Wolfgang Mertens (Hrsg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 28.12.2022

Wolfgang Mertens (Hrsg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2022. 5., überarbeitete Auflage. 1160 Seiten. ISBN 978-3-17-041460-0. 129,00 EUR.
Thema
Das Werk befasst sich mit Grundlagen und Entwicklung der Psychoanalyse und deren Vernetzung mit Nachbardisziplinen.
Herausgeber
Wolfgang Mertens ist Diplompsychologe und em. Professor für Psychoanalyse und psychodynamische Forschung am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilian-Universität München.
Entstehungshintergrund
Die 5. Auflage überarbeitete Auflage dieses Handbuches, verfasst von ca. 140 Wissenschaftlern, bringt neben der Definition psychoanalytischer Begriffe, eine Einordnung in die Ideengeschichte, Hinweise auf unterschiedliche Schulen sowie Anknüpfungspunkte an Nachbarwissenschaften. Viele Begriffe wurden aktualisiert und zwei neue (Transgenerationelle Weitergabe und Supervision) hinzugefügt.
Inhalt und Diskussion
Nach einem Inhaltsverzeichnis (10 Seiten) und einem Vorwort des Herausgebers zur 5. Auflage (2 Seiten) folgen Angaben zu den Autorinnen und Autoren (7 Seiten) und Bibliographische Notizen zu S. Freud (3 Seiten). Am Ende steht ein Sachwortverzeichnis Ende (36 Seien). In alphabetischer Reihenfolge werden die Stichworte ausführlich und jeweils mit Literaturangaben vorgestellt. Dabei wird ein bestimmtes Schema eingehalten:
- Definition
- Klassische Auffassung
- Ideengeschichtlicher Hintergrund
- Wesentliche Erweiterungen und Differenzierungen
- Die Bedeutung des Begriffs in den verschiedenen psychoanalytischen Schulrichtungen
- Interdisziplinäre Beiträge und Befunde
- Literatur
Die einzelnen Stichworte sind teils von Einzelnen, teils von Gruppen (zwei bis vier Autoren) verfasst worden, was eine gute Lösung ist, wenn es sich, wie beim Stichwort ‚Traum‘, nicht nur um eine umfangreiche Literatur, sondern auch um eine auch andere Disziplinen (Kunst, Literatur, Musik) betreffende Inhalte geht. Vermisst habe eine englische Version der Stichworte, da häufig englischsprachige Literatur angegeben wurde und die Psychoanalyse international gut vernetzt ist.
Es ist unvermeidlich, dass man beim Lesen als Analytikerin mit seinen eigenen Literaturvorlieben konfrontiert wird, die vielleicht nur kurz gestreift wurden. Ich hätte mir z.B. in Zusammenhang mit dem Stichwort ‚Depression‘ eine intensivere Darstellung der Überlegungen von Melanie Klein gewünscht. Das ist aber unvermeidlich und kann genauso gut auch positiv als Anregung verstanden werden, sich mit dahin auch unbekannten Autoren näher zu befassen.
Der Beitrag von Henseler über ‚Religion‘ sollte vielleicht in einer neuen Ausgabe noch einmal überarbeitet werden in Bezug auf die nicht nur individuellen Wünsche und Hoffnungen, die sich auf Transzendenz richten, sondern auch auf die enorme Bedeutung, die die Religionen als gemeinschaftsbildende und soziale Funktion hatten und haben. Narzisstische Wünsche und Größenphantasien nach Allwissenheit, Vollkommenheit, Allmacht und Unsterblichkeit könnte als göttliche (Wunsch)-Anmaßung und in ihren fundamentalistischen Anteilen -auch das gehört zur Religiosität- als inhuman und destruktiv verstanden werden.
Als sehr geschlossen habe ich den Beitrag von Kernberg zum Thema ‚Hass‘ erlebt. Gefehlt hat mir das Stichwort ‚Sucht‘, da süchtiges Verhalten nicht nur auf Drogen beschränkt ist, sondern – siehe ‚workaholic‘ – auch sicher in Behandlungen, z.B. auch beim ’Stalking‘, eine Rolle spielt.
Vermisst habe ich auch einen Beitrag zu delinquenten Verhalten, besonders bei Jugendlichen, womit Kinder- und Jugendtherapeuten sicher zu tun haben.
Neben der Familientherapie könne auch ein Beitrag zur Paartherapie aus psychoanalytischer Perspektive sinnvoll sein, da diese in der Praxis oft gewünscht wird, und ein Beitrag zur ‚angewandten Psychoanalyse‘ in der Arbeit mit Gruppen verschiedener Berufsfelder, vor allem Pädagogen. Insgesamt ist das Buch eher auf Erwachsentherapeuten ausgerichtet. Ich kann mir vorstellen, dass Kindertherapeuten noch zusätzlich andere Stichworte bevorzugen würden.
Es spricht für dieses Buch, dass man beim Lesen der Stichworte in ein anregendes Nachdenken kommt. Ich habe natürlich nicht alle Stichworte gelesen. Aber ich hoffe dargestellt zu haben, dass dieses Buch wichtige Anregungen und Hinweise gibt und gerade jetzt gebraucht wird, wo die Neustrukturierung des Psychotherapeutenberufes auch dazu führen kann, dass die theoretischen Erkenntnisse und Erfahrungen der Psychoanalyse weniger berücksichtigt werden.
Es ist dem Herausgeber, den Mitarbeitern und dem Verlag zu danken, dass dieses Standardwerk in einer 5. verbesserten Auflage vorliegt, das allerdings im Preis – das ist der einzige Wermutstropfen – für Studenten nur schwer erschwinglich ist, obgleich es für sie eine wichtige Ausbildungs- und Arbeitshilfe sein könnte, die zwar Selbsterfahrung nicht ersetzen, aber anregen kann.
Fazit
Es handelt sich um ein sehr inhaltsreiches, von bekannten und namhaften Autoren mit fundierten Beiträgen versehenes Buch, das auf jeden Fall in jeder Bibliothek einer Institution, in der Psychotherapeuten, Psychoanalytiker, Sozialarbeiter und Pädagogen ausgebildet werden, den Studenten und Kandidaten zur Verfügung stehen sollte.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
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Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 28.12.2022 zu:
Wolfgang Mertens (Hrsg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2022. 5., überarbeitete Auflage.
ISBN 978-3-17-041460-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29870.php, Datum des Zugriffs 27.01.2023.
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