Marion Gemende, Claudia Jerzak et al. (Hrsg.): Flüchtlingssozialarbeit in Bewegung
Rezensiert von Prof. Dr. Antje Krueger, 10.01.2023

Marion Gemende, Claudia Jerzak, Margit Lehr, Marianne Sand, Dorit Starke et al. (Hrsg.): Flüchtlingssozialarbeit in Bewegung. Ein Handlungsfeld der Sozialen Arbeit am Beispiel der FSA in Sachsen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 284 Seiten. ISBN 978-3-7799-6733-0. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
Das vorliegende Buch dokumentiert die Arbeit des Projekts „Wissenschaftliche Begleitung der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen“, das seit 2016 unterschiedliche Themen des Handlungsfeldes im Bundesland Sachsen wissenschaftlich begleitet und bis 2020 von Claudia Jerzak, Prof. em. Dr. (Soziale Arbeit, Evangelischen Hochschule Dresden) geleitet wurde. Mittlerweile scheint die Arbeit im „Projekt zur Etablierung einer Landesfachstelle Flüchtlingssozialarbeit/​Migrationssozialarbeit in Sachsen“ weitergeführt zu werden. Seit 2022 ist Bernhard Wagner Leiter des Projekts. Entsprechend der Ausrichtung der beiden Projekte findet sich eine große Bandbreite an strukturellen wie methodischen Auseinandersetzungen, die jeweils im lokalen Kontext betrachtet werden. Die Projekte werden mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushalts (vgl. Vorwort, S. 8).
Herausgeber*innen
Marion Gemende, Sozialabeiterin (B.A.), war in unterschiedlichen Kontexten der Geflüchtetensozialarbeit in Sachsen tätig, schließt aktuell den MA „Soziale Arbeit als Menschrechtsprofession“ ab. Sie ist seit 2021 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Wissenschaftliche Begleitung der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen“ und seit 2022 im Projekt zur Etablierung einer Landesfachstelle Flüchtlingssozialarbeit/​Migrationssozialarbeit in Sachsen an der Evangelischen Hochschule Dresden tätig.
Claudia Jerzak, Prof. em. Dr. für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Dresden war von 2016–2020 Leiterin des Projekts „Wissenschaftliche Begleitung der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen“ an der Evangelischen Hochschule Dresden.
Margit Lehr studierte Afrikanistik und Anglistik (M.A.) und Soziale Arbeit (B.A.), war in unterschiedlichen Kontexten der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen tätig und war von 2016–2021 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Wissenschaftliche Begleitung der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen“ an der Evangelischen Hochschule Dresden.
Marianne Sand, Heileziehungspflegerin und Sozialarbeiterin (B.A.), war in unterschiedlichen Kontexten der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen tätig und ist seit 2016 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Wissenschaftliche Begleitung der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen“, seit 2022 im Projekt zur Etablierung einer Landesfachstelle Flüchtlingssozialarbeit/​Migrationssozialarbeit in Sachsen an der Evangelischen Hochschule Dresden.
Dorit Starke, examinierte Krankenschwester, studierte Neuere und Neuste Geschichte und Neue Deutsche Literaturwissenschaft (M.A.) sowie Soziale Arbeit (B.A.), arbeitete in einem Beratungstreff für Geflüchtete, ist im Vorstand von Mission Lifeline e.V. und seit 2020 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Wissenschaftliche Begleitung der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen“, seit 2022 im Projekt zur Etablierung einer Landesfachstelle Flüchtlingssozialarbeit/​Migrationssozialarbeit in Sachsen an der Evangelischen Hochschule Dresden.
Bernhard Wagner, Soziologe und Politologe, seit 2008 Dozent an der Evangelischen Hochschule Dresden war von 2016–2020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Wissenschaftliche Begleitung der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen“, seit 2020 Projektleiter und leitet seit 2022 das Projekt zur Etablierung einer Landesfachstelle Flüchtlingssozialarbeit/​Migrationssozialarbeit in Sachsen an der Evangelischen Hochschule Dresden.
Aufbau
Der Aufbau wird von den Herausgeber*innen nicht spezifisch kommentiert. Es finden sich auch im Layout keine strukturierenden Elemente, die auf inhaltliche Cluster hinweisen. Mit Blick auf die Anordnung lässt sich die Reihenfolge der Beiträge dennoch so beschreiben, dass zunächst grundsätzliche Einordnungen der Flüchtlingssozialarbeit in Wissenschaft und Praxis und im weiteren Verlauf eine Darstellung konkreter Praxisansätze und -angebote erfolgen. Die thematischen Auslassungen werden in der Einführung thematisiert (s.u.; vgl. auch S. 44). Während die meisten Beiträge regionale Bezüge herstellen, wird abschließend mit einem „Blick über den Tellerrand“ auch die Flüchtlingssozialarbeit in anderen Bundesländern betrachtet (vgl. S. 268–282).
Inhalt
Nach einem Vorwort der Herausgeber*innen zu grundsätzlichen Aspekten und Herausforderungen des Handlungsfeldes Flüchtlingssozialarbeit (FSA) in Sachsen und aktuellen Bezügen zum Krieg in der Ukraine (vgl. S. 7/8) folgt ein Geleitwort zum Buch von Sebastian Vogel, Staatssekretär im Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt (vgl. S. 9/10).
Der Aufsatz „Flüchtlingssozialarbeit als dynamisches Handlungsfeld Sozialer Arbeit im gesellschaftlichen Kontext von Fluchtbewegungen und Integrationsbemühungen für geflüchtete Menschen. Eine Einführung“ (Marion Gemende, S. 11–48) stellt den Auftakt des Buches dar und versteht sich gleichsam als einführende Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Aspekten von Flucht und Integration, der Geschichte und Themen der Flüchtlingssozialarbeit als Handlungsfeld sowie der Bedeutung von niederschwelligen Angeboten und der Mandatierung von Sozialarbeitenden. Gerade letztgenannte wird ausführlich und kritisch diskutiert und inhärente Limitierungen genauso wie Handlungsmöglichkeiten benannt. Wem bei der ersten Durchsicht des Buches schon die unterschiedliche Verwendung der Begriffe „Flüchtling“ bzw. „Geflüchtete“ und entsprechender Begriffskonstrukte aufgefallen sind, findet in dieser Einführung eine zumindest knappe Erläuterung: „Wir verwenden die Begriffe Geflüchtete oder doch Flüchtling, da dies ein international rechtlich durch die Genfer Flüchtlingskonvention definierter Begriff ist. Wie denken den Begriff Flüchtling aber weiter – als Personen, ‚die durch Kriege, Bürgerkriege, Katastrophen und andere Notlagen gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen‘ (Treibel 2011, S. 162). Wir schließen uns Annette Treibel an, dass zu Flüchtlingen damit auch Menschen zu zählen sind, die innerhalb eine Landes fliehen und demzufolge nicht die Herkunftsländer verlassen. Flüchtlinge sind – soweit sich ihr Status im Recht niederschlägt – rechtlich und sozial eine sehr differenzierte Gruppe“ (S. 12). Zum Ende erfolgt ein knapper Überblick über die Beiträge des Buches sowie eine Darstellung der thematischen Auslassungen. Diese, wie etwa die Problemlagen von begleiteten und unbegleiteten geflüchteten Kindern und Jugendlichen, die Arbeit von Ehrenamtlichen, spezifische Asyl- und Aufenthaltsrechtliche Aspekte oder die Auswirkungen von Covid-19, wurden nicht aufgenommen, da sie nicht explizit wissenschaftlich begleitet wurden. Gleiches gilt für die Bereiche Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik, psychosoziale Versorgung, Sprach- und Integrationsmittlung. Da die Rückkehrberatung für geflüchtete Menschen in Sachsen mittlerweile von der Flüchtlingssozialarbeit getrennt angeboten werden soll, werden auch die diesbezüglichen Erfahrungen aus der Vergangenheit nicht Gegenstand (vgl. S. 44).
Bernhard Wagner, ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter und aktueller Projektleiter, widmet sich unter dem Titel „Methodische Einordnung und Fallstricke der wissenschaftlichen Begleitung und Mitgestaltung von Flüchtlingssozialarbeit“ (S. 49–70) nach Klärung der Ausgangssituation und Skizze des Projektdesigns den Schwierigkeiten der doppelten Auftragslage (Doppelperspektive Forschungs- und Gestaltungsprojekt) der bereits benannten Ausgangsprojekte. Er thematisiert in dieser Hinsicht Rollenwechsel und Rollendiffusion, Nützlichkeitsinteressen und Loyalitätskonflikte in Praxis, Politik und Forschung, Probleme der Ungleichzeitigkeit, die Kluft zwischen Verallgemeinerung und Konkretisierung, fragt nach Kompetenzen außerhalb von Forschungsmethoden und Fokussierungsanforderungen und setzt sich letztlich mit den Herausforderungen der genutzten standardisierten Befragungen auseinander: „Unserer Befragung kommt ein lediglich explorativer Charakter zu. Wir können aber davon ausgehen, dass unsere Daten tendenziell durchaus die Verhältnisse der Flüchtlingssozialarbeit wiederspiegeln“ (S. 69).
„Warum Flüchtlingssozialarbeit in Freier Trägerschaft agieren sollte und Öffentliche Träger dennoch Verantwortung tragen“ beantworten Margit Lehr und Marion Gemende (S. 71- 79). Nach Klärung der Verantwortungs- und Aufgabenbereiche werden Gründe angeführt, die für eine Ansiedlung der Flüchtlingssozialarbeit bei Freien Trägern sprechen (könnten), die Öffentlichen Träger allerdings nicht aus der Pflicht nehmen. Im Endeffekt plädieren beide für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit (vgl. S. 78).
„Handlungspraxis konkret in der sächsischen Flüchtlingssozialarbeit“ von Marianne Sand (S. 80–97) beschreibt im Schwerpunkt allgemeinere Merkmale des Handlungsfeldes und gibt einen Überblick über Zielgruppen und Ziele, Aufgaben und geläufige Dilemmata professionsethischer Herausforderungen. Zum Abschluss geht die Autorin dann auf die sächsischen Rahmenbedingungen ein, die sich vor allem durch das Fehlen eines angemessenen Personalschlüssels, Wohnsitzauflagen und den vielfältigen Benachteiligungen, die aus der Strukturschwäche des ländlichen Sozialraums resultieren, gekennzeichnet sind. Gleichsam scheint sich die Flüchtlingssozialarbeit zunehmend zu professionalisieren und Verbesserungen der Rahmenbedingungen erfolgreich durch die Landesarbeitsgemeinschaft Flüchtlingssozialarbeit/​Migrationssozialarbeit (FSA/MSA) vorangebracht zu werden.
Marianne Sand, Marion Gemende und Margit Lehr thematisieren mit „Die zwiespältige Debatte um fachliche Standards in der Flüchtlingssozialarbeit“ (S. 98–114) eine grundsätzliche Sehnsucht von Sozialarbeitenden, insbesondere aber von Fachkräften der Flüchtlingssozialarbeit und auftraggebenden Öffentlichen Trägern nach Handlungssicherheit. Die Autorinnen heben unter Bezugnahme auf Hansen (2010) hervor, dass Standards „keine Eindeutigkeits- und Endgültigkeitsanspruch haben können und damit Ambivalenz und Unsicherheit quasi fachlich legitimiert sind“ (S. 100). Dies bestätigen auch die hier präsentierten Ergebnisse einer Befragung von Fachkräften in Sachsen, wenngleich unklar bleibt, ob eine fehlende gemeinsame (und transparente) Einigung auf Qualitätsentwicklung nicht auch der Konkurrenz um Förderungen geschuldet ist (vgl. S. 110). Der Beitrag endet mit einem Strukturierungsvorschlag zur fachlichen Diskussion von Standards in der Flüchtlingssozialarbeit, der letztlich einen Versuch der Ausbalancierung unterschiedlicher Erwartungen und fachlicher Prämissen darstellt.
Der Text „Beratung für Geflüchtete zwischen Kommstruktur und aufsuchender Arbeit“ von Christiane Körner, Holger Simmat und Janett Schönfuß (S. 115–124) basiert auf Inputvorträgen vor der Coronapandemie und geht davon aus, dass sich sukzessive wieder Verhältnisse einstellen, in denen die genannten Ansätze wieder frei von Restriktionen fachlich begründet ausgelotet werden können. Christiane Körner und Holger Simmat haben im Rahmen ihrer Tätigkeit in einem Beratungszentrum des Caritasverbandes für Dresden e.V./Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge ein Prinzip entwickelt, das nach einem aufsuchenden Erstkonktakt Sprechstundentermine im Beratungszentrum anbietet. Im Einzelfall bieten sie auch weitere aufsuchende Angebote an. Janett Schönfuß teilt Erfahrungen aus der aufsuchenden Integrationsarbeit der Johanniter-Unfall-Hilfe und berät geflüchtete Menschen in ihren Wohnungen. Auch sie wägt Vor- und Nachteile ab. Letztlich plädieren alle Autor*innen für „inkonsequente“ Komm- bzw. Gehstrukturen (vgl. S. 116; vgl. auch S. 123).
Matthias Resche ist Leiter des Sachgebiets Asyl im Sozialamt des Landkreises Zwickau und hat hier maßgeblich die Integrationsberatungsstellen aufgebaut (vgl. S. 12). Entsprechend finden sich in seinem Beitrag „Integrationsberatungsstellen im Landkreis Zwickau in Sachsen als denkbare Zukunft in der kommunalen Migrationsberatung“ (S. 125–135) eine Auswertung seiner Erfahrungen sowie weiterführende Empfehlungen, die vor allem auf Nachhaltigkeit in Form gesetzlicher Grundlagen fokussieren und Integrations- wie Flüchtlingssozialarbeit als Querschnittsaufgabe umsetzbar macht (vgl. S. 135).
„Konturen eines (nicht ganz neuen) Handlungsfelds. Empirische Annäherung an die Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen in Sachsen 2017 und 2020“ von Bernhard Wagner (S. 136–170) dokumentiert die Ergebnisse von zwei standardisierten, aber explorativ angelegten landesweiten (Online-)Befragungen, die im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung durch die Evangelischen Hochschule Dresden erfolgt sind. Die zweite Befragung entspricht einer so genannten Wiederholungsbefragung. Es zeigt sich u.a., dass ein leichter Trend zur Professionalisierung zu verzeichnen ist (vgl. S. 144ff), Rufe nach Standards leiser werden (vgl. S. 150ff) und Diskriminierung und Rassismus im Vergleich zunehmen (vgl. S. 162ff). Anhand der Daten wird deutlich, dass Mitarbeitende zum Teil Angst haben zur Arbeit zu gehen und geflüchtete Menschen potentiell von Anfeindungen und Übergriffen bedroht sind. Entsprechend lautet sein Abschluss: „Die vielbeschworene Willkommenskultur sieht anders aus – vielleicht kann die Soziale Arbeit im Handlungsfeld Flucht künftig noch mehr dazu beitragen, dass sich hier langfristig Menschlichkeit und Solidarität anstelle von Ablehnung und Rassismus breitmachen“ (S. 168).
Magdalena Engel präsentiert unter dem Titel „Die Blackbox Erstaufnahmeeinrichtung. Möglichkeiten und Grenzen einer menschenrechtsorientierten Geflüchtetensozialarbeit“ (S. 171–187) erste Ergebnisse ihrer Masterarbeitsforschung, für die sie Handlungsorientierungen und -strategien von Mitarbeitenden aus sächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen untersucht. Es wird deutlich, dass sich hier die desolaten Lebensbedingungen und Missstände, die bereits für andere Sammelunterkünfte erfasst wurden, nochmals zuspitzen (vgl. Kap. 2). Die befragten Mitarbeitenden reagieren auf mandatswidrige Anforderungen u.a. mit verborgenen Widerstandspraktiken, verlagern ihr Engagement allerdings auch in den privaten Bereich (vgl. Kap. 3). Entlang des menschenrechtlichen Orientierungs- und Referenzrahmens der Sozialen Arbeit führt die Autorin mögliche fachkollektive Handlungsstrategien aus und endet ihren Beitrag mit einem Aufruf, dass die Taktiken und Praktiken des dringend erforderlichen Wandels nicht individuellen Akteur*innen obliegen darf (vgl. S. 185).
Die Ausführungen zu „Geflüchtete in ländlichen Räumen Sachsens. Befragungen zu ihrer Lebenssituation und ihrer Wahrnehmung von Flüchtlingssozial- und Integrationsarbeit“ von Marianne Sand, Claudia Jerzak, Margit Lehr, Bernhard Wagner und Marion Gemende (S. 188–216) stellen ebenfalls die Präsentation von Forschungsergebnissen dar. In diesem Fall handelt es sich um explorative Leitfadeninterviews, die im Oktober 2018 und Mai 2019 mit 21 geflüchteten Personen in verschiedenen Landkreisen Sachsens durchgeführt wurden. Der Text fokussiert auf die Aspekte des Ankommens und die in dieser Phase als unterstützend oder erschwerend wahrgenommenen Faktoren (vgl. S. 188) und stellt dieses detailliert dar. Neben all dem, was gut oder schlecht empfunden und erlebt wurde, wünscht sich die Mehrheit der Befragten zukünftig ein „ruhiges Leben in Selbstbestimmung“ (S. 214).
Marion Gemende stellt im Beitrag„Mehr als Begegnung ermöglichen. Zur Rolle von Offenen Treffs als Orte sozialer Integration“ (S. 217–232) eine Untersuchung zu Nutzer*innenverhalten sowie Kooperationen zwischen Offenen Treffs und Angeboten der Flüchtlingssozialarbeit vor, die an fünf Offenen Treffs in zwei großstädtischen Stadtteilen und drei mittelgroßen bzw. Kleinstädten in Sachsen durchgeführt wurde. Insgesamt wurden sieben Fachkräfte und 17 geflüchtete Männer und Frauen befragt und eine Gruppendiskussion organisiert (vgl. S. 219). Die Bedeutung der Offenen Treffs aus Sicht der Zielgruppe(n) zeigt sich hierbei u.a. in Dimensionen des sozialen Miteinanders, der Unterstützung sowie der Hoffnung auf Wertschätzung und Gleichbehandlung. Es wird insgesamt deutlich, dass Soziale Arbeit in den Treffs und gelingende Integrationsarbeit von sichernden Rahmenbedingungen abhängen, aber mit den Worten einer befragten Nutzerin auch Rassismus bekämpft werden muss, damit sich potentiell adressierte Personen wohl fühlen können (vgl. S. 228/229).
„Die Landesarbeitsgemeinschaft Flüchtlingssozialarbeit/​Migrationssozialarbeit in Sachsen als fachliche Organisation des Handlungsfeldes in Entwicklung“ von Claudia Jerzak und Holger Simmat (S. 233–248) dokumentiert die Etablierung einer Landesarbeitsgemeinschaft (LAG), die als Gestaltungswunsch und -auftrag aus den Austauschprozessen im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen hervorgegangen ist. Mittlerweile besitzt die LAG als Selbstvertretung der Fachkräfte Anerkennung und Handlungswirksamkeit und steht im fachlichen Austausch mit dem Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es ist u.a. gelungen, qualitativ Einfluss auf die Sächsische Kommunalpauschalverordnung und dem Sächsischen Integrations- und Teilhabegesetz zu nehmen (vgl. S. 237). Im Beitrag werden Erfolge wie Fallstricke reflektiert und abschließend aktuelle Themen benannt (u.a. AG Umgang mit Abschiebungen). Im Anhang finden sich die ausgearbeiteten Fachstandards aus dem Jahr 2020.
Im Aufsatz „Rechtsberatung in der Flüchtlingssozialarbeit“ von Simone Jansen (S. 249–267) findet sich eine juristische Auseinandersetzung mit den rechtsberaterischen Zuständigkeiten der Flüchtlingssozialarbeit. Konkret geht es um die „Beantwortung juristischer Fragen im Einklang mit dem Rechtsdienstleistungsgesetz“ sowie um die Frage in wie fern „ein Ausschluss der rechtlichen Beratung in Zuwendungsrichtlinien als nicht zuwendungsfähiges Vorhaben mit höherrangigem Recht vereinbar ist“ (S. 249). Die Autorin kommt zu folgendem Schluss: „Ein expliziter Ausschluss von einer staatlichen Zuwendung dieser nach Rechtsdienstleistungsgesetz erlaubten Tätigkeit – abhängig vom Einzelfall – widerspricht insbesondere der über Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit; eine verfassungskonforme Neufassung und bis dahin Anwendung erscheint vor diesem Hintergrund unausweichlich“ (S. 265).
Das Buch endet mit einem „Blick über den Tellerrand. Flüchtlingssozialarbeit in anderen Bundesländern“ von Dorit Starke (S. 268–282). Die Autorin nimmt, ausgehend vom föderalen System und den dadurch entstehenden uneinheitlichen Regelungen für die Flüchtlingssozialarbeit in den einzelnen Bundesländern, den Versuch vor, gesetzliche Verankerungen der Flüchtlingssozialarbeit zu identifizieren und wesentliche Merkmale der Flüchtlingssozialarbeit in anderen Bundesländern zu bestimmen. Auch hierbei handelte es sich um einen zentralen Forschungsauftrag aus dem wissenschaftlichen Begleitprojekt. Die Erhebung fand zwischen 2019 und 2021 statt (vgl. S. 268). Entsprechende Angebote finden in den unterschiedlichen Bundesländern unterschiedliche Bezeichnungen, auch die gesetzliche Festschreibung ist unterschiedlich geregelt. Eine entsprechende Übersicht findet sich auf S. 272. Resümierend kommt die Autorin zu dem Schluss, dass die Flüchtlingssozialarbeit bundeslandabhängig jeweils unterschiedliche Empfehlungen, Kompetenzprofile, Richtlinien, Positionspapiere, Gesetze und Verordnungen entwickelt haben und bereithalten. Das darin liegende durchaus innovative Potenzial könne im Austausch erheblich dazu beitragen bestehende Regelungen und Angebote weiterzuentwickeln und ggf. auch dazu dienen längerfristig einheitlichere Begriffe und Konzepte festzuschreiben (vgl. S. 279/280).
Diskussion
Der Titel „Flüchtlingssozialarbeit in Bewegung“ beschreibt treffend die Dynamik in der Weiterentwicklung des Handlungsfeldes in Sachsen, die auch jeweils in den einzelnen Beiträgen seit der Projektstartphase 2016 deutlich wird. Es zeigt sich, dass die Forschungsgruppen Zugang zu vielfältigen Ebenen und Strukturen der regionalen Flüchtlingssozialarbeit hatten und haben und den durchaus anspruchsvollen Spagat zwischen wissenschaftlicher Begleitung und gestalterischem (Ein-)Wirken auch produktiv im Sinne einer Verbesserung von Austausch und Kooperationen nutzen konnten. Bestes Beispiel scheint mir dafür die ins Leben gerufene Landesarbeitsgemeinschaft Flüchtlingssozialarbeit/​Migrationssozialarbeit zu sein, die mit der Etablierung von Standards sowie der Einmischung in gesetzliche Vorgaben an der Verbesserung von Bedingungen und der Anerkennung fachlicher Prämissen mitwirkt.
Sicherlich finden sich in dem vorliegenden Band auf den ersten Blick vor allem Beiträge, die den erhobenen regionalen Ist-Zustand abbilden und dadurch auch vor allem regionales Interesse wecken. Auf den zweiten Blick zeigt sich aber auch, dass die Forschungsgruppe eben mehr getan hat, als sich mit lokalen Strukturen auseinanderzusetzen. Grundsätzliche Entwicklungen der Flüchtlingssozialarbeit, ihren fachlichen (Un-)Sichtbarkeiten und notwendigen wie längst überfälligen fachlichen Kämpfen werden ebenso thematisiert wie (gesellschafts-)politische Herausforderungen und nicht zu akzeptierende diskriminierende Zustände. Gleichsam finden sich Einladungen in den Austausch zu gehen und Kooperationen auch über die Bundeslandgrenzen hinweg zu suchen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu reflektieren. Diese Einladungen lassen sich innerhalb der Profession der Sozialen Arbeit nutzen, um gemeinsam über (neue) Begriffe und Bezeichnungen für Handlungsfeld und Zielgruppe(n) nachzudenken und die Mandate und Arbeitsplätze der in diesen Feldern tätigen Menschen zu stärken und nachhaltig zu sichern. Sie lassen sich aber auch als gesamtgesellschaftliche Anfrage verstehen, die desolaten Lebensbedingungen und unzureichende Versorgung und Unterstützung vieler geflüchteter Menschen zu skandalisieren und bundeweit für eine Verbesserung einzutreten.
Fazit
Laut den Herausgeber*innen richtet sich das Buch vor allem an Studierende und Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die sich einen Überblick über das Handlungsfeld verschaffen wollen bzw. die eigene Handlungspraxis anhand des Wissens und der Erfahrung des Projekts reflektieren möchten (vgl. Vorwort, S. 8). Tatsächlich kann ich mich dieser Ausrichtung anschließen. Wem es gelingt, die Angst vor der vermeintlichen Beschränkung durch die regionalen Bezüge abzulegen, findet in der Mehrheit der Artikel wichtige Impulse und professionsethische Reflexionsanlässe für die Arbeit in den unterschiedlichen Feldern der Sozialen Arbeit mit geflüchteten Menschen.
Rezension von
Prof. Dr. Antje Krueger
Professorin für „Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft“ und „Internationale Soziale Arbeit“ an der Hochschule Bremen.
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