Claudia Gärtner, Britta Konz et al. (Hrsg.): Begegnungsräume // Kontaktzonen
Rezensiert von Dr. Axel Bernd Kunze, 21.06.2023
Claudia Gärtner, Britta Konz, Andreas Zeising (Hrsg.): Begegnungsräume // Kontaktzonen.
wbv Media GmbH & Co. KG
(Bielefeld) 2022.
94 Seiten.
ISBN 978-3-7639-7277-7.
24,90 EUR.
Reihe: verorten. Räume kultureller Teilhabe.
Thema
Der Raum als dritter Erzieher – diese Charakterisierung ist in der Pädagogik längst zum Allgemeingut geworden. Bildung braucht Lern- und Begegnungsorte. Der vorliegende Band will Lehrkräfte dabei ermutigen, schulische und außerschulische Lernorte in Begegnung zu bringen und so bedeutsame Lernprozesse in Migrationsgesellschaften anzuregen.
Herausgeberinnen
Claudia Gärtner ist Professorin für Praktische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Technischen Universität Dortmund. Sie bringt Erfahrungen als Studienrätin für Kunst und Religion am Gymnasium mit.
Britta Konz ist an derselben Universität Professorin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Religionspädagogik.
Andreas Zeising ist als Akademischer Mitarbeiter am Seminar für Kunst und Kunstwissenschaften der Technischen Universität Dortmund tätig. Er war u.a. Museumsvolontär am Düsseldorfer Kunstpalast.
Kontext
Der Band ist Teil eines vierbändigen Publikationsprojektes unter dem Obertitel „verorten. Räume kultureller Teilhabe“, herausgegeben von Christopher Kreutchen und Barbara Welzel. Dokumentiert werden Ergebnisse aus dem Arbeitsfeld „Kulturelle Teilhabe“ im DoProfil, dem „Dortmunder Profil für inklusionsorientierte Lehrerinnen- und Lehrerbildung im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung“. Dabei geht es um Fragen von Partizipation in einer transkulturellen Gesellschaft. Das Projekt wird gefördert durch Mittel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
Aufbau
Der Band gliedert sich – nach einer Einleitung durch das Herausgebertrio, einer kurzen Einleitung durdch das Reihenherausgeberduo und einer Vorstellung der Autorinnen und Autoren – in fünf Einzelbeiträge:
- Schulräume und außerschulische Lernorte als Resonanzräume heterogenitätssensibler interreligiöser Lernprozesse (Britta Konz)
- In den Garten gehen. Klostergärten als interreligiöse Lernorte einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (Claudia Gärtner)
- Kirchen als kulturelles Erbe: Anders-Orte und diskursive Ermöglichungsräume (Barbara Welzel)
- Die Kirche St. Anna im Dortmunder Unionviertel. Begegnungen in den (Zeit)Räumen von Industriekultur, Migrationsgeschichte und urbanem Wandel (Andreas Zeising)
- Religionsunterricht (wo-)anders? – Die Wewelsburg als außerschulischer Lernort (Stephanie Lerke)
Den letztgenannten drei Beiträgen ist jeweils eine Replik beigegeben. Ferner findet sich im Band ein Beitrag „ohne Worte“ von Ylvis Lindenbaum und Steffen Mitschke: In künstlerischer Form wird an eine Kunsterziehungszentrum erinnert, das im kommunistischen Bulgarien als „transnationale Herberge für künstlerische Kinder aus aller Welt“ (S. 9) geplant gewesen war.
Inhalt
1. Der erste Beitrag schließt an die Resonanztheorie des Soziologen Hartmut von Rosa an. Schulen sollten sich stärker als bisher der Raumwirkungen auf Lernprozesse bewusst sein; ihre Raumkonzepte seien keinesfalls hierarchiefrei. Räume setzten Routinen frei, welche die Bewegungen und Interaktionen in ihnen strukturierten. Die Autorin, Britta Konz, benennt drei Anforderungen, denen Lernorte in Migrationsgesellschaften gerecht werden sollten: Sie sollten Austauschprozesse über Fragen des Religiösen ermöglichen und religiöse Erfahrungen zugänglich machen. Die Schule sollte sich zur Lebenswelt hin öffnen, und damit auch außerschulische Lernorte für die Begegnung mit Natur, Kultur, Gesellschaft, Politik oder Religion nutzen, etwa Gedenkstätten, Kirchen oder andere religiöse Räume. Und schulische wie außerschulische Lernorte sollten so gestaltet sein, dass sie inklusive leiblich-multisensorische Erfahrungen ermöglichten, durch Barrierefreiheit, aber eben auch durch kulturelle Inklusionserfahrungen, die gewohnte, routinemäßige Handeln durchbrechen und Veränderungen ermöglichten.
2. „Klostergärten sind durch wachsendes ökologisches Bewusstsein und ein gesteigertes Interesse an Naturheilkunde (erneut) populär geworden“ (S. 41) – so Claudia Gärtner. Was daraus werden kann, zeigt der Beitrag am „Spiritual Gardening“ im Klostergarten der Kapuziner in Münster. Die religiösen wie sozial-ökologischen Lernprozesse, die dort in Zusammenarbeit mit dem Münsteraner Institut für theologische Zoologie und dem Naturschutzbund, angeregt würden, setzten bewusst auf eine subjektorientierte Erschließung des Ortes, es gehe um Bewusstseinsbildung für Fragen der Religion, der Umwelt und des moralischen Handelns. Solche Orte sollten hochschuldidaktisch genutzt werden, was aber besondere Kompetenzen erfordere, solche außerschulischen Lernorte durch ihre „emotionale Wucht“ auch leicht erschlagen könnten. Wichtig bleibe es daher, die leiblich-ästhetischen Erfahrungen in einem größeren, abstrakteren Kontext aufzugreifen und für eine differenzierte Bildung für nachhaltige Entwicklung fruchtbar zu machen.
3. Kirchenraumpädagogik ist bereits seit längerem bekannt. Barbara Welzel plädiert dafür, Kirchenräume nicht allein als religiöse, sondern auch kulturelle Diskurs-, Ermöglichungs- und Begegnungsräume zu nutzen, etwa im Blick auf die Europäizität, die in ihnen zum Ausdruck komme. In ihnen würden individuelle Erinnerungen auf die großen Zeitdimensionen der Geschichte treffen: „Ein Erfahrungsraum für die Verschiebung von Dimensionen, für ein neues Erleben der eigenen Größe – oder genauer: Kleinheit und Endlichkeit, das aber aufgehoben und nicht ohnmächtig, eingebunden in die Generationen übergreifende Gemeinschaft, die dieser Ort verkörperte“ (S. 56).
Christopher Kreutchen unterstreicht das Gesagte noch einmal, indem er auf das Recht auf kulturelle Teilhabe verweist, das von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 postuliert werde: Gärten oder Kirchen seien Kontaktzonen, in denen sich individuelle Biographie mit Vergangenheit, aber auch Zukunft verorte und „sharing heritage“ ermögliche. Auf diese Weise würden solche Orte zu kulturellen Kraftquellen für Menschlichkeit und Zivilisation.
4. Andreas Zeising zeigt am Beispiel der Dortmunder Kirche St. Anna, wie solche Orte als Begegnungsorte von Industriekultur, Migrationsgeschichte und urbanem Wandel wirkten. Solche Orten sollten für eine inklusionsorientierte Lehrerbildung aufgegriffen werden, an ihnen ließe sich auch zeigen, wie sich aus geteilten Erinnerungen, aber auch konflikthaften Begegnungen ein Raum kultureller Mehrsprachigkeit herausgebildet habe.
Wie solche Erfahrungen in Fortbildungen inszeniert werden könnten, zeigt Lea Heiligtag am Beispiel der Methode ästhetischer Andacht auf.
5. Abschließend wird die Wewelsburg als außerschulischer, religionspädagogischer Lernort vorgestellt. Das ehemalige Renaissanceschloss im Hochstift Paderborn diente im Nationalsozialismus als „Reichsführerschule-SS“, nicht zuletzt wegen ihrer räumlichen Nähe zum Teutoburger Wald, zum Hermannsdenkmal und zu den Externsteinen. Erinnern und Gedenken, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und religiöses Othering, die Nutzung für politische Religion und säkulare Ideologien seien exemplarische Themen, welche die Wewelsburg zu einem primären Lernort des Religiösen machten. Hier könnte Resilienz gegenüber menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Ereignissen erlernt werden.
Sarah Hübscher vertieft die Überlegungen museumsdidaktisch, indem sie auf die kuratorischen Herausforderungen eingeht, die sich bei der Gestaltung von Ausstellungen – für sie Orte „verräumlichter kultureller Praxis“ – stellten: „Im besten Falle entsteht ein Ausstellungssetting, das Anlass für Wandel in dne Zwischenräumen der Zusammenstellungen oder ‚Ordnungen‘ gibt“ (S. 92). Die Autorin macht deutlich, dass der museale Begegnungsort dabei als Gesamtzusammenhang gesehen werden müsse: von der Eingangssituation, den Garderoben und Werkstätten über die Ausstellungsräume bis zu dne Büros, Pausenräumen und Cafés.
Diskussion
Räume erfüllen viele Funktionen: Sie ermöglichen Kommunikation, Begegnung, Auseinandersetzung, Erinnerung, Vermittlung, Reflexion, Forschung, Teilhabe, Aneignung und anderes mehr. Räume sind Orte leiblicher, ästhetischer, historischer, biographischer, kultureller und anderer Erfahrungen. Dies alles macht Räume zu einem wichtigen Gegenstand (fach-)didaktischer Reflexion. Der vorliegende, aus der Lehrerbildung erwachsene Band macht deutlich, welch vielfältige Reflexions- und Gestaltungsaufgaben sich stellen, wenn der Raum als „dritter Pädagoge“ ernstgenommen und einbezogen wird.
Dies gilt nicht zuletzt für Exkursionen, die vertiefte Bildungserfahrungen ermöglichen können – wenn die mit ihnen verbundenen Möglichkeiten didaktisch und methodisch auch tatsächlich genutzt werden. Hierzu gibt der Band anschauliche, konkrete Anregungen. Wer ihn zur Hand nimmt, wird allerdings – anders als bei Methodenratgebern – grundlegende kulturwissenschaftliche Kenntnisse mitbringen müssen.
Die vorgestellten Beispiele, etwa die St.-Anna-Kirche in Dortmund, laden dazu ein, ähnliche Orte im Umfeld der eigenen Schule zu suchen und auszuleuchten. Dies wird umso besser gelingen, wenn verschiedene Fachkonferenzen, etwa aus der Religionslehre, Geschichte oder Geographie, interdisziplinär zusammenarbeiten und ihre jeweilige Perspektive einbringen. Insofern könnte ein Arbeiten mit Begegnungsräumen und Kontaktzonen auch dazu beitragen, das vernetzte Arbeiten im gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld der Fachschule zu stärken. Allerdings ist dies keinesfalls trivial: Es bedarf einer sorgfältigen Aufgabenbereichsdidaktik, wenn am Ende für die Schülerinnen und Schüler nicht allein disparate Einzelthemen verbleiben solle, sondern die verschiedenen Perspektiven – wie im vorliegenden Band angezielt – auch tatsächlich in einen kulturellen Zusammenhang gesetzt werden sollen.
Fazit
Der Band vermittelt anregende Impulse, die räumliche Dimension des Menschseins in Schule und außerschulischer Bildung aufzugreifen. Er leistet damit Grundlagenarbeit, die in verschiedenen Fachdidaktiken weiter zu denken wäre.
Rezension von
Dr. Axel Bernd Kunze
Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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Zitiervorschlag
Axel Bernd Kunze. Rezension vom 21.06.2023 zu:
Claudia Gärtner, Britta Konz, Andreas Zeising (Hrsg.): Begegnungsräume // Kontaktzonen. wbv Media GmbH & Co. KG
(Bielefeld) 2022.
ISBN 978-3-7639-7277-7.
Reihe: verorten. Räume kultureller Teilhabe.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29907.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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