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Barbara Mertins, Patricia Ronan (Hrsg.): ankommen // angekommen

Rezensiert von Dr. Axel Bernd Kunze, 20.06.2023

Cover Barbara Mertins, Patricia Ronan (Hrsg.): ankommen // angekommen ISBN 978-3-7639-7186-2

Barbara Mertins, Patricia Ronan (Hrsg.): ankommen // angekommen. wbv Media GmbH & Co. KG (Bielefeld) 2022. 92 Seiten. ISBN 978-3-7639-7186-2. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Reihe: verorten. Räume kultureller Teilhabe.

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Thema

Fragen der Partizipation stehen im gegenwärtigen pädagogischen, sozialpädagogischen oder bildungswissenschaftlichen Diskurs an zentraler Stelle. Und Fragen nach Teilhabe und Mitbestimmung müssen heute vor dem Hintergrund interkultureller Herausforderungen diskutiert werden. Sehr häufig geschieht dies im Kontext demokratiepädagogischer oder sozialstaatlicher Debatten. Der vorliegende Band beleuchtet das Thema hingegen aus einer dezidiert kulturellen Perspektive und nimmt damit zugleich den kulturstaatlichen Auftrag im Bereich der Schulpolitik in den Blick. Eine wichtige und interessante Perspektivänderung, die hier vorgenommen wird.

Herausgeberinnen

Barbara Mertins ist Professorin für empirische und experimentelle Linguistik des Deutschen mit Schwerpunkt Psycholinguistik an der Technischen Universität Dortmund.

Patricia Ronan hat ebenfalls in Dortmund den Lehrstuhl für Englische Sprachwissenschaft inne.

Kontext

Der Band ist Teil eines vierbändigen Publikationsprojektes unter dem Obertitel „verorten. Räume kultureller Teilhabe“, herausgegeben von Christopher Kreutchen und Barbara Welzel. Dokumentiert werden Ergebnisse aus dem Arbeitsfeld „Kulturelle Teilhabe“ im DoProfil, dem „Dortmunder Profil für inklusionsorientierte Lehrerinnen- und Lehrerbildung im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung“. Dabei geht es um Fragen von Partizipation in einer transkulturellen Gesellschaft.

Aufbau

Der Band gliedert sich – nach einer Vorstellung der beteiligten Autorinnen und Autoren sowie zweier Einleitungen durch die Bandherausgeberinenn sowie den Herausgeber und die Herausgeberin der Reihe – in fünf Einzelbeiträge:

  • Wie kommen junge Migrantinnen und Migranten in deutschen Schulen an? (Paul Berge, Warsa Melles, Patricia Ronan)
  • Religionssensible Mehrsprachigkeit im Dialog mit Bibel und Koran (Julia Bubenheim, Leonie Seebach)
  • Warum Mehrsprachigkeit einfach mehr ist. Die Rolle von individuellen Überzeugungen im Mehrsprachigkeitsdiskurs (Renate Delucchi Danhier, Barbara Mertins)
  • Musik als Katalysator von Diskriminierung und Vielfal. Perspektiven einer musikalischen Teilhabe (Alexander Gurdon)
  • Angekommen in Dortmund (Wolfgang Euteneuer im Gepräch mit den beiden Herausgeberinnen des Bandes)

Die Beiträge – mit Ausnahme des Gespräches – werden jeweils durch eine Replik beantwortet.

Ein Fazit aus der Feder der beiden Herausgeberinnen beendet den Band.

Inhalt

1. Wie kommen junge Migranten und Migrantinnen in deutschen Schulen an? Befragt wurden multilinguale Willkommensklassen im Ruhrgebiet. In sprachlicher Hinsicht zeigt die Studie keine eindeutige Tendenz: Sowohl ein- als auch mehrsprachige Praktiken finden Unterstützung. Allerdings werden spezielle Auffangklassen in einem Teil der Antworten explizit als Hindernis für das Erlernen der deutschen Sprache gesehen. Sprachschwierigkeiten behinderten das Gefühl, in Deutschland angekommen zu sein, deutlich. Wie hilfreich sind also mehrsprachige Praktiken für das Ankommen in der neuen Kultur? Einerseits unterstütze der Gebrauch der Muttersprache das Heimatgefühl im neuen Land, andererseits werde dieser aber auch nur bedingt als Hilfe für das Erlernen der neuen Sprache gesehen. Für die Befragten erscheine das Eintauchen in die neue Sprachwelt, also immersive Praktiken des Spracherwerbs, als wichtiger Weg, die deutsche Sprache zu erlernen und an der Gesellschaft in Deutschland – über den Bereich der eigenen Familie hinaus – teilnehmen zu können. Die Forschergruppe schließt daraus, dass mehrsprachige Praktiken gezielt und systematisch eingesetzt werden sollten, wenn das sprachliche und kulturelle Repertoire, welches die Schüler und Schülerinnen mitbringen, tatsächlich als Ressource für den weiteren Ankommensprozess werden soll.

Janieta Bartz plädiert in ihrer Replik dafür, multilinguale Ansätze im Unterricht stärker zu nutzen („translanguaging“). Sprachliche Vielfalt sollte als Ressource, nicht als Herausforderung gesehen werden. Die Wirklichkeit sehe hingegen oft anders aus. Aus inklusionspädagogischen Gründen werden eigene Willkommensklassen daher von Bartz sehr kritisch gesehen. Diese folgten eher dem traditionellen Integrationskonzept; vielversprechender seien hingegen kleine Klassen, Teamteachingmodelle und neue Lern- und Beurteilungsformen statt anfänglicher Separierung bis zum Erwerb der deutschen Sprache.

2. Julia Bubenheim und Leonie Seebach plädieren für einen sprachlich-ästhetischen Ansatz innerhalb von Religionspädagogik und Interreligiösem Lernen – denn mittlerweile seien auch die meisten Lerngruppen im konfessionellen Unterricht religiös wie weltanschaulich heterogen. Das heißt: Bibel wie Koran sollten in Klang, Form und Inhalt sprachlich-ästhetisch erlebbar gemacht werden. Ein solcher fachdidaktischer Ansatz sei nicht allein religionssensibel, er könne in multilingualen Lerngruppen grundsätzlich ein Ausdruck wertschätzender Hinwendung zu mehrsprachig aufwachsenden Schülern und Schülerinnen sei. Auch die Sprachenvielfalt innerhalb des Christentums selbst sollte dabei als Ressource für Begegnung und Dialog genutzt werden. Die ganzheitliche Wahrnehmung der verschiedenen religiösen Praktiken fördere die staunende und fragende Begegnung mit der religiösen Tradition der anderen.

Tatiana Zimenkova äußert in ihrer Replik deutliche Sympathie für das Modell religionssensibler Mehrsprachigkeit, fragt aus soziologischer und politikdidaktischer Sicht aber auch nach dessen Grenzen: Zum einen müsste der Umgang der verschiedenen religiösen Sprachen auch einer Postkolonialismus- und Machtkritik unterzogen werden. Zum anderen dürften im Umgang mit religiöser Normativität Grenzen der Meinungsfreiheit nicht überschritten werden und das schulische Überwältigungsverbot nicht unbeachtet bleiben.

3. „Code-Switching“, so Renate Delucchi Dahier und Barbara Mertins, also der Sprachwechsel mitten im Gespräch, werde zurecht als ein Ausdruck besonderer sprachlicher Komptenz angesehen. Hierauf aufbauend, weisen die beiden Forscherinnen in ihrer empirischen Studie nach, dass zwischen Migrations- und Bildungssprachen (darunter sehr häufig auch Englisch) weniger unterschieden werde, als oft angenommen werde. Förderlich für das Gefühl, angekommen zu sein, sei aber, dass die sogenannten Migrationssprachen wertgeschätzt würden. Werde Mehrsprachigkeit nicht akzeptiert, fördere dies Gefühle von Angst und Scham sowie Prozesse gesellschaftlicher Stigmatisierung.

Für Barbara Welzels Replik sei der Schritt vom Ankommen zum Angekommensein einer, der nicht von den Ankommenden allein gegangen werde könne. Vielmehr brauche es hierfür „die gemeinsame epistemische Arbeit“ (S. 57), etwa im gemeinsamen Erzählen über das gemeinsame Kulturerbe. Als Beispiel nennt sie das Erbe der christlichen Tradition: Zahlreiche Reliquien, die Stoffe für kostbare Paramente oder die Farbpigmente für die kirchliche Kunst seien keinesfalls allein abendländischen Ursprungs: „Es bedarf des Erzählens, das die andauerende […] Vernetzung der Welt und der Kulturen zu fassen bekommt – und das nicht aus der Perspektive Einzelner, sondern im Plural und in Erzählformen, die Mehrperspektivität und Mehrsprachigkeit für ‚normal‘ halten“ (S. 58).

4. Alexander Gurdon widmen sich der ambivalenten Rolle musikalischer Ausdrucksformen. Diese könnten sowohl Diskrimnierung als auch Vielfalt befördern. Vorgestellt werden Beispiele gelingender musikalischer Teilhabe. Der Autor ist davon überzeugt, dass eine solche erneuerte kulturelle Praxis auch politische Wirkungen zeitigt: im Eröffnen diskursiver Räume, im Empowerment und in der Diskriminierungskritik – durch das Erlernenvon Zuhören und Positionierung.

Barbara Mertins unterstreicht dies in ihrer Replik: Musikalische Teilhabe sei ein wichtiger Bestandteil notwendiger kultureller Teilhabe. Die Formen musikalischer Teilhabe müssten über den Bereich klassischer Musik hinaus geöffnet werden, wie es etwa bei der sogenannten „Community Music“ geschehe: Neue Zugänge stellten eigene Haltungen infrage, eröffneten neue Diskurse und ermöglichten, Vorurteile zu reflektieren. Dies alles hänge mit Bildung entscheidend zusammen: Nur wer aus dem Bewusstsein lebe, seine Partizipationsmöglichkeiten seien ausbaufähig, werde auch aktiv nach Bildungsteilhabe streben.

5. Wolfgang Euteneuer stellt das seit 2015 laufende Projekt „angekommen in deiner Stadt Dortmund“ vor. Die bisherigen Ergebnisse zeigten, dass Frühförderung im Elementarbereich und eine gute Förderung in der Ganztagsschule sehr wichtige Elemente seien. Aber auch später müssten Selbststeuerung und Eigenverantwortlichkeit der Jugendlichen aktiv unterstützt werden, wenn das Ankommen gelingen soll. Unrealistische Vorstellungen über das Leben in Deutschland führten allerdings dazu, dass bestehende Angebote – gerade in der Anfangszeit im neuen Land – oft nicht wertgeschätzt und angenommen würden.

Diskussion

Sprachliche und kulturelle Konflikte entstünden dort, so heißt es im Fazit des Bandes, wo Menschen mit anderer Sprache oder Kultur als solche zweiter Klasse betrachtet würden. Mehrsprachigkeit sei ein guter Weg, gerade solche Ausschließungsprozesse zu verhindern. Verstärkt werden könnten diese kulturstaatlich noch dadurch, dass sprachliche Bildung stark auf den beruflichen und schulischen Kontext bezogen sei, den gesellschaftlichen Bereich aber ausklammere. Die vorgestellten Konzepte werden affirmativ vorgestellt, kritische Einwände nicht diskutiert, was vermutlich dem empirischen Charakter des Bandes geschuldet ist.

Wie bei ähnlichen und anderen empirischen Studien üblich, sind deren Ergebnisse mehr oder weniger aussagekräftig. Allerdings wäre es in vorliegenden Fall mitunter wünschenswert gewesen, die Studienergebnisse weniger verknappt, sondern konkreter darzustellen. Manche Aussagen bleiben pauschal oder unspezifisch. Hier wird Potenzial verschenkt, die vorgestellten Ergebnisse auch für Außenstehende rezipierbar zu machen.

Der Band unterstreicht noch einmal, dass Teilhabe in heterogener werdenden Gesellschaften kein Selbstläufer ist. Es brauche, so die Herausgeberinnen am Ende des Bandes, gesellschaftliche Durchlässigkeit, öffentliche Hilfen und politischen Willen. Und diese, so wäre hinzuzufügen, sind nicht zum Nulltarif zu haben. Soll heißen: Wer mehr kulturelle Vielfalt, darf auch über die damit verbundenen materiellen wie immateriellen Kosten nicht schweigen. Der Band konzentriert sich auf kulturelle und sprachdidaktische Praxen der Inklusion. Und diese Beschränkung ist zunächst einmal plausibel. Weitergehende Fragen nach der volkswirtschaftlichen, steuer- und finanzpolitischen oder sozialstaatlichen realen Kostenverteilung in einer faktischen Einwanderungsgesellschaft stellt der Band explizit nicht. Diese Fragen muss selbstständig weiterdenken, wer den Band zur Hand nimmt. Und angesichts zurückgehender Steuereinnahmen und enger werdender finanzieller Spielräume werden diese Fragen unweigerlich gestellt werden müssen. Auch Lehrkräfte – wichtigste Zielgruppe für die Überlegungen des vorliegenden Bandes – werden das zu spüren bekommen.

Fazit

Welche Rolle spielt der Kulturstaat für Teilhabe und gesellschaftliche Integration? Der Band lädt ein, dieser Frage nachzuspüren. Wer sich darauf einlässt, erfährt viel über kulturelle Teilhabe – und das, dies soll am Ende nicht vergessen, in einem Band, der vom Verlag buchästhetisch äußerst ansprechend gestaltet wurde.

Rezension von
Dr. Axel Bernd Kunze
Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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Es gibt 71 Rezensionen von Axel Bernd Kunze.

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Zitiervorschlag
Axel Bernd Kunze. Rezension vom 20.06.2023 zu: Barbara Mertins, Patricia Ronan (Hrsg.): ankommen // angekommen. wbv Media GmbH & Co. KG (Bielefeld) 2022. ISBN 978-3-7639-7186-2. Reihe: verorten. Räume kultureller Teilhabe. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29908.php, Datum des Zugriffs 10.11.2024.


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