Andreas Witzel, Herwig Reiter: Das problemzentrierte Interview
Rezensiert von Prof. Dr. Christel Walter, 27.02.2023
Andreas Witzel, Herwig Reiter: Das problemzentrierte Interview - eine praxisorientierte Einführung.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
214 Seiten.
ISBN 978-3-7799-6278-6.
D: 19,95 EUR,
A: 20,60 EUR.
Reihe: Grundlagentexte Methoden. .
Thema
Die Publikation beschäftigt sich mit dem Problemzentrierten Interview (PZI), einer inzwischen anerkannten Methode in der qualitativen Sozialforschung. Ziel des PZI ist es, aus der Kombination von Erzählungen der Interviewten und von anschließenden Dialogen zwischen Interviewenden und Interviewten Wissen zu erzeugen, das über die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse hinausgeht und so zur Beantwortung sozialwissenschaftlicher Fragestellungen beiträgt.
Es handelt sich bei der Publikation, wie die Autoren einleitend anmerken, um ein Lehrbuch, das potenzielle Forscher*innen mit Möglichkeiten, Anforderungen und Fallstricken der Methode vertraut machen soll. Diesem Anspruch folgend, wird die Kunstlehre des PZI detailreich vorgestellt und stets mit Fallbeispielen unterlegt.
Auf ein deutschsprachiges Lehrbuch zum PZI wartet man schon lange. Die Methode wurde in der Vergangenheit vor allem in kürzeren Aufsätzen vorgestellt. Das mag dazu geführt haben, dass das PZI zwar häufig in Qualifizierungsarbeiten anzuwenden versucht wurde, seine methodologischen Anforderungen jedoch eher vernachlässigt oder manche Stärken des Verfahrens nicht voll genutzt wurden.
Autoren
Der erstgenannte Autor hat mit seiner Dissertation vor ca. vierzig Jahren (Witzel 1982) das PZI entwickelt und von anderen quantitativen und qualitativen Methodologien der Sozialforschung abgegrenzt. Seither ist diese Methodologie in mehreren Forschungsprojekten präzisiert und weiterentwickelt worden. Dafür ist auch der zweite Autor mitverantwortlich, der am Deutschen Jugendinstitut im Bereich qualitativer Forschung arbeitet.
Aufbau
Das Lehrbuch gliedert sich in drei größere Kapitel, die aus unterschiedlicher Perspektive das PZI ansteuern. Das erste Kapitel (im Buch unter II zu finden) soll mit den Anforderungen dieser Interviewform vertraut machen. Diesem Ziel wird mit kurzen Interviewanfängen und ihrer ausführlichen Kommentierung entsprochen. Im zweiten Kapitel (III) werden der Ablauf und die Essentials des PZI erläutert. Wenn auch knapp, wird in diesem Zusammenhang auf die methodologischen und sozialwissenschaftlichen Grundlagen des PZI eingegangen. Das dritte Kapitel (IV) befasst sich, angereichert durch Interviewausschnitte, damit, wie die Programmatik des PZI in der Forschungspraxis umgesetzt werden kann.
Inhalt
Das erste Kapitel (II) beginnt mit zwei ausführlich kommentierten Interviewanfängen aus einem berufsbiografischen Forschungsprojekt. Um Fehler der Interviewführung zu verdeutlichen, wurde auch ein suboptimal beginnendes Interview ausgewählt. An diesem Beispiel werden Alternativen der Interviewführung aufgezeigt. Am zweiten Interviewausschnitt wird demonstriert, wie sich mit einfachen sprachlichen Mitteln des Interviewenden die Erzählung des Interviewten in Gang setzen lässt. Um dies erreichen zu können, sollte bereits im Vorkontakt mit den Interviewten einerseits ein Vertrauensverhältnis geschaffen werden und andererseits tatsächlich ein ernsthaftes Interesse an den Beiträgen der Interviewten für das in Frage stehende wissenschaftliche Problem bestehen. D.h., der Status der Interviewten als Subjekt muss im PZI hervorgehoben werden, um ihre Rolle als „Objekt“ in schematisch ablaufenden standardisierten Interviews zu vermeiden. Mit dieser Strategie des PZI sollen u.a. sozial erwünschte Antworten der Interviewten, generell wenig valide Antworten möglichst verhindert werden.
Die Rolle der Interviewenden im PZI, das zeigt das erste Kapitel, ist die von „lernenden“, aktiven Zuhörer*innen. Es ist wichtig, dass sie ihr „Vorwissen“ zum Forschungsthema für Erzählimpulse und Fragen nutzen, dass sie dieses „Vorwissen“ jedoch nicht in ein abstraktes, für die Interviewten mitunter missverständliches Vokabular „verpacken“ oder in Gestalt implizit suggestiver Wertungen äußern. Ein kompetenter Umgang mit dem „Vorwissen“ und den im Laufe des Interviews entstehenden „Vorinterpretationen“ ist bei Anschlussfragen und im Dialogteil des Interviews besonders relevant.
Im zweiten Kapitel (III) wird die Systematik des PZI als Methodologie eines sozialwissenschaftlich fundierten Fremdverstehens entwickelt. Ausgangspunkt ist die ethnomethodologische Einsicht in die „Indexikalität“ resp. Kontextabhängigkeit menschlicher Kommunikation (sowohl der Gestik als auch der Sprache). Die Kontextgebundenheit soll im PZI durch Kommunikationsstrategien, nämlich durch Anregungen von Erzählungen der Interviewten und durch verschiedenartige Formen des Nachfragens zumindest zum Teil aufgeklärt werden. Die Kommunikationsstrategien des PZI firmieren unter der Bezeichnung erzählungsgenerierender „allgemeiner Sondierungen“ und „spezifischer Sondierungen“, wobei die zuletzt genannten der Vermeidung von Missverständnissen, der Revision von vorschnellen Interpretationen sowie generell der Ausdifferenzierung des anstehenden Themas im Dialog zwischen Interviewenden und Interviewten dienen. Die Problemzentrierung des Interviews besteht in der Übersetzung der Forschungsfrage in die subjektive Alltagssprache der Interviewten. Das Forschungsziel wird also durch eine gelungene, möglicherweise auch spannungsreiche Verbindung zwischen wissenschaftlichem „Vorwissen“, „Vorinterpretationen“ und Alltagswissen erreicht.
Im dritten Kapitel (IV) wird der Ablauf des Forschungsprojekts abgehandelt, von der Entscheidung, ob sich das PZI für die Untersuchung eignet, bis zur Auswertungsphase. Die verschiedenen beim PZI vorgesehenen Kommunikationsstrategien, welche im vorhergehenden Kapitel eher systematisch-methodologisch dargestellt wurden, werden an Interviewbeispielen demonstriert und kommentiert. Es wird vor Augen geführt, welche subtilen kommunikativen Kompetenzen die Interviewenden besitzen sollten, um ein PZI durchzuführen. So könnten mitunter durch einen einzigen unbedachten Begriff die Antworten der Interviewten in eine von ihnen nicht intendierte, unter Umständen sozial erwünschte Richtung gelenkt werden. Dankenswerterweise wird im Lehrbuch ein konstruktiver Umgang mit möglichen Fehlern der Interviewenden aufgezeigt.
Diskussion
Die Darstellung des PZI ist nachvollziehbar und kann gut als Begleittext für eine Interviewschulung oder für Lehrveranstaltungen verwendet werden. Auch wenn man sich für qualitative Interviews im Allgemeinen schulen möchte, kann man mit Gewinn auf das Lehrbuch zurückgreifen und sich mit den angesprochenen Kommunikationsstrategien beschäftigen. Als weiterer Vorteil ist zu verzeichnen, dass die in der Publikation verwendeten Interviews in einer öffentlich zugänglichen Datenbank verfügbar sind und somit weitergehende fachliche Diskussionen und Sekundäranalysen ermöglichen.
Die Autoren konzentrieren sich im Lehrbuch auf die Voraussetzungen und die Choreographie für die Durchführung des PZI. Sie verzichten explizit darauf, Auswertungsstrategien für das PZI vorzustellen. Die mit dem PZI erhobenen Daten können nach der Überzeugung der Autoren „mit allen Ansätzen der qualitativen Textanalyse“ (S. 188) ausgewertet werden.
Vielleicht hätte man in einem gesonderten Kapitel die Besonderheiten des PZI im Vergleich mit anderen Methoden und Methodologien qualitativer Interviews herausarbeiten können, beispielsweise mit der Konversationsanalyse, der pragmatischen Kommunikationsanalyse oder dem narrativen Interview. Auf diese Weise hätte man etwa klären können, welche Methodologie sich z.B. für Mixed-Methods-Studien oder für Experteninterviews besonders eignet. Nach Jahrzehnten von Forschungserfahrungen mit dem PZI hätte man auch mitteilen können, bei welchen Fragestellungen oder wissenschaftlichen Themen dem PZI der Vorzug gegenüber anderen qualitativen Verfahren gegeben werden sollte. Angesichts der methodischen Weiterentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte in der Sozialforschung drohte jedoch ein solches Unterfangen unübersichtlich und undurchführbar zu werden.
Fazit
Die Autoren stellen die Methodologie des PZI, die von Andreas Witzel vor ca. vierzig Jahren entwickelt wurde, in Form eines Lehrbuchs vor. Die Publikation bietet eine gute Grundlage, um sich mit dieser Form des Interviews vertraut zu machen. Das PZI soll gewährleisten, dass die Interviewten ihr Alltagswissen zum angesprochenen wissenschaftlichen Problem entfalten können und dass die dialogischen Abschnitte des Interviews zur Ausdifferenzierung dieser subjektiven Sichtweisen verhelfen. Die Rolle der Interviewenden als aktive Zuhörer*innen und interessierte Fragende verlangt detaillierte Kenntnisse der vorgesehenen Interviewschritte sowie sprachliche und kommunikative Fertigkeiten, um wissenschaftlich interpretierbare Ergebnisse zu erreichen.
Literatur
Witzel, Andreas (1982): Verfahren der qualitativen Sozialforschung. Überblick und Alternativen. Frankfurt und New York: Campus.
Rezension von
Prof. Dr. Christel Walter
Berlin
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Es gibt 11 Rezensionen von Christel Walter.
Zitiervorschlag
Christel Walter. Rezension vom 27.02.2023 zu:
Andreas Witzel, Herwig Reiter: Das problemzentrierte Interview - eine praxisorientierte Einführung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
ISBN 978-3-7799-6278-6.
Reihe: Grundlagentexte Methoden. .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29875.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
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