Fabienne Becker-Stoll: Sozial-emotionale Entwicklung
Rezensiert von Prof. Dr.med. Dipl.Psychol. Karla Misek-Schneider, Johanna Bülow, 05.09.2023

Fabienne Becker-Stoll: Sozial-emotionale Entwicklung. Themenheft Kleinstkinder. Verlag Herder GmbH (Freiburg, Basel, Wien) 2022. 48 Seiten. ISBN 978-3-451-01075-0. D: 10,00 EUR, A: 10,30 EUR, CH: 14,50 sFr.
Thema
Das Themenheft „Sozial-emotionale Entwicklung in den ersten Lebensjahren“ ist in der Reihe der Fachzeitschrift Kleinstkinder in Kita und Tagespflege erschienen. Diese Reihe des Herder Verlags wendet sich an pädagogische Fachkräfte, die mit 0–3 jährigen Kindern in Kita oder in der Tagespflege arbeiten. Ziel dieser Themenheft-Reihe ist es, relevante pädagogische Grundlagen zu vertiefen und konkrete Ideen für den Praxisalltag weiterzugeben.
Die sozial-emotionale Entwicklung und die Herausbildung entsprechender Kompetenzen stellen bedeutsame Entwicklungsbereiche im Kleinkindalter dar. Wissen, Feinfühligkeit und sensible und adäquate Unterstützung in der Familie, aber eben auch durch pädagogische Fachkräfte, sind wichtige und notwendige Hilfen in diesen frühen Lebensjahren.
Das Wissen über sozial-emotionale Entwicklungsschritte bei Babys und Kleinstkindern hat sich erst in den letzten 2 Jahrzehnten durch das verstärkte Interesse der entwicklungspsychologischen Forschung und der Herausbildung von Frühpädagogik als eigenen Forschungs- und Praxisbereich erweitert und differenziert. Neue Forschungsmethoden u.a. die Ethnographie, die systematische Beobachtung und der Einsatz bildgebender Verfahren haben dazu beigetragen.
Angesichts der aktuellen Krisen in der Welt, Klimawandel, Krieg in der Ukraine, Pandemie und der allgemeinen emotionalen Verunsicherung in der Gesellschaft gewinnt die Frage, wie Kleinkinder ein ausdifferenziertes Emotionsrepertoire, Zuversicht, Selbstregulation, Vertrauen und prosoziale Verhaltensweisen entwickeln können, eine noch stärkere Bedeutung. In dem vorliegenden Themenheft beleuchten ExpertInnen aus Forschung und Praxis dieses Thema. Sie erläutern hierzu das aktuelle Fachwissen und geben zahlreiche Anregungen für eine gelingende frühpädagogische Praxis.
Autor:innen
Die 7 längeren Fachbeiträge wurden von insgesamt 10 Autorinnen und Autoren verfasst. Allesamt sind im Praxisfeld oder in der Forschung ausgewiesene ExpertInnen für die Entwicklung in der frühen Kindheit oder für Frühpädagogik. Im Themen-Heft werden sie alle auf S. 49 näher vorgestellt.
Aufbau
Das Themenheft zeigt einen sehr übersichtlichen Aufbau und Gliederung, wobei die 7 Fachartikel rund um das Thema der sozial-emotionalen Entwicklung die zentralen Inhalte bilden. In den Fachartikeln selbst finden sich neben dem Haupt-Text und anschaulichen Fotos, mehrere -jeweils anders farblich gekennzeichnete -Info- bzw. Hinweis „Tafeln“, die Erklärungen und Ausführungen zu Theorien oder notwendigem Fachwissen liefern. Es werden konkrete Tipps und Beispiele für die Praxis erläutert und illustrierende Fallbeispiele vorstellen. Begleitet werden die Inhalte des Heftes von einem Glossar, von weiteren Texten als Zusatzwissen sowie von einem zum Heft passenden Newsletter und Literaturhinweisen (links) auf zugehörige Webseiten.
Inhalt
Das alle 7 Beiträge verbindende Grundgerüst beinhaltet die Bedeutung von Bindungserfahrungen bzw. des Bindungs- und Explorationsverhaltenssystems in der frühkindlichen Entwicklung, das Interesse und die Feinfühligkeit der Bezugspersonen, die Rolle von nonverbalen Interaktionen zwischen Kindern aber auch zwischen Kindern und Erwachsenen, die Ko-Regulation von Verhalten und Emotionen durch pädagogische Fachkräfte und ein Selbstverständnis von pädagogischen Fachkräften als Konfliktcoach.
- Beitrag I (verfasst von Prof. Fabienne Becker-Stoll) lässt sich als Einführung in den Themenkreis benennen. Hier werden die Grundbedürfnisse von Kleinstkindern wie Bindung, Kompetenz und Autonomie beschrieben und die adäquaten Eckpfeiler des Verhaltens bei pädagogischen Bezugspersonen wie z.B. fürsorgliches Engagement und Unterstützung von Autonomie erläutert. Feinfühlige Aufmerksamkeit und Zuwendung werden anhand von Beispielen illustriert und betont, dass die Qualität der Interaktion entscheidend sei für eine gelingende Entwicklungsförderung in der Kita.
- Beitrag II (verfaßt von Dr. Dorothea Gutknecht) widmet sich der Beziehungsqualität zwischen Fachkraft und Kleinstkind. Die Autorin betont, dass eine positive Beziehungsgestaltung durch eine feinfühlige Fachkraft der wichtigste Qualitätsfaktor in einer Kita sei. Anhand von Beispielen wird erläutert, wie eine Fachkraft feinfühlig reagieren und unterstützen kann. Illustriert wird dies durch die Abbildung eines „Kreises der Sicherheit“ und durch weitere Praxisbeispiele.
- Beitrag III (ebenfalls von Frau Dr. Gutknecht) stellt den LeserInnen hilfreiche Verhaltensweisen von pädagogischen Fachkräften für die Stärkung der Selbstregulation bei Kleinstkindern vor. Hier wird das Konzept der „Co-Regulation“ näher beschrieben.
- Beitrag IV (verfasst von Dr. Udo Baer) greift ein aktuelles Thema auf, nämlich Ängste und Angstregulation bei Kleinstkindern. Insbesondere in Zeiten, in denen Pandemie, Klimakrisen und Krieg tägliches Thema sind und Familien, Kinder und auch pädagogische Fachkräfte belasten, ist der Umgang mit Ängsten und Verunsicherungen bei Kindern besonders relevant. Anhand von Fallbeispielen verdeutlicht der Autor das Erkennen solcher Ängste bei Kleinkindern. Tipps für den Umgang mit ängstlich-verunsicherten Kindern und die Gestaltung einer möglichst angstfreien Kita-Atmosphäre geben wertvolle Anregungen.
- Beitrag V (verfasst von Kornelia Schneider und Prof.Dr. Wiebke Wüsterling) greift das Thema Beziehungsaufbau im Spiel auf. Die Autorinnen verweisen auf Studienergebnisse, die aufzeigen, dass Kleinstkinder schon sehr früh Interaktionen mit Gleichaltrigen suchen. Hierbei spielen Körpersprache, Mimik, Lächeln, Gestik also die nonverbale Kommunikationsformen eine wichtige Rolle. Zweijährige nutzen zur Verständigung untereinander die sog. „embodied language“, die eher in einer Serie von körperlichen Interaktionen als in einem Austausch von Worten besteht. Mehrere Beispiele verdeutlichen wie bereits Kleinstkinder eine geteilte Spielwelt, eine gemeinsame Spielwelt und Spielverläufe gestalten. Gemeinsames Erleben von Fröhlichkeit und Verbundenheit verstärkt das gemeinsame Vergnügen. Entsprechende Kita Angebote mit vielfältigen Angeboten zu solchen Spielaktionen für Kinder im Kleinstkindalter nutzt deren Fähigkeiten und gibt wichtige Impulse für deren soziale emotionale Entwicklung.
- Beitrag VI (verfasst von Dr. Gabriele Haug-Schnabel) stellt Konflikte und Konfliktbewältigung in den Mittelpunkt. Die Autorin betont, dass das Kleinkind erst mit Entwicklung eines sog. „Ich-Bewusstseins“, also eines Bewusstseins des Kindes darüber, dass es selbst die Person ist, die eine Handlung ausführt und mit der sog. „theory of mind“, (der Fähigkeit, Annahmen über mögliche Gefühle und Bedürfnisse eines gegenüber vornehmen zu können) in der Lage sei, Konflikte zu umgehen bzw. diese sozial kompetent zu bewältigen. Bis dahin benötigt das Keinstkind die Mithilfe seiner Bezugsbetreuerin oder Bezugsbetreuers. Gegen Ende des 2. Lebensjahres kann sich das Kind zwar selbst als Akteur sehen und auch die Bedürfnisse und Gefühle von anderen wahrnehmen, dennoch kommt es noch oft zu Konflikten mit Anderen. Es fehlt dem Kind noch an Flexibilität, um eigene Wünsche zugunsten den Wünschen anderer aufzugeben bzw. zu verschieben und auch seine Regulationsfähigkeit ist noch zu schwach ausgeprägt, um nicht in Wut oder Verzweiflung bei der Nicht-Erfüllung seiner Wünsche zu geraten. Fachkräfte sind deswegen angehalten, bei Konflikten von 2-3-jährigen die Rolle eines sog. sensiblen Konfliktcoaches zu übernehmen und an der Seite des Kindes nach guten Konfliktlösungen zu suchen.
- Das letzte Kapitel VII (verfasst von Dr. Anne-Kristin Cordes und Fabienne Hartwig) beschäftigt sich mit dem Thema der digitalen Medien in der Interaktion mit Kleinstkindern. Die AutorInnen sind hier eher radikal und plädieren strikt für eine ungeteilte Aufmerksamkeit für das Kleinstkind, denn dieses braucht die ungeteilte, also die nicht mit dem Smartphone konkurrierende, Aufmerksamkeit ihrer Bezugspersonen. Nur so kann diese Bezugsperson, also auch die pädagogische Fachkraft, Signale des Kindes wahrnehmen und prompt sowie angemessen darauf reagieren. Interaktionsabbrüche durch Blicke auf oder die Beschäftigung mit dem Smartphone können bei den Kleinsten weitreichende negative Folgen für die Entwicklung mit sich ziehen, da die Bedürfnisse der Jüngsten wortwörtlich aus dem Blick geraten. Insofern spielen Regeln zur Smartphonenutzung, etwa die Einführung von Smartphonefreien Zonen eine wichtige Rolle. Das gilt auch für die Kita oder bestimmte Räume von Tagespflegepersonen. Es werden Vorschläge entworfen, wie Kitas, Tagespflegepersonen und auch Eltern mit der Smartphone-Nutzung umgehen können, um für die Kleinkinder, aber auch für sich selbst, negative Auswirkungen zu vermeiden.
Diskussion
Das vorliegende Themenheft liefert für die Fachpraxis einen interessanten und informativen Überblick über wichtige Aspekte der sozial-emotionalen Entwicklung bei Kleinkindern. Neben seinen unstrittigen deutlichen Stärken, die hier als Erstes genannt werden, sollte aber die aus Sicht der Rezensentinnen vorhandene inhaltliche Schwäche und Einseitigkeit der Beiträge und Sichtweisen ebenfalls thematisiert werden.
Das Heft wendet sich an pädagogische Fachkräfte, die in professionellen pädagogischen U3 Praxisbereichen wie z.B. Kita und Tagespflege mit Kleinstkindern arbeiten. Die gut verständlich geschriebenen Fachbeiträge behandeln ein breites Spektrum der für die sozial-emotionale Entwicklung relevanten Themenbereiche. Der formulierte Anspruch der Redaktion und der AutorInnen vorhandenes Fachwissen aufzufrischen und um Praxistipps und Handlungsrelevante Anregungen zu erweitern, wird größtenteils erfüllt. Allerdings finden schon länger in der Praxis stehende Fachkräfte nicht viel Neues. Eher werden Grundlagen wieder ins Gedächtnis gerufen. Es profitieren vor allem BerufsanfängerInnen und Auszubildende von den Texten und Beispielen. Die redaktionelle Ausarbeitung imponiert jedoch sehr positiv. Alle Beiträge weisen eine ähnliche Struktur auf, das übersichtliche und prägnante Layout und die Illustrationen sind wirklich gelungen. Auch die farblich unterlegten Fachbegriffe und die vielen eingeschobenen Hinweis- und Informationstafeln zu Begrifflichkeiten, Konzepten o.ä erleichtern das Lesen und das Verstehen der Inhalte. Die passenden Fotos aus der Kitapraxis motivieren zum weiterlesen. Es gibt informative Abbildungen im Text, Querverweise (links) zu weiteren Informationen z.B. im Internet und zu guter Letzt äußerst anschauliche Fallbeispiele sowie praktischen Handlungsanregungen für die Fachpraxis und die Gestaltung von Kitas.
Dennoch müssen die Rezensentinnen auf eine Einseitigkeit aufmerksam machen, die gerade bei dem Thema der sozial-emotionalen Entwicklungsbedingungen besonders relevant erscheint. Die Beiträge erwecken den Anschein, als gehe man immer von einer Lehrbuchähnlichen Entfaltung aus. Von gesunder Entwicklung und einem positiven Erfahrungsschatz der Kinder. Was ist mit den Kindern aus belasteten Familien? Mit Kindern aus Brennpunktfamilien, Kindern psychisch kranker Eltern? Mit Kindern, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, möglicherweise nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern leben, Trennungskindern? Die Problemlagen von Familien und Kindern werden immer komplexer. Immer mehr Kinder sind emotional beeinträchtigt. Was bedeutet das für die pädagogischen Fachkräfte, die mit diesen Kindern und Eltern im Alltag arbeiten? Fachpersonal kann und muss hier unterstützen, aber wie?
In vielen Kitas und Tagespflegeeinrichtungen sieht die Wirklichkeit von Fachkräften anders aus als das, was diesbezüglich im Themenheft beschrieben wird. Darauf wird nicht eingegangen. So werden z.B. im ersten Beitrag gut und nachvollziehbar die Grundbedürfnisse von Kindern geschildert sowie die Wichtigkeit der Regulationsunterstützung betont. Hierbei wird jedoch eher eine Bilderbuchmäßige Entwicklung der Kinder zugrunde gelegt. Wie aber reagieren Kinder, deren Grundbedürfnisse dauerhaft unbefriedigt bleiben? Zuhause niemand die Stressregulierung ausreichend unterstützt? Es wird kurz beschrieben, dass es Kinder mit dysfunktionalen Beziehungserfahrungen gibt und diese sichere Beziehungen zu ihren Bezugsfachkräften aufbauen können, aber, dass dies sehr langwierig sein kann und wie genau hier gehandelt werden sollte, um letztendlich Erfolge zu erzielen, bleibt leider unerwähnt.
Ebenfalls werden die Rahmenbedingungen in Kitas zu wenig thematisiert. So geht es im dritten Beitrag z.B. um Emotionen und Verhaltensregulierung. Es wird verdeutlicht, wie wichtig es ist, die einem anvertrauten Kinder „lesen“ zu können, um erfolgreich zu ko-regulieren. Hier wird ein gutes Verständnis für die Regulationsfähigkeit der verschiedenen Altersklassen geschaffen. Auf einem ausreichend großen Schaubild werden Regulierungshilfen für den Kitaalltag vorgestellt. Die klingen allesamt sehr gut und schlüssig, es sind wertvolle Ideen dabei. Nur stellt sich die Frage, ob im Kita-Alltag tatsächlich in diesem Maße darauf eingegangen werden kann. Was ist leistbar unter den tatsächlichen Voraussetzungen, die die Fachkräfte vorfinden, in Bezug auf Personal- und Betreuungsschlüssel? Es sollte auch nicht außer acht gelassen werden, dass eine Fremdbetreuung bei bestimmten Störungen oder Bindungstraumata gerade bei Kindern unter drei Jahren nicht unbedingt zu empfehlen ist.
Es gilt die Frage zu bedenken, wie es sich bei Kindern verhält, die im Elternhaus und in ihrer bisherigen Biografie wenig Förderung ihrer Entwicklung erfahren und vielleicht sogar wiederholte Vernachlässigung und Traumata erlebt haben. Oft sind diese gerade im sozial-emotionalen Bereich schwierig und auffällig, stören oder verweigern sich. Was brauchen diese Kinder und vor allem, wie können pädagogische Fachkräfte gestärkt werden, wenn diese, trotz immer wieder versuchtem feinfühligen Verhalten, dafür wenig positive Resonanz bei den Kindern erleben und schließlich frustriert reagieren? Diese sogenannten schwierigen Kinder sind auch bereits in Kitas immer häufiger anzutreffen und beanspruchen viel Zeit und Aufmerksamkeit der Fachkräfte. Oft werden diese Kinder in spezifischen heilpädagogischen Kitas oder auch bei Pflegeeltern untergebracht. Umso wichtiger ist es bei einem Themenheft auch einen Fachbeitrag über schwierige sozial-emotionale Entwicklung im Kleinkindalter und mögliche pädagogische Antworten für alle pädagogischen Fachgruppen vorzuhalten, die mit diesen Kindern arbeiten, wie z.B. MitarbeiterInnen integrativer Tagesstätten, heilpädagogischer Einrichtungen etc.
Fazit
Das Themenheft „Sozial-emotionale Entwicklung in den ersten Lebensjahren“ wendet sich an pädagogische Fachkräfte, die mit 0-3jährigen in Kita oder in der Tagespflege arbeiten. Die Beiträge von 10 ausgewiesenen FachautorInnen möchten relevante pädagogische Grundlagen vertiefen, aktuelles Wissen erweitern und konkrete Ideen und Anregungen für den Kita-Praxisalltag geben. Das ist durch die Fachbeiträge und einer sehr guten redaktionellen Aufarbeitung sowie einem motivierenden Layout besonders für alle BerufsanfängerInnen gelungen. Kritisch wird jedoch angemerkt, dass die Gruppe der Kleinstkinder mit einem auffälligen und schwierigen sozial-emotionalen Verhalten sowie Praxisanregungen für die pädagogische Arbeit in Institutionen, in denen diese Kinder anzutreffen sind, bei den Beiträgen schlichtweg ausgelassen wurden.
Rezension von
Prof. Dr.med. Dipl.Psychol. Karla Misek-Schneider
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Johanna Bülow
Dipl.-Sozialpädagogin
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