Joachim Küchenhoff, Martin Teising: Sich selbst töten mit Hilfe Anderer
Rezensiert von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller, 10.11.2023

Joachim Küchenhoff, Martin Teising: Sich selbst töten mit Hilfe Anderer. Kritische Perspektiven auf den assistierten Suizid.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2022.
275 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3171-6.
D: 34,90 EUR,
A: 35,90 EUR.
Reihe: Forum Psychosozial.
Thema
In seinem Urteil vom 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den seit 2015 geltenden § 217 des StGB als verfassungswidrig aufgehoben. In diesem Paragraphen war die geschäftsmäßige, d.h. wiederholte oder auf Wiederholung angelegte Beihilfe zur Selbsttötung mit Strafe belegt worden; die Absicht, Gewinn zu erzielen, war zur Erfüllung des Tatbestands nicht notwendig. Das BVerfG hat sich in den Leitsätzen auf das Selbstbestimmungsrecht bezogen, das neben dem Gleichheitssatz die nächste Konkretisierung der Menschenwürde ist. Selbstbestimmung schließe selbstbestimmtes Sterben und dieses die Freiheit der Selbsttötung ein. Der Staat dürfe die Freiheit nicht dadurch einschränken, dass er die Möglichkeit, Hilfe in Anspruch zu nehmen, faktisch verbaut. – Über die durch das Urteil notwendige Neuregelung der Suizidbeihilfe wurde am 6. Juli dieses Jahres im Bundestag abgestimmt, wobei zwei Anträge zur Entscheidung standen. Nach dem einen sollte die Assistenz unter bestimmten Bedingungen straffrei sein, im Prinzip aber strafbar bleiben. Ein alternativer Antrag sah generelle Straffreiheit, aber im Regelfall eine Beratungspflicht vor. Beide Anträge fanden nicht die erforderliche Mehrheit, sodass die parlamentarische wie die Debatte in den Medien weiter gehen wird. In diese Debatte will die vorliegende Aufsatzsammlung eingreifen. Sie versammelt 14 Beträge von 19 AutorInnen, die überwiegend in psychologischen, speziell in psychoanalytischen, und medizinisch-psychiatrischen Berufen tätig sind. Ihre Haltung zur Straffreiheit des assistierten Suizids ist mehrheitlich restriktiv oder ablehnend.
Herausgeber
Joachim Küchenhoff ist emeritierter Professor für Psychiatrie an der Universität Basel und arbeitet als Psychoanalytiker in freier Praxis. Dr. phil. Martin Teising ist Psychiater und Psychoanalytiker in freier Praxis. Er war Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin und im Vorstand der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Beide sind Mitverfasser des Memorandums der DPV (Deutsche Psychoanalytische Vereinigung) zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
Entstehungshintergrund
Die Debatte um den assistierten Suizid ist ein Teilthema des Komplexes „Sterbehilfe“, dessen Diskussion mit der in den Zentren der Weltgesellschaft gestiegenen Lebenserwartung und den verbesserten Mitteln der Lebenserhaltung und -verlängerung seit Mitte des vorigen Jahrhunderts an Dringlichkeit gewonnen hat. Sie steht aber auch im Kontext der Auseinandersetzung um den Sinn des politischen Liberalismus im Strafrecht. Seit der Antike gehört es zum eisernen Bestand der staatlichen Souveränität, dass der Staat das Recht hat, über Leben und Tod der ihm Unterworfenen zu bestimmen. Er übt(e) diese Souveränität aus mit der Todesstrafe, mit der Strafbarkeit der Selbsttötung (und der Hilfe zu ihr), mit dem Verbot des Schwangerschaftsabbruchs, v.a. aber mit der Entscheidung über Krieg und Frieden und damit, dass er das Leben der Individuen als Mittel seiner Selbstbehauptung und -erhaltung einsetzt. Seit Beginn der Neuzeit ringen die Vertreter des Liberalismus (wie Locke, Wilhelm von Humboldt und John St. Mill) darum, die Grenzen des Rechts zu bestimmen, das der Staat auf die ihm unterworfenen Individuen hat. Todesstrafe und das Recht zum Krieg sind dabei selten infrage gestellt worden. Immerhin hat der Menschenrechtsdiskurs, in dem die Grenzen der legitimen Wirksamkeit des Staates bestimmt werden sollen, eine eigene Dynamik entwickelt, in der die Selbstbestimmung des Individuums die zentrale Rolle spielt. Freiheit, schrieb Kant, ist das erste Menschenrecht und ihr legitimer Gebrauch ist die Substanz dessen, was man Menschenwürde nennt. Nicht der Gebrauch der Freiheit, sondern der Eingriff in sie muss eine Begründung haben, die nur darin bestehen kann, dass die Selbstbestimmung im gegebenen Fall illegitim ist. Illegitim aber ist die Selbstbestimmung, wenn sie die Rechte anderer verletzt, d.h. nach dem schönen kantschen Satz, mit der Freiheit anderer nach einem allgemeinen Gesetz nicht zusammenstimmen kann.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in vier Teile gegliedert.
Der erste Teil (Rahmenbedingungen der Diskussion) wird eröffnet mit MartinTeisings Kritik am Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020. In ihrem Zentrum steht der Vorwurf einer „einseitigen Betonung der Autonomie des Individuums“.(S. 18)-Nach Heiner Bielefeldt besitzt der Autonomiebegriff des Urteils „zu wenig ethische Substanz“. (23) Die Menschenrechte, gerade die Freiheitsrechte, stellen nach Bielefeldt auch eine Forderung an die Rechtsträger selbst dar. Gemeint ist nicht die unumstrittene Forderung, die gleichen Grundrechte auch bei Anderen zu achten, sondern: dass niemand auf seine Freiheitsrechte, inklusive des Rechts auf Leben, „irreversibel“ verzichten dürfe. Bielefeldt legt nahe, die grundrechtliche Freiheit der Selbsttötung auf Situationen unerträglichen Leidens zu restringieren. (S. 25) – Joachim Küchenhoff beschäftigt sich unter dem Titel „Unaushaltbarkeit“ mit dem Maß des Leidens. Nach einigen theoretischen Erwägungen und der Mitteilung zweier Fälle kommt er zu dem nachvollziehbaren Urteil, „dass es kein Entweder-oder, keine Schwarz-Weiß-Malerei in der Diskussion um den assistierten Suizid geben kann.“ (S. 54) – Elmar Etzersdorfer treibt die Frage um, ob im Urteil des BVerfG, aber auch in den Protesten gegen die Corona-Epidemie die „Gefahr einer Dehumanisierung“ zum Ausdruck kommt. Trotz Vorbehalten und subjektiver Formulierung (mir scheint) neigt er ohne Zweifel zu einer positiven Antwort. Beklagt wird (zum wiederholten Male) der „Primat der Selbstbestimmung über der Schutzpflicht des Staates“ (S. 62) oder der „Anspruch, über die eigene Gesundheit (…) allein und ohne Einfluss insbesondere des Staates entscheiden zu können.“ (S. 65) Mit der Diagnose des fortschreitenden (?) Egoismus wird eine objektive, im utilitaristischen Verhältnis von Warenbesitzern fundierte soziale Kategorie als ein Problem moralischen Verfalls dargestellt. – Das Memorandum der DPV schließt den vierten Teil ab. Es kritisiert am Urteil des BVerfGs, dass es die Freiheit der Selbsttötung nicht auf schwer oder unheilbar erkrankte Menschen einschränkt. (S. 74) Das Memorandum fordert für die assistierte Selbsttötung in den eingeschränkten Fällen „ausreichend Zeit in einem psychotherapeutischen/​psychoanalytischen Setting“. (S. 73) Denn die bewusste Selbstbestimmung werde durch unbewusste Prozesse beeinflusst und eingeschränkt. Allerdings erkennt das Memorandum auch: „Eine humane Haltung in der Begegnung mit suizidalen Menschen besteht nicht darin, sie unter allen Umständen daran zu hindern, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. Diese Entscheidung bleibt letztlich bei jedem einzelnen Menschen selbst.“ (S. 79)
Im zweiten Teil sind drei Aufsätze versammelt, die den assistierten Suizid in der Medizin behandeln sollen. Giovanni Maio, Professor für Ethik in der Medizin, arbeitet mit einer Reihe von Mutmaßungen und Unterstellungen. Auch er wendet sich gegen eine „Normalisierung“ der Selbsttötung und insbesondere gegen jene, die darüber nachdenken, wie man Menschen im Endstadium schwerer Erkrankungen „leichter in den Tod schicken kann.“ (92) Maio hält es für sicher, dass „viele Menschen mit der Vorstellung leben, ein gutes Leben sei nur in absoluter Unabhängigkeit von der Hilfe Dritter möglich“ (89). Er propagiert eine „echte Sorge“, die bei der „Unverwechselbarkeit des Menschen“ ansetzt (90), ohne uns zu zeigen, wie sie im Massenbetrieb der verwalteten Medizin, die zudem zwischen Privatpatienten und dem großen Rest unterscheidet, möglich sein soll. Maio plädiert für eine Anerkennung der Gebrechlichkeit und entwertet zugleich die Selbsttötung als „Selbstabwahl“. (93) – Bernhard Küchenhoff schreibt über die „Suizidbeihilfe bei psychisch Kranken“ und lehnt sie eindeutig ab. „Untersuchungen über und praktische Erfahrungen mit suizidalen Patientinnen und Patienten zeigen bei diesen oft zwei unvereinbare Ziele: der Wunsch zu sterben und der Wunsch nach einem besseren, einem anderen Leben. (…) Die therapeutische Aufgabe besteht darin den Sterbewunsch ernst zu nehmen, ohne ihn zu fördern.“ (S. 97) „In meiner eigenen, über 40-jährigen psychiatrischen Tätigkeit (…) habe ich nie einen andauernden Sterbewunsch oder den konstant aufrecht erhaltenen Wunsch nach Suizidbeihilfe vonseiten der Patientinnen und Patienten erlebt.“ (100) Vielleicht haben die PatientInnen, die dem Autor zufolge in seiner Einrichtung den Arzt frei wählen können, ihn gerade wegen seiner „klaren und eindeutigen Haltung“ (96) gewählt; offenbar gibt es so etwas wie eine „chronische Suizidalität“, auch wenn er sie nie erlebt hat. (Vgl. 127) – Der Beitrag „Suizidbeihilfe und humane Sterbekultur“ von Ruth Baumann-Hölzle, Daniel Gregorowius und Diana Meier-Allmendinger geht insbesondere auf Suizidbeihilfe in öffentlich-rechtlichen Institutionen (Gefängnissen) ein. Im Allgemeinen zeigt er ein klares Bewusstsein von den negativen Folgen des ökonomischen Handlungsparadigmas im Gesundheitswesen. Dieses Paradigma fordert Gewinnmaximierung und Kostenersparnis mit der Folge, dass gewinnbringende Therapien bevorzugt, kostenträchtige, v.a. personalintensive Leistungen wie Palliativmedizin, Pflege und psychologische Betreuung restringiert werden. (104, 113 ff) Der Aufsatz ist auch insofern bemerkenswert, als er, im Unterschied zu manchem anderen, objektiv medizinische Kriterien der Lebensqualität als Bedingung für die Zulässigkeit der Suizidbeihilfe ablehnt. Zu Recht fordern die Autorinnen und der Autor, dass zwischen dem unverlierbaren Anspruch auf die Achtung der Menschenwürde und den ggf. unwürdigen Lebensumständen unterschieden muss. Solche Lebensumstände (wie Schmerzen, Handlungsunfähigkeit und Bewusstseinstrübung) können, wie zu ergänzen ist, die Möglichkeit, menschliche Würde zu verwirklichen oder darzustellen, bis zu einem Minimum reduzieren.
Im dritten Teil geht es um die „Beziehung zwischen Suizidenten und ihren Helfern“. Paul Götze betrachtet die Psychodynamik zweier berühmter Fälle von Tötung auf Verlangen. Insbesondere das Verhältnis von Freud zu seinem Arzt Max Schnur wird von Götze sehr kritisch gesehen. Aber auch das Agieren Kafkas ist durch die, sicher aus Verzweiflung entstandene, Ausübung von großem Druck auf den jungen Freund und Bewunderer Richard Klopstock gekennzeichnet. Kritisch anzumerken ist, dass Götze die juristisch klare Unterscheidung zwischen Suizidbeihilfe (assistiertem Suizid), definiert durch die Bereitstellung notwendiger Mittel bei erhaltener Handlungssouveränität des Suizidenten (StGB § 217), und Tötung auf Verlangen (§ 216) terminologisch verwischt. (S. 142, 149, 153 f.) Schur und Klopstock waren nicht Assistierende, sondern Tötende, wenn auch Schur vielleicht nur auf indirekte Weise. – Reinhard Lindner präsentiert „Überlegungen zu Haltungen, Strategien und Techniken der Psychotherapie der Suizidalität bei Patienten mit einer zum Tode führenden Erkrankung“. (S. 159) Sie werden konkretisiert durch die Fallgeschichte einer Patientin Mitte vierzig, die an metastasierendem Krebs erkrankt war. – Andreas Krause berichtet aus seiner geriatrischen Erfahrung mit Selbsttötungsabsichten und bezieht die Interpretation thematisch einschlägiger Gedichte in seine Auffassung ein. Er meint, „dass das Ende des Lebens (…) als ein Abschnitt gedeutet werden sollte, in dessen Verlauf sich die individuelle Entwicklung »runden«, in dem sie zu einem individuellen Abschluss gelangen kann – unter der Bedingung, dass die sterbende Person jene Form der medizinisch-pflegerischen Versorgung, jene Form der psychologischen, seelsorgerischen und sozialen Unterstützung erhält, die sie in die Lage versetzt, gefasst auf das Ende zu blicken.“ (S. 180) Ohne solche Hilfe geht es nicht? Vorausgesetzt wird, dass ein Selbsttötungswunsch nicht frei sein kann, solange er nicht vom Therapeuten nachvollzogen ist. Nur mit ihm können „Menschen, die Todes- und Selbsttötungswünsche äußern (…) zumindest in Ansätzen jene innere Freiheit wiedergewinnen, die notwendig ist, um zu einem verantwortlichen Umgang mit der gegebenen Situation zu gelangen.“ (S. 183) Immerhin kommt auch Kruse zu dem Schluss, dass am Ende „die reflektierte, frei und verantwortlich getroffene sowie empathisch nachvollziehbare Entscheidung für eine Selbsttötung stehen kann – die akzeptiert werden muss, auch wenn man sie persönlich nicht gutheißen mag.“ (S. 194). – „Zum psychoanalytischen Verständnis des Wunsches nach assistiertem Suizid“ äußert sich ein Autorenkollektiv. (Briggs, Lindner, Goldblatt, Kapusta, Teising) Es vertritt „die Ansicht, dass unbewusste Faktoren für das Verständnis von Wünschen nach assistiertem Suizid ausschlaggebend sind“. (S. 200) Weil es sich beim Wunsch nach Selbsttötung um einen unbewussten Konflikt von Autonomie und Abhängigkeit handele, kann es ohne therapeutschie Bewusstwerdung keine rationale Entscheidung geben. Die Welt erscheint als riesiges Behandlungszimmer. „Allen (!) Suiziden liegt ein Angriff auf das Selbst zugrunde, das mit einem verhassten Objekt identifiziert ist.“ (Zitat Bell) Oder (Zitat Götze): „Der Suizid ist der psychische Mord an einer Objektrepräsentanz im Subjekt durch reale Selbsttötung.“ (S. 210) Zwischen diesem Konzept des unbewussten Konflikts und der Vorstellung, der Wunsch nach Selbsttötung könne rational sein – sie wird innerhalb der amerikanischen Psychoanalyse von Salman Akhtar vertreten – bestehe ein Gegensatz. (S. 210) Zum Abschluss des Beitrags wird ein Fallbeispiel berichtet, welches in der Tat zwiespältige Gefühle hinterlässt. Als Erfolg wird gebucht, dass eine todkranke, in ihrer Autonomie und Wirksamkeit stark eingeschränkte Patientin vom Suizidwunsch abgebracht werden konnte, auch wenn sie sich einige Tage vor ihrem Tod bei einem Sturz noch eine Hüftfraktur zuzog.
Der vierte Teil (Gesellschaftliche und kulturelle Aspekte) enthält die – kleinianisch gefärbten – Ausführungen von Benigna Gerisch zur psychoanalytischen Theorie und Therapie von PatientInnen mit dem Wunsch zur Selbsttötung. Zugespitzt formuliert die Autorin, „dass sich in der Suizidalität ein zentraler Konflikt der Subjektwerdung im Sinne einer anthropologischen Konstante potenziert und verdichtet, der ein Leben lang um Seperation und Autonomie (…) letztlich um die so schwer auszubalancierende Nähe-Distanz-Regulation kreist.“ (S. 236) Die im Titel angekündigte Thematik (Perfektionierungs- und Optimierungsimperative) ist nur ein Aspekt, der auch nur einen relativ kleinen Anteil am ganzen Aufsatz beansprucht. Gerisch geht davon aus, dass das Streben nach Optimierung „eine der bedeutsamsten Leitvorstellungen in gegenwärtigen Gesellschaften“ ist. (S. 242) Es geht um Leistung und Produktivität, aber auch um Körperoptimierungs- und Umarbeitungsstrategien, die zu individualgeschichtlichen Konflikten in Beziehung gesetzt werden. Die zu Beginn formulierte Frage, ob der assistierte Suizid eine Variante gegenwärtiger Selbstoptimierung ist, (229 f.) wird nicht beantwortet. Zur Problematik des assistierten Suizid wird eigentlich nur (erneut) die Gefahr der „Normalisierung“ (S. 231) beschworen und am Schluss statt einer „Optimierung der Sterbehilfe“ die „Optimierung einer psychodynamisch fundierten Suizidprävention“ gefordert. – Der abschließende Beitrag von Lisa Werthmann-Resch über „Suiziddynamik in der Winterreise bei Schubert und Steinbichler“ entfernt sich am weitesten von dem titelgebenden Thema der Beihilfe zur Selbsttötung. Gleichwohl gehören solche kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zu einer Behandlung des Themas Suizid in einer möglichst wenig bornierten Weise. Die Autorin versteht es, das Interesse an Schuberts Musik und an Steinbichlers Film gleichermaßen zu wecken.
Diskussion
Im Folgenden möchte ich in der gebotenen Kürze einige Argumente oder Denkfiguren aufgreifen, die in den Aufsätzen dieses Bandes in der einen oder anderen Form wiederkehren, und sie thesenartig kommentieren.
Erstens: Es wird wiederholt die Gefahr einer „Normalisierung“ der Selbsttötung beschworen. (S. 27 f., 71, 89, 231) Dieser Begriff ist mehrdeutig. Er meint zunächst, dass ein Verhalten nicht mehr als krankhaft gilt. Er meint ferner, dass sich eine Handlung veralltäglicht, nichts Besonderes mehr ist; sie wird „enttabuisiert“, verliert ihren Schauder. Normalisierung kann freilich auch bedeuten, dass etwas, hier die Selbsttötung, zur Norm, d.h. zur Forderung wird, durch die Druck ausgeübt wird. Für eine solche „Normalisierung“ gibt es keine Anhaltspunkte, auch nicht in den Ländern, in denen die Suizidbeihilfe (oder gar die Tötung auf Verlangen) schon länger straffrei ist. (Vgl. S. 114) Wer für die Selbsttötung Druck ausüben will, handelt zumindest unmoralisch.
Zweitens: Wir müssen alle sterben und müssen das hinnehmen. (Vgl. S. 17) Das ist eine Binsenwahrheit, die nicht weiterhilft. Alle müssen sterben, aber nicht jeder stirbt auf gleiche Weise. Wenn wir die naturgegebene Sterblichkeit hinnehmen müssen, bedeutet das noch lange nicht, dass wir jede Form des Sterbens als naturgegebene Tatsache akzeptieren müssen.
Drittens: Gegen die „Verabsolutierung“ der Selbstbestimmung wird geltend gemacht, dass der Schutz der Menschenwürde nicht nur dem zusteht, der zur freien Selbstbestimmung fähig ist. Das ist natürlich richtig. Der Schutz der Menschenwürde gilt auch für Formen des menschlichen Lebens, welche die Fähigkeit zur rationalen Selbstbestimmung nicht ausgebildet (z.B. Embryonen) oder sie verloren (z.B. Demente) haben. In diesen Fällen besteht die Achtung der Menschenwürde im Verbot der Instrumentalisierung des menschlichen Lebens zu äußeren Zwecken. Der Grund für diese Ausweitung der Menschenwürde liegt darin, dass es sich um Formen menschlichen Lebens handelt oder: dass die Lebensformen einer Gattung angehören, welche die Fähigkeit zur Selbstbestimmung bei ihren Individuen normalerweise ausbildet und ohne die Entwicklung dieser Fähigkeit nicht überlebensfähig wäre. Es ist also nicht so, dass wir neben der Autonomiefähigkeit auch soziale und abhängige Wesen sind. Wir sind autonomiefähig, weil wir soziale Gattungswessen sind.
Viertens: Eben deshalb ist unsere Freiheit immer relativ. Genau gesagt: Wir erfahren Freiheit nie als absolute, sondern nur als Fähigkeit in konkreten Situationen und Verhältnissen. Und zwar als die Fähigkeit, uns von ihnen zu distanzieren, ihnen gegenüber zu treten und begründbare Zwecke zu verfolgen. Freiheit besteht, nach dem schönen Wort von Amartya Sen (Die Identitätsfalle, S. 49), nicht darin, aus dem Nichts irgendwohin, sondern von einer Stelle zur anderen gelangen zu können. Freiheit, die nicht bloß als Handlungsfreiheit aufgefasst wird, sondern als Willensfreiheit („innere Freiheit“, Freiheit zur Zwecksetzung) kann wachsen, sich aber auch verengen. Gerade weil sich Freiheit nur in einem Geflecht von Abhängigkeiten und sozialen Verhältnissen verwirklichen kann, wächst sie mit der Fähigkeit, diese Verhältnisse zu durchschauen und zu kritisieren, was am besten in Gemeinschaft mit anderen gelingt. – Übrigens wird selbst der strengste Determinist nicht ignorieren können, dass wir in Rechtsverhältnissen von Willenserklärungen ausgehen müssen und dabei Kriterien brauchen, nach denen wir feststellen könne, ob solche Äußerungen sich unzulässigen äußeren oder krankhaften inneren Zwängen (z.B. „Stimmen“) verdanken und damit unverbindlich sind. Wenn wir Zeuge des Selbsttötungsversuchs eines Unbekannten sind, müssen wir davon ausgehen, dass die Tat nicht einem rationalen und konstanten Entschluss entspringt, weil ihr Gelingen irreversibel wäre. Wir wären also moralisch verpflichtet, rettend einzugreifen. Aber das bedeutet nicht, dass es einen wohlerwogenen und konstanten Wunsch zur Selbsttötung nicht geben könne.
Fünftens: Gelegentlich wird behauptet, dass, wer Suizidbeihilfe leistet, auf einer Linie mit den Nazis handelt, weil er menschliches Leben nicht für lebenswürdig hält. (Vgl. Teising S. 17) „Aus der deutschen Geschichte wissen wir, wohin die Differenzierung zwischen lebenswertem und unwertem Leben führen kann.“ (S. 18) Raunend beschworen wird der Massenmord. Die wiederholte Formulierung, es gehe den Befürwortern des assistierten Suizids darum, wie man Menschen „leichter in den Tod schicken kann“ (Maio, S. 92 f), spielt auf derselben Klaviatur und soll diffamieren. Dabei werden zwei wesentliche Unterschiede in der Antwort auf die entscheidenden Fragen verwischt: Wer fällt den Entschluss und was besagt die Wertung, die dem Entschluss zugrunde liegt? Im Hinblick auf das Handlungssubjekt liegt zwischen dem Massenmord an wehrlosen Menschen und der nach eigenem Entschluss vollzogenen Selbsttötung ein Abgrund, den man auch um (vermeinter) rhetorischer Vorteile willen nicht zudecken darf. Was die Wertung betrifft, ist es einfach falsch, dass es sich in beiden Fällen, dem Massenmord und der Selbsttötung, um das gleiche Urteil über den Lebensunwert eines Lebens handelt. Oder will man den Befürwortern einer straflosen Suizidbeihilfe ernsthaft Mordlust unterstellen? Es ist ein Unterschied ums Ganze, ob man eine Person und ihre angeborenen Eigenschaften (z.B. Hirnschäden) bzw. eine wie immer definierte Gruppe (z.B. Juden oder Homosexuelle) als lebensunwert oder unwürdig erklärt oder ob man die eigene Situation und bestimmte Lebensumstände als unerträglich, unwürdig und aussichtslos beurteilt. Der Anspruch auf ein würdiges Leben ist unverlierbar, aber der Betroffene selbst kann zu dem Ergebnis kommen, dass er nicht mehr einlösbar oder zu verwirklichen ist. Die von Teising behauptete Notwendigkeit, bei der Selbsttötung oder der Assistenz zu ihr müsse einer Person oder einer Gruppe von Personen die Lebenswürdigkeit abgesprochen werden, ist eine bloße Unterstellung. Weder muss der Suizident sich selbst noch sein Helfer ihn als lebensunwürdig oder -unwert beurteilen. Auch muss der Helfer sich dem Urteil des Suizidenten über seine Lebensbedingungen keineswegs anschließen. Er kann auch einfach aus Respekt vor der Selbstbestimmung des Anderen handeln.
Sechstens: „Unveräußerlichkeit der Menschenrechte“ als moralische Selbstverpflichtung. Nach Heiner Bielefeldt bedeutet die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte, dass man seine Freiheitsrechte und auch das Lebensrecht nicht „irreversibel“ aufgeben darf. (S. 31 ff.) Unmoralisch sei nur die Irreversibilität des Aufgebens, weil wir es für möglich und auch moralisch unbedenklich halten, Grundrechte (z.B. das Wahlrecht oder die Meinungsäußerung) fallweise nicht auszuüben. Beim Recht auf Leben gibt es diesen Unterschied freilich nicht. Wenn man nicht irreversibel aufs Leben verzichten darf, darf man es gar nicht oder mit anderen Worten: Das Recht auf Leben sind wir uns selber schuldig, Selbsterhaltung ist eine Pflicht gegen sich selbst. (vgl. S. 33) Bielefeldt bezeichnet dies als „moralische Komponente“ des Menschenrechts auf Leben, die sich freilich „nicht unmittelbar rechtlich durchsetzen lässt“, aber doch „in den Formulierungen des Rechts Berücksichtigung finden muss“. (S. 33) Die zugestandene Divergenz von Recht und Moral erscheint hier als eine pragmatische Frage, aber das ist sie nicht, denn die von Bielefeldt konstruierte innere Verbindung von Menschenrecht und Pflicht gegen sich selbst ist verfehlt. „Unveräußerlichkeit“ der Menschenrechte bedeutet nicht, dass ein (irreversibler) Verzicht auf die Ausübung ein solches Rechts verboten ist; es bedeutet vielmehr, dass wir anderen gegenüber überhaupt nicht rechtswirksam auf unsere Menschenrechte verzichten können. Was wir uns gegenüber rechtlich ungehindert tun dürfen – z.B. uns „würdelos“ benehmen – ist anderen uns gegenüber rechtlich verboten, auch wenn wir es ihnen gestattet hätten. Darin liegt auch der Grund, warum die Tötung auf Verlangen immer ein Straftatbestand bleiben sollte, auch wenn sie, wie beispielsweise in den Niederlanden, unter genau bestimmten Rechtfertigungsgründen straflos bleiben kann. Hingegen ist Bielefeldts These vom Lebensrecht als Pflicht gegen sich selbst eine moralphilosophische Ansicht, die, weil sie die ethische Orientierung des Einzelnen betrifft, ernsthaft diskutiert werden muss – aber rechtlich nicht verbindlich sein kann.
Siebtens: Moralische Verpflichtungen gegen Bezugspersonen. Hat der Suizident moralische Verpflichtungen gegenüber seinen Bezugspersonen, in erster Linie gegenüber Verwandten und Freundinnen? Natürlich, es gibt keinen Zweifel, dass es solche moralischen Verpflichtungen gibt und das Selbstbestimmungsrecht mit ihnen in Widerspruch treten kann. (vgl. S. 66) Aber mit der Feststellung dieses Widerspruchs hat man noch keine Lösung, die mit den Grundrechten vereinbar wäre. Moralische Rechte sind von juridischen zu trennen. Prospektiv Hinterbliebene haben ein moralisches Recht darauf, dass derjenige, der sich mit der Selbsttötungsabsicht trägt, an ihre Gefühle und Interessen denkt, vielleicht sogar, dass er sich mit ihnen bespricht. Ein juridisches Recht auf das Leben eines Anderen kann es nicht geben.
Achtens: Freiheits- und Anspruchsrecht. Die Verwischung dieses Unterschieds gehört zu den beliebtesten Irrtümern und wird zudem manipulativ eingesetzt. (Vgl. S. 19) Wenn der Schwangerschaftsabbruch straffrei bleibt, bedeutet das nicht, dass jeder Arzt oder jede Ärztin gezwungen wäre, Abbrüche zu vollziehen. Genauso wenig besteht nach dem Urteil des BVerfGs ein Recht irgendeines Individuums gegen ein anderes oder „den Staat“, ihm die Mittel zu einem Suizid zur Verfügung zu stellen. Es geht allein darum, die Bereitstellung dieser Mittel (ggf. unter Bedingungen) nicht strafrechtlich zu verfolgen, wie bereits aus den Leitsätzen des Urteils des BVerfGs hervorgeht. – Teising (S. 19) meint, die Straffreiheit der Suizidbeihilfe habe die Konsequenz, dass „jedes autonome Individuum auch das Recht haben müsste, die Amputation eines gesunden Beines zu verwirklichen, die Möglichkeit dazu müsste ihm eröffnet werden, wenn das Individuum es will.“ Die Analogie würde allerdings einzig darin bestehen, dass man Straffreiheit für denjenigen fordert, der die Mittel zu einer Selbstamputation zur Verfügung stellt. Der Autor bleibt uns die Auskunft schuldig, wie eine solche Selbstamputation vonstatten gehen soll und wie der Besitz eines gesunden Beines als Verletzung der Menschenwürde gelten könnte. Was motiviert eigentlich dazu, die Leser in solch abwegige Vorstellungen, die ein Psychoanalytiker in anderen Zusammenhängen ohne Zweifel als Kastrationsphantasien entlarven würde, zu verstricken?
Neuntens: Gesundheitsökonomie und professionelle Selbstüberschätzung. Wer sich über die ökonomische Wirklichkeit der Gesundheitssystems, insbesondere über den Zusammengang von kostensparender Effizienz und Massenabfertigung im Klaren ist, wird bei der Propagierung einer humanen Sterbekultur als Alternative zur Suizidbeihilfe vorsichtig sein. Worte wie „echte Sorge“, die einen Suizidwunsch überflüssig machen soll, könnten leicht an der Realität der Krankenhäuser zerschellen. Der Ausbau von Palliativ-Care und ausreichender psychiatrischer und therapeutischer Versorgung ist ohne Zweifel eine sinnvolle Forderung, aber man sollte wohl ihre Wirksamkeit weder in der Reichweite noch im einzelnen Fall (etwa bei der Schmerzlinderung) überschätzen. Mir scheint, dass die Beiträge dieses Bandes – mit einer Ausnahme – die Ökonomie des Gesundheitswesens zu wenig im Blick haben. – Das gilt auch im Hinblick auf die Klassenfrage. In den Fallgeschichten überwiegt die gehobene Mittelschicht: Schriftsteller, Professoren, eine Redakteurin, eine Geschäftsführungs-Assistentin in der freien Wirtschaft. In einem Aufsatz findet sich das Porträt eines Stahlarbeiters, der in seinem Beruf ruiniert wird und sich abarbeitet, aber eine Selbsttötungsabsicht oder einen Beihilfewunsch hat er offenbar nicht geäußert. (250-253) Dass die privaten Sterbehilfevereine an dieser soziologischen Spezifik nichts ändern, scheint offensichtlich. – Übrigens: Es erschließt sich nicht ganz, was mit der wiederholt geäußerten Befürchtung gemeint ist, der Tod werde, wenn man dem Urteil des BVerfG folgt, „wie eine Ware“ herstellbar und verfügbar. (z.B. S. 77) Es ist ja nicht so, dass die Dienstleistungen psychoanalytischer Therapeuten oder Sterbebegleiter nicht von irgendwem bezahlt werden müssten. Der Elefant im Raum sind die Sterbehilfeorganisationen wie „Exit“ oder „Dignitas“, die einen Mitgliedsbeitrag erheben oder eine Kostenrechnung stellen. Was von ihnen wirklich geliefert wird, ist freilich nicht der Tod, sondern ein Mittel zu seiner schonenden Herbeiführung. Eine offene Auseinandersetzung mit ihrem Wirken findet nicht statt, es bleibt bei wenig freundlichen Andeutungen. Vielleicht ist die Existenz von Sterbehilfevereinen auch ein Hinweis auf die Mängel des öffentlichen Gesundheitssystems.
Schließlich ist daran zu erinnern, dass auch die bestmögliche Versorgung mit Palliativ-Care, Hospizen und Psychologen an der verfassungsrechtlichen Einschätzung der Suizidbeihilfe nichts ändern könnte.
Fazit
Die Stärke des vorliegenden Sammelbandes liegt in der Mitteilung der reichen und differenzierten Erfahrung, die Fachleute mit suizidalen Menschen machen können. Der Nachteil besteht darin, dass die juristischen, philosophischen und gesellschaftstheoretischen Vorstellungen häufig in Allgemeinplätzen und unaufgehellten Widersprüchen stecken bleiben. Wünschenswert wäre eine distanzierende Reflexion der eigenen Profession, deren institutionelle Praxis und deren Interessen den Blick auch verengen können.
Rezension von
Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller
Vormals Professor für Sozialphilosophie und -ethik
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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