Gitta Jacob: Wut
Rezensiert von Dr. Winfried Leisgang, 05.04.2023

Gitta Jacob: Wut. Emotionsarbeit in der Psychotherapie. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2022. 128 Seiten. ISBN 978-3-621-28950-4. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR.
Autorin
Dr. Gitta Jacob ist psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin für Verhaltenstherapie und zertifizierte Schematatherapeutin. Mehr dazu in meiner Rezension zu den Selbstwertkarten.
Aufbau
Das Buch setzt sich zunächst in zwei Kapiteln mit den theoretischen Grundlagen der Basisemotion Wut auseinander. Der zweite Abschnitt beschreibt in neun Kapiteln den Umgang mit der Wut in der Psychotherapie.
Die Käufer*innen können sich das Buch zusätzlich auch als E-Book herunterladen.
Inhalt
Kapitel eins fragt, was man sich unter dem Gefühl der Wut vorstellen kann? Die Autorin bezieht sich darauf, dass es um die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse geht. Werden Grundbedürfnisse wie Bindung und Anerkennung nicht erfüllt, entsteht Enttäuschung, die mit Wut einhergeht. Wut ist eine wichtige Basisemotion, die „uns selbst und die Befriedigung unserer Bedürfnisse“ schützt (12). Die Autorin betont, dass unkontrollierte Wut das Gegenüber verunsichert und daher „wohldosiert“ auftreten solle.
Danach bespricht sie Ausdrucksformen der Wut in unterschiedlichen psychischen Störungsbildern, wie bei Persönlichkeitsstörungen oder Zwängen.
Das Buch setzt sich mit therapeutischen Situationen auseinander, bei denen zu viel Wut gezeigt wird. Gleichzeitig wird betont, dass auch das Gegenteil im therapeutischen Setting ebenso häufig vorkommt: die Unterdrückung von Wut. Auch auf diesen Aspekt wird dezidiert eingegangen.
In Kapitel zwei geht es um die Ursachen und Psychodynamik von pathologischer Wut. Hier unterscheidet Jacob danach, ob es ein Zuviel an Wut gibt oder keine Wut gezeigt wird. Therapeutisch sucht man im ersten Fall nach dem Gefühl hinter der Wut und im zweiten Fall geht man auf die Suche nach der Wut. Die unangemessene Wut als Abwehr von Verletzlichkeit ist eines der Verhaltensmuster, die hinter der eigentlichen Wut liegen.
Danach zeigt Kapitel drei auf, wie die Wut in der konkreten therapeutischen Art berücksichtigt werden und welche Funktionen sie für die Betroffenen übernehmen kann. Dabei kann unterschieden werden zwischen angelernter Wut und der Abwehr von anderen Gefühlen, die die Wut unterdrücken hilft. Anhand von drei Fallbeispielen wird diese Differenzierung konkretisiert. Danach geht die Autorin auf typische Funktionalitäten von Wut ein (29ff). Wut kann auf verschiedenen Ebenen einen Nutzen für den Menschen haben: Sie kann andere Gefühle fernhalten, interpersonelle Konflikte vermeiden und Ängste fernhalten.
Die Autorin geht näher auf einzelne Aspekte ein und beschreibt die Abwehr verletzlicher neurotischer Gefühle: dem Vermeiden tatsächlicher Themen und Probleme im Leben, an Illusionen festzuhalten, Trauer zu vermeiden, das Ausleben von Macht über andere, sich als Märtyrer oder Held zu fühlen und Aufmerksamkeit und/oder Versorgung zu bekommen.
Bei all diesen Ausdrucksformen der Wut, stellt sich die Frage, „inwieweit die Äußerungen von Wut, Ärger und verwandten Gefühlen als psychischer Widerstand interpretiert“ (36) werden können. Aber mit der Funktion der Abwehr steht die Wut ja nicht allein. Als weitere Symptome des Widerstandes und der Vermeidung nennt die Autorin den depressiven Rückzug und die soziale Vermeidung, den Gebrauch von Substanzen, Zwangssymptome und die Dissoziation.
Inwieweit lassen sich diese Formen von der der Wut abgrenzen? Als Orientierung nennt die Autorin drei Facetten: den Schweregrad, der auf eine massive psychische Erkrankung hinweisen kann, den Verstärkerwert, der ein Ausdruck des Gewinns des Verhaltens darstellt und daher für die Betroffenen eine hohe Bedeutung hat und die Herausforderung für den Therapeuten, der u.U. in die Dynamik einer Konfrontation einsteigen muss.
Kapitel vier versucht den Widerstand im therapeutischen Prozess einzuordnen. Die Autorin stellt gleich die Frage, ob es sich lohnt, mit dem Fall ergebnisorientiert zu arbeiten. „Mit ergebnisorientiert ist hier gemeint, die Patientin klar mit der Wut zu konfrontieren, ihre Bedeutung zu eruieren und mit den Gefühlen und Herausforderungen zu arbeiten, die von der Wut aktuell noch abgewehrt werden“ (41). Es wird darauf hingewiesen, dass die Therapie keine Garantie vergeben kann und nur ein kleiner Prozentsatz der Therapien auch erfolgreich beendet wird. Umso wichtiger ist es, sich bei der Fallauswahl darauf zu konzentrieren, wo wirklich erfolgreich gearbeitet werden kann. Indikatoren für weniger gute Aussichten sind, wenn die Patientin darum bittet, bestimmte Themen nicht zu bearbeiten oder das Vorliegen eines Rentenbegehrens. In diesem Fall muss der Leidensdruck aufrechterhalten werden, damit die geplante Rente Wirklichkeit werden kann.
In der konkreten Arbeit ist es aus Sicht der Autorin entscheidend, „die Welt zu berücksichtigen, in der Ihre Patientin lebt – es geht nicht darum, wie realistisch bestimmte Schritte und Entwicklungen für Sie selbst in Ihrer eigenen Welt wären, sondern wie realistische sie sind in der Welt der Patientin“ (43). Indikatoren für eine gelingende gemeinsame Arbeit sind bei jungen Menschen, wenn für die Zukunft noch wegweisende Entscheidungen getroffen werden können und sie über ein gewisses Maß an Ressourcen verfügen. Hinzu kommt, wenn ein echter Leidensdruck erkennbar ist.
Am Widerstand wird höchstwahrscheinlich festgehalten, wenn es einen hohen sekundären Krankheitsgewinn gibt, große Entscheidungen nicht mehr gefällt werden können und wenige Ressourcen vorhanden sind. Außerdem erschwert es die Arbeit, wenn man entgangenen Chancen im Leben betrauert und am Widerstand nicht leidet und die Verstärkung durch den Widerstand z.B. Machterleben ein hoher Gewinn für die Betroffenen darstellt (43f).
Im weiteren Verlauf wird darauf eingegangen, welche Unterschiede es zwischen der Wut und anderen Abwehrstrategien gibt, was man tun kann, wenn die Wut nicht erkennbar und vermeiden wird und welche Konsequenzen das für die Therapie hat.
Zum Abschluss veranschaulicht ein Schaubild mit Entscheidungslinien die Frage, ob die Arbeit am Widerstand das Leben der Patienten verbessern kann (49).
Es werden die möglichen Schritte in der Therapie aufgezeigt (Distanz zur Wut finden, Arbeit am Selbstwert). Dabei geht es oft um die Verbesserung der Lebensbedingungen und die Begleitung des Lebensalltags. Die sind aber eher die Domaine der Sozialarbeiter*innen als die der Therapeut*innen. Da es aber viel zu wenige Sozialarbeiter*innen in diesem Feld gibt, kann eine kurzfristige Lebensbegleitung durch den Therapeuten durchaus sinnvoll sein.
Kapitel fünf beschäftigt sich damit, wie ein Abstand zur Wut hergestellt werden kann und die dahinterliegenden Gefühle erkannt und benannt werden können. Um die Distanz für die Patient*innen von der Emotion zu ermöglichen ist es nötig, den Widerstand konsequent anzusprechen, um dann mit diesen Anteilen arbeiten zu können. Dies wird anhand von Fallbeispielen, wie schon in den vorherigen Kapiteln, vertieft. Ein eigener Abschnitt beschäftigt sich mit Patient*innen, die die Wut nicht zeigen können. Bei diesen ist die Emotion und der damit verbundene Widerstand nicht so einfach zu erkennen und zu bearbeiten. Die nicht gezeigte Wut ist sozial erwünschter und zeigt auch gesunde Anteile. „Für die Therapie bedeutet das, dass bei der Analyse der Abwehr mit dem Patienten immer überlegt werden muss, welche Anteile davon >gesund< und welche eher pathologisch sind“ (72).
Das sechste Kapitel widmet sich der Frage, wie vulnerable Gefühle hinter der Wut bearbeitet und reduziert werden können. Ein erster Schritt ist es, den Selbstwert zu stärken. Der Selbstwert ist bei vielen psychischen Verhaltensauffälligkeiten ein Schlüssel hin zu einer möglichen Veränderung. Die Autorin beschreibt Techniken, die dies erreichen können, wie das imaginative Überschreiben, die Tierübung, Positiv- oder Dankbarkeitstagebücher, die positive Selbstachtsamkeit, den Stuhldialog mit dem inneren Kritiker oder die Schematherapie bei Persönlichkeitsstörungen.
Falls nötig, gilt es auch die Coabhängigkeit zu bearbeiten. Häufig werden wenig hilfreiche Beziehungen aufrechterhalten, weil Verlustängste vorhanden sind und eine damit einhergehende Einsamkeit vermieden werden soll. Die Autorin betont, dass vor der Arbeit mit dem Selbstwert zunächst Illusionen verabschiedet werden müssen, an denen die Patienten festhalten. Sie benennt die Indikatoren, die anzeigen, dass an abhängigen Beziehungen festgehalten wird, wie z.B. fehlender Aufbau einer Selbstfürsorge oder der Ausstieg aus emotionsfokussierten Techniken (80).
Das frühzeitige Erkennen der eigentlichen Gefühle und der damit verbundenen Abwehrstrategien wird im Folgenden am Beispiel der Trauer und der Verantwortung für das eigene Leben aufgezeigt. Hier gilt es aus Therapeutensicht, achtsam und konsequent auf die Signale und Botschaften zu reagieren. Denn Betroffene, die in ihrer Lebenssituation verharren, können keine Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen. Die Frage, ob sie es nicht können oder nicht wollen, ist für die Autorin unerheblich. Entscheidend ist für sie, dass sie es nicht tun (83).
Zum Schluss des Kapitels wird aufgezeigt, wie das Erleben und Zeigen von Wut gefördert werden kann wie z.B. mit Stuhldialogen, erlebnisorientierte Förderung von Wut, mit imaginativem Überschreiben, indem die Angst vor der Wut bearbeitet wird und indem die Therapeut*in selbst keine Angst vor ihr zeigt (87ff).
Bei Menschen mit intensivem Wuterleben kommt es darauf an, zu lernen sich in kritischen Situationen selbst zu beruhigen, z.B. mit Atemübungen, beruhigenden Vorstellungsbildern oder Entspannungstechniken.
Das siebte Kapitel widmet sich den sozialen Kompetenzen und dem angemessenen Ausdruck der eigenen Bedürfnisse. Es wird aufgezeigt, wie die Förderung sozialer Kompetenzen gelingen kann. „Implizit wird … davon ausgegangen, dass ein besseres Verständnis für seine Bedürfnisse und eine weniger ausgeprägte Selbstabwertung dazu führen, dass des dem Patienten auch spontan schon viel besser gelingen kann, seine Bedürfnisse und Grenzen angemessen auszudrücken“ (93).
Entscheidend ist es hierbei, die Lebenswelt der Patient*innen zu berücksichtigen. In dieser wurden Muster erlernt und neues Verhalten wird dort neu eingeübt. Die eingeübten Interaktionsweisen müssen in der Lebenswelt der Patient*innen passen und nicht in der der Therapeuten.
Es folgen noch drei weitere sehr kurze Kapitel von einigen Seiten, die sich damit beschäftigen, wie man die Emotionsregulation verbessern (Kapitel neun), die Verstärkerbilanz verbessern und wie man mit der Arbeit mit Wut im Verlauf der Therapie umgehen (Kapitel zehn) kann.
Das elfte Kapitel macht Überlegungen zur Selbsterfahrung der Therapeut*innen. Um mit wütenden Patient*innen zu arbeiten braucht es ein therapeutisches Know-how und Erfahrung, einen gesunden Menschenverstand, keine Angst vor starken Gefühlen und die Beherrschung von eigenen emotionalen Mustern.
Das therapeutische Know-how speist sich aus der Fähigkeit, die Psychodynamik eines Falles zu verstehen und dafür ein klares Fallkonzept zu nutzen (108).
Der gesunde Menschenverstand berücksichtigt, dass es neben einer psychologischen Funktionalität noch andere entscheidende Einflussfaktoren im Leben gibt. Die Autorin verweist in diesem Zusammenhang auf die biopsychosozialen Rahmenmodelle als Erkenntnismodelle. Sie weist darauf hin, dass andere Berufsgruppen, wie die Hausärzte und die Sozialarbeiter wichtige Hinweise zu den biosozialen Faktoren geben können.
Und wieder geht es darum, die eigene privilegierte Lebenswelt zu reflektieren, um den Patient*innen in der therapeutischen Arbeit in ihrem individuellen Erleben auch gerecht werden zu können.
Im zwölften und letzten Kapitel geht es um extreme Situationen im Erleben von Wut. Dabei denkt man zunächst an Selbst- und Fremdgefährdungen. Weiter nennt die Autorin den malignen Narzissmus, der im ersten Kontakt gar nicht so auffällt, wenn er durch eine Depression verdeckt ist. Wird diese dann bearbeitet, kann die unterschwellige Wut wieder hochkommen, solange, bis wieder eine depressive Erschöpfung eintritt. Dieser Teufelskreis kann durchbrochen werden, wenn man die Vorgeschichte beachtet. Häufig gab es schon vorher Therapien, die gescheitert sind. Vielleicht wurde dort der Narzissmus gefüttert, sodass die Therapeutin zur Zielscheibe der Aggression wurde.
Diskussion
Das Buch bietet einen guten Einstieg für die therapeutische Begleitung von Patient*innen mit Problemen mit der Wut. Man erfährt alles Notwendige über die Ausmaße und den Umgang mit der Wut und vor allem, was an vulnerablen Gefühlen hinter dieser Emotion vorhanden sein kann. Klar wurde, wie wichtig es ist diese wahrzunehmen und zu bearbeiten. Ebenso hilfreich war die durchgehende Unterscheidung zwischen der gelebten Wut und der Wut, die nicht gezeigt werden kann und versteckt wird. Die theoretischen Ausführungen wurden in allen Kapiteln mit Fallbeispielen anschaulich vertieft.
Insgesamt ein umfassender Einstieg, der allerdings nicht thematisiert, welche positive Kraft in dieser Emotion liegen kann, wie es von Aderkas (2021) in ihrem Buch beschreibt. Sie betont ähnlich wie Jacob, dass der eigene Selbstwert der Einstieg in einen neuen Umgang mit der Wut ist. Der Schlüssel ist, immer besser für sich selbst zu sorgen und seine Bedürfnisse ernst zu nehmen.
Fazit
Wer sich schnell und umfassend mit der Auseinandersetzung mit der Wut in einem therapeutischen Kontext einarbeiten will, ist mit dem Buch gut bedient. Vor allem die vielen Fallbeispiele machen das Erleben und den Umgang mit dieser Emotion, führen den Lesern die Realität vor Augen.
Rezension von
Dr. Winfried Leisgang
Dipl. Soz.-Päd., Master of Social Work (M.S.W.)
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Zitiervorschlag
Winfried Leisgang. Rezension vom 05.04.2023 zu:
Gitta Jacob: Wut. Emotionsarbeit in der Psychotherapie. Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2022.
ISBN 978-3-621-28950-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29918.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
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