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Luisa Neubauer, Dagmar Reemtsma: Gegen die Ohnmacht

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 02.11.2023

Cover Luisa Neubauer, Dagmar Reemtsma: Gegen die Ohnmacht ISBN 978-3-608-50163-6

Luisa Neubauer, Dagmar Reemtsma: Gegen die Ohnmacht. Meine Großmutter, die Politik und ich. Tropen Verlag (Berlin) 2022. 240 Seiten. ISBN 978-3-608-50163-6. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.

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Autorin

Gegen Passivität und Vergesslichkeit – für Menschheits- und Weltsorge

Die junge, 1996 in Hamburg geborene Klima-, Umweltaktivistin und Studentin Luisa Neubauer und ihre Großmutter, die 1933 geborene Aktivistin Dagmar Reemtsma, sind ein Team! Ihre Aktivitäten, ihr sozialer Mut und ihr Eintreten für eine bessere, gerechtere, lebenswerte und menschenwürdige Welt sind ein Zeichen dafür, dass Menschheits- und Weltrettung Aufgaben und Herausforderungen für junge und alte Individuen sind. Mit ihrem Engagement sind sie Beispiele und Nachahmer. Sie sind ein Beweis dafür, dass es möglich ist, aktiv zu sein, für Menschenrechte einzutreten und soziale Bewegungen zu befördern. Die junge Frau, Luisa, tritt hervor bei den überwiegend von jungen Menschen initiierten, öffentlichen und gesellschaftspolitischen Aktivitäten. Sie ist Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen und Mitinitiatorin der Bewegung „Fridays for Future“. Ihr großes Vorbild, ihre Großmutter Dagmar, engagiert sich weiterhin u.a. bei der Hamburger Umweltgruppe Elbvororte. Die beiden Aktiven, die Junge und die Alte, legen ein Buch vor, in dem sie, direkt und authentisch, sich erinnernd und vorausschauend, ihr empathisches Zusammensein, ihre Erlebnisse, Erfahrungen, Erfolge und Scheitern, und vor allem ihre Fähigkeit, zuversichtlich zu sein, positiv zu denken und mutig zu handeln, erzählen. Es ist ein Teil des autobiographischen Denkens und Schreibens, das oft Pflöcke in den gesellschaftlichen Diskurs setzt und Marker für eigene Aktivitäten zeigt. Es ist ein Exempel dafür, dem traditionalistischen Denken – „Da kann man nichts machen!“, „Das haben wir noch nie/schon immer so gemacht!“, „Da könnt‘ ja jeder kommen!“ – die Alternative zur Veränderung, zum Guten, entgegenzusetzen. Es sind die Anforderungen zum Perspektivenwechsel, wie ihn z.B. 1995 die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ als Appell zum Ausdruck bringt: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Und es sind Herausforderungen und Mutmacher, sich damit auseinanderzusetzen: „Wer bin ich?“ und „Wie bin ich geworden, was ich bin?“ (siehe dazu auch: Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/​29229.php).

Aufbau und Inhalt

Die gemeinsame Erzählung beginnt mit dem Prolog, indem die Autorinnen zum Ausdruck bringen, dass sie bei ihren Betrachtungen von sich und Welt natürlich nicht alle Antworten kennen. Doch sie sind davon überzeugt, dass es – für sie und alle Menschen – ein Bewusstsein darüber geben muss, dass jeder Einzelne aufgefordert und in der Lage ist, sein Sosein, sein Denken und Handeln zu ändern, und zwar jetzt und direkt. Die Frage: „wo und wie soll man dabei beginnen?“, beantworten sie einfach und logisch: Bei sich selbst! Die einzelnen Denk- und Diskussionspunkte titeln sie mit Schlagworten, die gleichzeitig Wirklichkeiten, Erlebnisse und Erfahrungen verdeutlichen: „Jeden Freitag“ nämlich besuchte Luisa ihre Großmutter nach der Schule in ihrem Haus in der Hamburger Elbchaussee. Ihr Bekenntnis, „bei ihr habe ich das Reden gelernt“, zeigt auf, dass die Junge und die Alte bei ihrem regelmäßigen Zusammensein über Gott und die Welt, über Sich und Andere, über Nachbarschaft und Politik… gesprochen, sich ausgetauscht haben, zu gemeinsamen Einschätzungen gekommen sind, aber auch über kontroverse Meinungen stritten. Luisa reflektiert, dass Übereinstimmung und unterschiedliche Auffassungen vielleicht die Würze ihrer empathischen Gefühle zueinander sind: „Meine Großmutter geht… kategorisch von gutwilligen Menschen mit einem Mangel an Informationen aus, ich hingegen sehe zuerst mangelnden Willen trotz besseren Wissens“.

Mit „Aufwachen“ beschreibt Luisa, dass in ihrer Familie immer jemand war, der/die mit der Kamera in der Hand, familiale Szenen aufnahm und sie bei Familienzusammenkünften vorführte. Auch Dagmar war eine Filmerin und Fotografin. Ihre Erlebnisse in Ostpreußen und später in Hamburg sind bis heute Erinnerungsbilder für sie und ihre Familie. Dass dabei ihre Großmutter den größeren Erinnerungs- und Vorbildcharakter einnimmt als ihre Mutter, ist möglicherweise eine Frage wert!

Erinnern“ ist eine menschliche Eigenschaft. Es entsteht durch intellektuelles Bemühen, und nicht selten durch Aktivitäten durch Angehörige, Freundeskreis, Literatur… Zum achtzigsten Geburtstag der Großmutter besuchte die Familie die Orte, von denen sie herkamen: Gdanzk/​Danzig in Polen… Das Konzentrationslager Stutthof, in dem ihr Urgroßvater von den Nazis umgebracht wurde. Die Auseinandersetzungen mit dem deutschen Faschismus nach dem Zweiten Weltkrieg waren für die jungen Überlebenden verhalten und eher zurückhaltend.

Ostfronten“, was für ein vergangener (und gegenwärtiger) Begriff. Warum ist es so schwer, und in Luisas Familie ebenso, dass diejenigen, die Krieg erlebt und erlitten haben, darüber zu reden? Und ernsthaft und konsequent darüber nachzudenken, dass ein Krieg ohne Waffen nicht möglich ist? Dass die Waffenproduktion und der Verkauf Kriege schaffen? Die selbstgemachten Flyer und Transparente der Großmutter bei den Friedensdemos: „Frieden durch Sonnenenergie statt Kriege um Öl“.

Rauchen“ als persönliches „Namens“-Signal: Reemtsma, die Zigarettenmarke. Die historische Nachschau, welche Einstellungen und Aktivitäten die Familienfirma während der Nazizeit hatte. Die Fundsachen, dass der Reemtsma-Konzern Millionensummen für die nationalsozialistische Politik ausgab und immer reicher wurde, ein No-Speak: „Dieses Schweigen überall“. Auch Dagmars Schweigen darüber, welche Schuld ihr Schwiegervater Alwin Reemtsma auf sich geladen hat. Für die Enkelin Luisa eine unfassbare Erinnerungslast. Genügt es, was bleibt? Der Schmuck, die Nähmaschine…

Empören“; vielleicht ist das, was bleibt in der Familie! Ihre Großmutter habe sich mit vielen Menschen zweimal entzweit: „Das erste Mal, als die Leute die Schrecken der NS-Herrschaft zu schnell vergessen wollten. Und dann noch einmal, als sie die ökologischen Katastrophen nicht wahrhaben wollten“. Es sind die alltäglichen Allgegenwärtigkeiten und Normalitäten, die in der Spannweite von Werten und Wirklichkeiten, von Gewissen und Gewohnheit liegen. Luisas Sichtung von Briefen, die die Großmutter als junges Mädchen an ihre Eltern schrieb; die Erzählungen ihrer Mutter vom Wirtschaftswunderland. Aber auch die Warnungen des Club of Rome (1972), dass die Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums erreicht seien. Die Fragen, ob es um das „Haben“ oder um das „Sein“ gehe (Erich Fromm)… Dann die Begegnungen und Aktivitäten, die die Jungen und Alten zusammenbrachten: „Omas gegen Rechts“ – „Fridays for Future“. Die kontroversen Auseinandersetzungen, machtvoll eingebracht von denen, die den Klimawandel als natürliches Phänomen betrachten, und entgegengesetzt von denen, die ihn als menschengemacht erkennen. Und der Blick über den nationalen, ethnischen Tellerrand hin zu anderen Welten und Lebenssituationen; etwa zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Näherinnen in Bangladesch.

Verlieren“. Die Erinnerung Luisas an ihren Vater zeigen sich eher im Schleier und Nebel denn im Fernglas. Doch er strahlte für die Tochter Sicherheit und Geborgenheit aus. Er, der Soziologe und Wissenschaftler, zeigte nur selten seine emotionale Seite; und erst in der Zeit seines nahenden Sterbens und Todes: „Krebs ist ein Arschloch!“.

Verbrauchen“. Sind es die in den Geschäften aufgetürmten Schokoladenweihnachtsmänner, die bereits kurz nach Ostern die Konsumlaune der Menschen anturnen? Sind es die Einstellungen: „Ich will alles, und das sofort!“ und „Ich kann alles allein!“, die „Maßhalten“ und „Verzicht“ uncool erscheinen lassen?

Privilegien“. Luisas Großmutter meldete sich sofort an der Volkshochschule zum Kurs an, als die Computer einen festen Stell- und Sitzplatz im Wohnzimmer beanspruchten. Sie nennt den Apparat „Er“, und sie schimpft mit ihm, wenn er nicht sofort das macht, was sie will. Sie wird ungeduldig und verzweifelt; kommt aber auch nicht los von dem Ding. Da ist es gut, dass die jungen Menschen die Handgriffe beherrschen und „ihn“ zur Raison bringen. Es sind die seltsamen Vorwürfe an diejenigen, die mit den neuen Technologien umgehen können und als „Privilegierte“ bezeichnet werden. Denn das ist privilegiertes Wissen zu erkennen, dass Menschen-, Welt- und kosmisches Wissen zum aktiven Widerstand gegen Weltzerstörung eingesetzt werden kann.

Regenerieren“ – Als 1995 die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung mit dem Brundtland-Bericht darauf hinwies, dass das „business as usual“ und „throughput growth“ beendet werden müssten und „sustainable development“ angesagt sei, da waren es noch wenige, die diese Analyse wahr nahmen. Heute sind es mehr Menschen, aber es sind nicht genug!

Mit der Aufforderung und Herausforderung – „Gegen die Ohnmacht“ – beschließen die Autorinnen ihre aktuelle Bestandsaufnahme. Es sind die Tugenden der Kritik an welt- und menschenschädlichen Entwicklungen, die von Aktivistinnen und Aktivisten artikuliert werden, in Leserbriefen, in Protesten und Demonstrationen. Denn Widerstand ist machbar und nützlich! Widerstand und kritische Einstellung brauchen auch die Fähigkeit zur Geduld und zum Optimismus, auch wenn uns (scheinbar) die Zeit davonrennt, die noch bleibt, eine menschenwürdige Welt mitzugestalten!

Diskussion

Der Göttingen Steidl-Verlag legt das Buch eines anderen Großvaters vor, in dem der „Weltmensch“ Michael Otto für sein Prinzip eines „atmendes Unternehmens“ zu seinem 80jährigen Geburtstag geehrt wird. Seine Prinzipien – Soziale Verantwortung, Kooperation, Hilfe zur Selbsthilfe, kalkulatorisches Risiko, Diversifikation, Dezentralisierung, Fehlertoleranz, Partnerschaft, Neugier, Kundenorientierung … (Michael Otto, Hg., Das Michael Otto Prinzip, 2023, 400 S.) – sind Parallelen zu Luisa Neubauers und Dagmar Reemtsmas Zwischenruf. Sie lassen sich verbinden und werden so zu gegenwartsbezogenen und zukunftsorientierten Menschheits- und Weltorientierungen, wie wir sie brauchen für ein gutes, gelingendes Leben für alle Menschen.

Fazit

Wenn Menschen sich die Mühe machen und sich aufmachen, mit Macht gegen Ohnmacht, gegen Unmenschlichkeit und Unweltlichkeit anzutreten, ist die Welt nicht verloren!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1665 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 02.11.2023 zu: Luisa Neubauer, Dagmar Reemtsma: Gegen die Ohnmacht. Meine Großmutter, die Politik und ich. Tropen Verlag (Berlin) 2022. ISBN 978-3-608-50163-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29902.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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