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Steve Ayan: Was man noch sagen darf

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Andreas Hillert, 29.12.2023

Cover Steve Ayan: Was man noch sagen darf ISBN 978-3-8497-0453-7

Steve Ayan: Was man noch sagen darf. Die neue Lust am Tabu. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2022. 90 Seiten. ISBN 978-3-8497-0453-7. D: 12,50 EUR, A: 12,90 EUR.
Reihe: Update Gesellschaft.

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Thema

Einerseits ist unsere Gesellschaft derart demokratisch und liberal, dass eigentlich alles und von jedem gesagt werden kann. Andererseits gab es immer – und aktuell mutmaßlich zunehmend – teils unsichtbare, teils mitunter auch beton-harte Mauern, die diesbezügliche Freiheitsgrade spürbar limitieren: Tabus. Themen, Struktur, Dynamik und Hintergründe entsprechender Tabu-Phänomene im Kontext aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen werden vom Autoren Steven Ayan aufgezeigt und in ihrer Vielschichtigkeit und Doppelbödigkeit erörtert.

Entstehungshintergrund

Unsere gesellschaftsimmanente postmoderne Beliebigkeit strukturiert sich durch im- und explizite Tabu-Setzungen, die einerseits Orientierung geben und andererseits Ausgrenzungen zur Folge haben. Ideale wie die Freiheit von Tabus und Vorurteilen dominieren die öffentliche Diskussion, etwa im Sinne dessen, dass es gilt psychische Erkrankungen zu enttabuisieren. Vorurteilsfreiheit – etwa die Erwartung, dass man (wem auch immer) … vorurteilsfrei gegenübertreten solle/müsse – ist psychologisch gesehen unmöglich und wird damit letztlich zu einer Frage von Moral und sozialer Positionierung. Angesichts zahlreicher gesellschaftlich-polarisierender Themen dieser Art, vom Gendern über die Klimakrise bis zum Ukraine-Krieg, lag ein diese Thematik offensiv aufgreifendes Essai geradezu in der Luft.

Autor

Steve Ayan, geboren 1971, ist Psychologe (Schwerpunkte u.a. Neuropsychologie und Bewusstseinsforschung), Autor und Redakteur der Zeitschrift Gehirn & Geist. Er verfasste an ein breites Publikum gerichtete, gleichwohl wissenschaftlich gut fundierte Bücher, u.a. „Lockerlassen. Warum weniger Denken mehr bringt“, Klett-Cotta 2. Aufl. 2016 und »Ich und andere Irrtümer« Klett-Cotta, 2019.

Aufbau und Inhalt

In elf jeweils nur wenige Seiten langen, gleichwohl starken Kapiteln wird zunächst das Tabu-Phänomen von den polynesischen Wurzeln bis in die psychologischen Ab- und Hintergründe hinein ausgeleuchtet. „Es geht dabei nicht um Wahrheit… sondern um Loyalität“. Worauf sich Tabus inhaltlich beziehen, ist entsprechend weniger wichtig als ihre Gruppen-Dynamik kanalisierende, wir- und darüber hinaus Überlegenheitsgefühle generierende Potenz. „Dabei sein ist alles“ und, besonders aktuell „Krieg der Sternchen“ lauten diesbezügliche vielsagende Kapitelüberschriften. In letzterem werden sprachtheoretische bis sozialgeschichtliche Hintergründe ausgelotet, was hier, wie in allen anderen zentralen Fragen des Tabu-Themas, letztlich unentschieden ausgeht. Es gibt was, was dafür spricht, aber irgendwie auch viel, was dagegen spricht, weshalb ein entspannter Umgang damit wichtig und richtig wäre. Was aber in der Praxis mitunter selbst in noch so akademischen Kreisen:Innen bzw. gerade dort oftmals jenseits der Möglichkeiten liegt. Tabu-Formationen werden dann, zumindest in umschriebenen Kontexten, zu Macht-Formationen. Etwa, wenn nicht-gegenderte Bachelor-Arbeiten nicht angenommen (zumindest) wurden. „Jedes Grüppchen kocht sein Süppchen auf dem wärmenden Herd der Tabus.“ Steven Ayan lotet im Kapitel „Von der Verletzlichkeit“ weitere Hintergründe des Phänomens aus: die aktuell grassierende Fragilität der Psyche. Die Selbstzuschreibung einer Opferrolle respektive die Zuweisung der Täterrolle an die jeweils anderen stabilisiert im postmodernen Individualismus-Strudel haltlos gewordene Betroffene. Sie hat zudem immanente strategische Vorteile: „Opfer haben immer Recht“. Dass Vorurteile seit unserer Säbelzahntiger-Vergangenheit überlebenswichtig waren, weiterhin und de facto in unseren Hirnstrukturen angelegt sind, wird vom Psychologen-Autoren mit wenigen prägnanten Zitaten dargelegt. Daran anschließend wird argumentativ zwingend dargelegt, dass keine sich als Minderheit erlebende Gruppe ihr Seelenheil davon abhängig machen sollte, stets von anderen hinreichend sensibel und unterstützend wahrgenommen und in ihrer Identität bestärkt zu werden. Vor allem auch im digitalen Raum feiern Tabus Triumphe. Das Medium zwingt Personen geradezu zu Polarisierung, was dann vorzugsweise in „Shitstorms“ endet. Dass im Netz ein Austausch von komplex-widersprüchlichen Menschen (die wir alle sind) zu Mensch praktisch unmöglich ist und das Medium gewissermaßen auf Polarisierung hin angelegt ist, könnte als Medienkritik gelesen werden. Wobei der Autor angesichts der kommerziellen Eigendynamik der digitalen Welt viel zu realistisch ist, um diesbezüglich irgendwelche Hoffnungen aufkeimen zu lassen. Gönnen wir also jedem Menschen, sich dank Tabus im wohligen Gefühl eigener Tugendhaftigkeit zu sonnen. Zum Beispiel durch richtiges, ethisch-moralische Integrität demonstrierendes Gendern! Einerseits, im Sinne des Autors, durchaus. Schließlich ist die Welt komplex und uneindeutig genug. Alles hat ein für und wider, was zu reflektieren mühsam ist und Orientierung zu einem mühsamen Geschäft machen würde (z.B. „Es gibt Rassisten – und Migration birgt Risiken“), wenn einem da eben nicht Tabus die Positionierungsarbeit abnehmen würden. Also: einerseits gönnen wir uns und unseren frei flottierenden Mitmensch:Innen eine stabilisierende Dosis von Schwarz-Weiß-Denken. Andererseits sollte man natürlich nicht „jeden Unfug mitmachen“ und mutig dazu stehen, dass Simplifizierungen unangemessen sind. Idealerweise könnte und sollte man darauf mit Humor zu reagieren.

Diskussion

Was bleibt angesichts so viel inhaltlich wie rhetorisch zwingenden Darlegungen noch zu schreiben? Dass es den Rezensenten in den Fingern juckt, noch mehr der prägnant formulierten Aussagen zu zitieren? Wenn alle Tabu-Themen-Debatten auf dem intellektuellen Niveau von Steven Ayan geführt würden, dann hätten wir die damit einhergehenden Probleme nicht. Die individuelle und damit demokratische Freiheiten limitierende Gefahr von Tabus resultiert daraus, wenn diese Themen systemisch werden. Etwa, wie bereits erwähnt, Arbeiten von nicht-gendernden Studierenden entweder nicht angenommen oder herunter-gepunktet werden. Soll oder muss man geradezu als in abhängiger Studierenden-Position Befindliche:r einfach mitspielen? Viele tun es, um sich Ärger zu ersparen. Was eine durchaus kluge Entscheidung sein kann, die dazu führt, dass den betreffenden Tabus vermeintlich der Rücken gestärkt wird, womit sie ihren polynesischen Vorgängern immer ähnlicher werden, bis hin zum (zumindest) sozialen Tod der sie Brechenden. Übrigens sind nicht alle Student:Innen Studierende, manche sind nur eingeschrieben. Pardon, sollte man solche wunden Punkte nicht lieber auf sich beruhen lassen, um nicht in Verdacht von … zu geraten? Genau darum geht es. Steven Ayan gelingen Wendungen dieser Art in Vollendung!

In welcher Dimension wäre eine Lösung der dysfunktionalen Aspekte der Tabu-Dynamik vorstellbar? Um unserer immer komplexeren Welt gerecht zu werden, braucht es Bildung und aktives Wissen. Wie das aussehen kann, expliziert Steven Ayans Essay in bewundernswerter Weise. Sich solches Wissen anzueignen ist mühsam, es kostet Zeit, mitunter Überwindung und Übung, was z.B. den sowieso schon orientierungslos-gestressten Schülern bzw. Burnout-Kids (zumal nach Corona) immer weniger zugemutet wird. Tabus funktionieren immer. Aber absehbar umso besser, je ungebildeter eine Gesellschaft ist. Insofern muss leider davon ausgegangen werden, dass das von Steven Ayan souverän in seinem Facettenreichtum aufgezeigte Tabu-Thema noch lange aktuell bleiben wird. Uns bleibt zu hoffen, dass wenigstens dieses eine Mal in der Geschichte der Menschheit ein kluger Appell an die individuelle Vernunft entsprechende Wirkung zeigt! „Was man noch sagen darf“ von Steven Ayan und alle, die es lesen, hätten einen solchen meta-historischen Erfolg verdient.

Fazit

Das Essay bzw. Büchlein, ganze 90 Seiten stark, hat das Potenzial eines Lexikons und den Charme eines anregenden Gesprächs. Inhaltsreich, informativ, stringent, mitunter geradezu genial-frech geschrieben, was die Weisheit des jugendlich anmutenden Autoren (trotz aller seiner vorsichtig genug angedeuteten Tabubrüche) kollegial rüberkommen lässt. Unbedingt lesenswert.

Rezension von
Prof. Dr. Dr. Andreas Hillert
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Es gibt 2 Rezensionen von Andreas Hillert.

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Zitiervorschlag
Andreas Hillert. Rezension vom 29.12.2023 zu: Steve Ayan: Was man noch sagen darf. Die neue Lust am Tabu. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2022. ISBN 978-3-8497-0453-7. Reihe: Update Gesellschaft. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29891.php, Datum des Zugriffs 10.11.2024.


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