zurück. Sein wissenschaftspolitisches Plädoyer verweist auf eine Abkehr von der „niederschmetternde[n] Geringschätzung der Grundbildung“ (S. 116) im Bereich des Schriftspracherwerbs.
Der neunte Irrtum ist dem Themenbereich Legasthenie/LRS gewidmet. Der Autor beschreibt einen weiterhin beobachtbaren exkludierend-stigmatisierenden Umgang mit entsprechend diagnostizierten Kindern. Um diesem Trend zu begegnen, plädiert er sowohl für eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der Problematik als auch für eine verbesserte förderdiagnostische Ausbildung der Lehrkräfte.
Diskussion
Wenn ein Sachbuch in zehn Jahren in fünf Auflagen erscheint, hat es sicherlich eine Fragestellung angesprochen, die eine größere Leserschaft beschäftigt. Dies gilt sicherlich für Günther Thomés 2021 erschienene fünfte Auflage von „ABC und andere Irrtümer über Orthographie, Rechtschreiben, LRS/Legasthenie“, die gegenüber der vierten Auflage gründlich aktualisiert wurde, indem sowohl neuere Entwicklungen wie die Folgen der Corona-Pandemie und des Lehrkräftemangels berücksichtigt als auch wichtige, seit 2017 publizierte wissenschaftliche Studien und Forschungsarbeiten eingearbeitet worden sind. Bereits der Untertitel verweist jedoch auf die sprichwörtliche Quadratur des Kreises, die der Autor mit dieser knapp 160 Seiten umfassenden Darstellung anstrebt: „harte Fakten, wissenschaftlich untermauert, locker dargestellt“. Es ist sicherlich anerkennenswert, bestehende Probleme mit der Schriftsprachentwicklung und dem Rechtschreiben für eine größere Öffentlichkeit verständlich zu präsentieren und dies durch zahlreiche Schaubilder, Tabellen und Graphiken zu illustrieren. Dazu ist die Darstellung entsprechend „didaktisch“ angelegt, was durch die Einführung von direkter Leseransprache und fiktiver Dialogpartner verstärkt wird. Der Erfolg des Buches mag insofern einerseits darauf zurückzuführen sein, dass der Text sehr flüssig und plakativ angelegt ist. Andererseits führt dies dazu, dass er an einigen Stellen eher pauschalisierend respektive polemisierend wirkt. Thomé nimmt kein Blatt vor den Mund und schildert aus subjektiver Perspektive diverse Probleme und Entwicklungstendenzen, die durchaus in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden. Ein Beispiel: „Ich bemerke nur einen zunehmenden Dilettantismus in Bildung und Ausbildung. […] Mit etwas Fantasie könnten unsere Bildungspolitiker Rechtschreibprobleme in den Griff bekommen oder schubladisieren, wie man so schön in der Schweiz sagt.“ (S. 126 f.)
Es stellt sicherlich eine Leistung des Buches dar, auf zahlreiche Unzulänglichkeiten im schulischen Rechtschreibunterricht aufmerksam gemacht zu haben. Ferner vermittelt das Buch zahlreiche Fakten über die Unterschiede von Phonemen, Graphemen und Buchstaben und deren Rolle im Schreibprozess, die seit der ersten Auflage als Inspiration für didaktische Modellierungen nichts an Brisanz bzw. Innovationskraft verloren haben.
Fazit
Günther Thomé beschäftigt sich in seinem populärwissenschaftlich angelegten Buch mit den vielfältigen Bereichen des Orthographieerwerbs und der Sprachdidaktik. Dazu arbeitet er verschiedene Problemfelder heraus, die er mit dem Begriff „Irrtum“ explizit provokativ in Verbindung bringt, um verschiedene verbreitete Irrwege zu thematisieren, die in den Bereichen Lesen, Diktate, Lehrkräfteausbildung und (Recht-)Schreiben zu beobachten sind. Er plädiert ausdrücklich dagegen, den didaktischen Ansatz „Schreiben nach Gehör, nach dem Kinder ihre eigene Aussprache verschriften bzw. auf Grund ihrer eigenen Aussprache zu orthographischen Mustern gelangen sollen“ (S. 44), fortzuführen. Stattdessen intendiert das Buch Aufklärung zu leisten über das deutsche Laut- und Zeicheninventar in der Sprache, um daraus eine Neukonzeption des Deutschunterrichts im Allgemeinen und des Sprachunterrichts im Besonderen abzuleiten.
Rezension von
Dr. Torsten Mergen
Universität des Saarlandes, Fachrichtung 4.1
Mailformular
Es gibt 43 Rezensionen von Torsten Mergen.