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Jürgen Kaube, André Kieserling: Die gespaltene Gesellschaft

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 07.07.2023

Cover Jürgen Kaube, André Kieserling: Die gespaltene Gesellschaft ISBN 978-3-7371-0148-6

Jürgen Kaube, André Kieserling: Die gespaltene Gesellschaft. rowohlt Berlin Verlag (Berlin) 2022. 288 Seiten. ISBN 978-3-7371-0148-6. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.

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Gesellschaft: Zusammenhalt und Spaltung

In der sich immer interdependenter, entgrenzender, anonymer und gleichzeitig gleichförmig sich entwickelnden Welt werden Unterschiede zu Krisen und Konflikten. Die ethische, menschengerechte Auffassung, dass die Vielfalt der Menschheit ihre Einheit bestimmt, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind und friedlich und gerecht zusammenleben sollen, wird durch Ego-, Ethnozentrismus, Rassismus und Populismus übertüncht. Es sind die Kassandrarufe und Warnungen vor Spaltungen und Feindschaften innerhalb einer Gesellschaft und zwischen globalen, politischen Gemeinschaften, die ein menschenwürdiges, demokratisches Bewusstsein herbeiwünschen und festigen wollen: Der Andere, Andersdenkende und -handelnde könnte auch ich sein! Und: Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst! In Anlehnung an die Auffassung – „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine!“ (Helmut Schmidt) – kann es nicht darum gehen, sich eine Gesellschaft zu wünschen, in der – durch Ordre du Mufti, oder durch diktatorische Mittel, „Einheitsmenschen“ zu schaffen.

Entstehungshintergrund und Autoren

Was hält eine demokratische, freie Gesellschaft zusammen? Was trennt sie? Sind es gesellschaftspolitische, anthropologische, weltanschauliche, identitätsstiftende Fragen, die als Statements, Wunschvorstellungen oder Irrungen daherkommen? Der Journalist und Herausgeber der FAZ, Jürgen Kaube und der Soziologe André Kieserling gehen diesen existentiellen und provokanten Fragen in ihrer Studie „Die gespaltene Gesellschaft“ nach. Sie analysieren die aktuellen Entwicklungen in der deutschen Gesellschaft und verweisen auf lokale und globale Verläufe.

Aufbau und Inhalt

Neben der Einleitung, in der die Autoren über die „Angstlust an der Spaltung“ nachdenken, und dem Epilog, in dem sie auf „Spaltung diesseits des Bürgerkriegs“ verweisen, gliedern sie ihre aktuelle, gesellschaftspolitische Diagnose in 14 Kapitel. Im ersten fragen sie: „Zusammenhalt oder Was wird überhaupt gespalten?“; im zweiten setzen sie sich auseinander mit „Versäulung: Die Gesellschaft geschlossener Milieus“; im dritten geht es um „Politik und Polarisierung: Der Fall der Vereinigten Staaten“; im vierten verweisen sie darauf, dass und wie Gegner zu Feinden werden: „McCarthy und wir“; das fünfte Kapitel thematisiert: „Lokalpolitik und die Gesetze des Stammeslebens“; im sechsten verwundert sie „Der ausbleibende Aufstand“; im siebten diskutieren sie mit dem „Testfall Pandemie: Geimpfte und Ungeimpfte“; im achten geht es um „Hass im Netz“; im neunten nehmen sie sich Motive und Wirkungen von Wechselwählern vor: „Reger Verkehr über politische Gräben“; im zehnten geht es um die „Mittelschicht in der Klassen- und Nichtklassengesellschaft“; im elften provozieren sie mit „Alte weiße Männer oder Spaltet Identitätspolitik?“; im zwölften analysieren sie „Die gespaltene Gesellschaft und ihre offenen Briefe“; im dreizehnten wird die Frage aufgenommen: „Gibt es Parallelgesellschaften?“; und im vierzehnten, letzten Kapitel wird am Beispiel Nordirlands eine „Spaltungsgeschichte“ erzählt.

Es ist eine Rundumbetrachtung über Fragen, was Gesellschaften zusammenhält, verbindet oder auseinandertreibt – ideelle und materielle Werte, Programmatiken, historische Entwicklungen, mentale, emotionale Einstellungen, kulturelle und lebensweltliche Vorstellungen – die eine Gesellschaft formen und charakterisieren: Einerseits soll mit der Studie aufgezeigt werden, „was soziologisch zur Frage bekannt ist, wann und wodurch in Gesellschaften Polarisierungen oder Spaltungen auftreten, die nicht bloß Konflikte sind, die auf Ungleichheiten beruhen“; zum anderen werden Konflikte betrachtet, „die gegenwärtig beanspruchen, die Gesellschaft … zu spalten“. Es sind die altbekannten, anspruchsvollen Versuche nach der Frage: „Wer bin ich?“, die sich konstruktiv oder kontraproduktiv beantworten lassen (siehe z.B. Joachim Bauer; Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/​29229.php). Und es sind die verstandes- und existenzbewussten Gewissheiten, dass nationalstaatliche Gemeinschaften verwiesen sind auf globales, humanes Bewusstsein als Menschheit. Es sind die milieubedingten, individuellen und kollektiven Formen von Anpassung und Widerstand, die gesellschaftliche Kompetenzen ermöglichen, über „Klassengesellschaften“ hinaus zu denken und eine Schichtung der Gesellschaft menschenwürdig und gerecht zu gestalten. Dabei auftretende Meinungsverschiedenheiten und Konflikte sind keine Spaltpilze, sondern politische, demokratische, gleichberechtigte, kooperative, solidarische Aushandlungsprozesse. Sie sind von Verständnissen und Missverständnissen geprägt, und sie bedürfen einer aufgeklärten Sicht. Die Frage, was eine gespaltene Gesellschaft ist, wird von den Autoren mit dem Beispiel aus dem „gespaltenen Irland“ beantwortet: „Ein Mann wird auf der Straße in Belfast angehalten und gefragt, ob er ein Protestant oder ein Katholik sei. Als er antwortet, er sei ein Jude, wird die Frage wiederholt: Okay, aber bist du nun ein katholischer oder protestantischer Jude?“. Eine Gesellschaft ist eine menschengemachte Ordnungsvorstellung, die janusköpfig daherkommen und bestehen kann, als „doppelte Identität, schwankend zwischen Gut und Böse“ (Fernand Braudel), sich aber auch als humanes Gebilde entwickeln kann.

Diskussion

Die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ hat 1995 deutlich gemacht, dass Entwicklung, getrennt gesehen von ihrem menschlichen oder kulturellen Kontext, Wachstum ohne Seele sei. Es ist die „globale Ethik“, wie sie in der allgemeinverbindlichen, nicht relativierbaren Menschenrechtsdeklaration zum Ausdruck kommt, die menschliche Vielfalt als universellen, ethischen Imperativ formuliert und zu einem persönlichen und kollektiven Perspektivenwechsel herausfordert: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue (humane, JS) Lebensformen zu finden“. Damit keine „Angstgesellschaft“ entsteht, ist Selbstreflexion und Selbstbesinnung notwendig (Hans-Joachim Maaz, Angstgesellschaft, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/​30674.php). Und es stellt sich die Frage, wie Menschen mit Gleichheit, Gerechtigkeit und Humanität in einer ungleichen Welt umgehen können (Corinne Michaela Flick, Gleichheit in einer ungleichen Welt, 2023, www.socialnet.de/rezensionen/​30695.php).

Fazit

Eine gespaltene Gesellschaft ist menschenunwürdig! Weil Spaltung immer Menschenfeindschaft ist! Damit daraus nicht Gewalt und Kriege entstehen, bedarf es wissenschaftlicher, aufgeklärter Analysen, die sich damit auseinandersetzen, wie gesellschaftliche Konflikte national und international entstehen und präventiv und konkret menschenwürdig gelöst werden können (https://www.sozial.de/gerecht-ist-was-gut-ist.html 26. 7. 2020. Das Autorenteam geht davon aus, dass die deutsche Gesellschaft nicht unmittelbar von einer Spaltung bedroht ist; doch: „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste!“.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1693 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245