Ariane Leendertz: Der erschöpfte Staat
Rezensiert von Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt, 06.12.2022

Ariane Leendertz: Der erschöpfte Staat. Eine andere Geschichte des Neoliberalismus. Hamburger Edition (Hamburg) 2022. 480 Seiten. ISBN 978-3-86854-365-0. D: 40,00 EUR, A: 41,10 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
Das Buch ist die Habilitationsschrift der Historikerin Ariane Leendertz. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften in München. Das Buch handelt vom Umbau staatlicher Institutionen und – wie die Autorin in der Einleitung formuliert – von der Kunst und dem Leid des Regierens in der realen demokratischen Praxis. Im Zentrum der Arbeit steht hierbei die historische Entwicklung in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in 8 Kapitel und ein Fazit. Wie für Habilitationen Standard, wird einleitend die Methode und der theoretische Zugang erläutert, sowie die Quellen, auf die Bezug genommen wird, genannt. Das erste Kapitel befasst sich mit der urbanen Krise und der Reaktion staatlicher Programme auf die sichtbar werdenden Verwerfungen wie Arbeitslosigkeit, Armut, Verschmutzung, Kriminalität und soziale Delinquenz. Schon hier wird das Bemühen der Autorin deutlich, die Rolle der Sozialwissenschaften bei der Formulierung und Ausarbeitung politischer Programme zu beleuchten und die Wissenschaftsbasierung von Politik näher in den Blick zu nehmen.
Die Urban Crisis war die Basis einer sich entwickelnden Staatskritik, die von der Policyforschung aufgegriffen wurde. Diese Entwicklung behandelt das zweite Kapitel. Hierbei steht das Problem der Komplexität im Mittelpunkt, das die Autorin in enger Nähe und teilweiser Überlappung mit der Chaostheorie verortet. Dieser Begriff erhielt zunehmend politische Signifikanz, wobei die Interdependenz verschiedener Problemlagen in den Vordergrund gerückt wurde und die „Orthodoxie“ traditioneller Problemlösungsansätze zunehmend als fragwürdig erachtet wurde. In der Folge reflektiert die Autorin die Verbindung von Komplexität und Architektur und die Computertechnologie, die als ein vielversprechendes Instrument der Reduktion von komplexen Aufgabenstellungen fungieren kann.
Im dritten Kapitel – Komplexität und Regierbarkeit – wird wieder auf die enge Verzahnung von sozialwissenschaftlicher Theoriebildung und gesellschaftlichen Entwicklungen eingegangen, die sich – so die Autorin – „unmittelbar vor der Haustür“ der Wissenschaftler abspielten. Im Rahmen dieser Entwicklung verflochten sich in den Diskussionen über die Regierbarkeit Begriffe und Denkfiguren aus der wissenschaftlich-analytischen Systemtheorie und Policyforschung mit politisch ausgerichteten Krisendiagnosen. Aus der „Revolution steigender Erwartungen“ (so der Soziologe Daniel Bell) wurde eine „Revolution steigender Ansprüche“, die angesichts verschärfter Verteilungskonflikte eine „Überladung des Staates“ (so Ariane Leendertz) zur Folge hatte. Die Reduktion von Staatsaufgaben schien als geeignete Reaktion auf diese Entwicklung.
Im vierten Kapitel werden „Urban Policy und Urban Crisis in den 1970er Jahren“ zum Gegenstand. Hier wird eine zentrale These der Arbeit formuliert, die im Wegbrechen der wissenschaftlichen Grundlagen des von der Autorin so genannten „solutionism“ ihren Ausdruck findet. Die Skepsis der Policyforschung bezogen auf die Problemlösungskapazität des Staates kombiniert sich mit realen politischen Steuerungsproblemen. In einem historischen Rückblick auf die Umgangsweise verschiedener US-Regierungen mit der Urban Crisis wird auf die bedrängte Lage vieler Städte und ihrer Einwohner eingegangen und das Changieren zwischen neoliberaler Programmatik und staatlicher Einflussnahme detailliert reportiert.
Im fünften Kapitel „National Urban Policy“ wird hieran angeknüpft und die Bemühungen von Patricia Harris unter der Regierung von Präsident Carter einer eingehenden Analyse unterzogen. Hierbei ging es wesentlich um Steuerungsobjekte und vielschichtige Problemstellungen, „für die es weder die eine noch eine definitive Lösung gab“ (S. 227). Die von der Autorin hervorgehobene Malaise – die Erschöpfung des politischen Lösungsdenkens – spielte Wirtschafts- und Rational-Choice-Theorien in die Hände, aus deren Sicht jeder Eingriff in die vermeintlich freien Wahlentscheidungen von Menschen und Unternehmen als eine Beschneidung individueller Freiheit angesehen wurde. Die Präsidentschaft von Ronald Reagan griff dies auf und nahm institutionelle Weichenstellungen vor, die die Autorin mit der Formel „Den Staat auf Diät setzen: Steuersenkungen und Haushaltskürzungen“ auf den Begriff bringt. Reagans Marktradikalismus – so die an spätere US-Präsidenten erinnernde Diagnose – „überschnitt sich mit libertärem Gedankengut, das sich ebenfalls in seinem Hohelied auf individuelle Entfaltung, Kreativität und Selbstverwirklichung widerspiegelte“ (S. 265/266). Es ging um eine Revision des Great-Society-Liberalismus und (die Autorin erläutert dies am Beispiel der „Enterprise-Zones“) um eine marktradikale Strategie der Zurückdrängung des Staates und der Aufwertung von Unternehmen auch für infrastrukturelle und öffentliche Aufgaben.
Das siebte Kapitel behandelt die neue „Philosophie der Urban Policy“, die eng mit der Public-Choice-Theorie in Zusammenhang steht. Diese stellt sich als ein Sammelbegriff für stark ökonomisch ausgerichtete Auffassungen dar, die sich auf die Zurückdrängung des Staates, seiner Eingriffsmöglichkeiten in wissenschaftliche und soziale Belange und auf die Abwicklung des aktiven Staates der Great Society konzentrieren. Lediglich der Markt und das kapitalistische System spiegeln demnach die Freiheit des Individuums und die USA – so die dezidierte Kritik – seien auf dem Weg, dies durch Kollektivismus und Sozialismus zu zerstören. Der Gedanke, dass Markt und Wettbewerb Garanten von Effizienz und Qualität darstellen, wurde auch auf den öffentlichen Sektor übertragen und im so genannten New Public Management zu einem Programm der unternehmerischen Reorganisation des öffentlichen Dienstleistungssektors ausgeweitet.
Das „New Public Management und der Boom der 1990er Jahre“ ist denn auch der Gegenstand des abschließenden achten Kapitels. Hier wird zunächst nachgezeichnet, dass es der Policy-Forschung wesentlich um die Begriffe von Gonvernance und Netzwerken ging, der Focus also vom Staat und dem politisch-administrativen System wegrückt und auf nichtstaatliche Akteure und internationale Beziehungen stärker Bezug nimmt. Unter der Clinton-Regierung entwickelte sich ein anderes Verständnis von den Aufgaben und Funktionen der Ministerialbürokratie als unter Ronald Reagan. Durch Konjunkturpakete und Fördermittel für gemeinnützige Organisationen sollte ein Investment in die Community angeregt werden. Clinton wollte sich auf public-private-partnership konzentrieren und im Rahmen einer Bildungs-, Qualifizierungs- und Arbeitsmarktoffensive die Eigenverantwortung gesellschaftlicher Akteure stärken. Ob dies allerdings zu den gewünschten Resultaten führte muss bezweifelt werden. Ariane Leendertz formuliert ihre Skepsis dahingehend, dass der Markt und der ökonomische Wettbewerb auch nicht in der Lage waren, die „komplexen“ Probleme, an denen der Staat vermeintlich gescheitert war, zu lösen. Das Platzen der Immobilienblase im Jahr 2007 signalisiert das Ende der Illusion, dass sich Finanzmärkte und Hypothekenmärkte selbst regulieren können und „es war der Staat, der nun die Folgeprobleme eines von ihm selbst mit entfesselten Marktes bewältigen musste“ (S. 424).
Im abschließenden Fazit werden die wesentlichen Ergebnisse der Studie noch einmal aufgegriffen und hervorgehoben, dass diese nahelegen, nicht nur Ideen oder Institutionen zu untersuchen, sondern die Verschränkung von ideellem und institutionellen Wandel stärker in das Blickfeld geraten sollte. Um den Wandel von Staatlichkeit zu erfassen, sollten möglichst viele Politikfelder und Bereiche untersucht werden.
Diskussion
Ob das Buch tatsächlich – wie es der Titel suggeriert – eine „andere Geschichte des Neoliberalismus“ erzählt, als dies gemeinhin üblich ist, darf bezweifelt werden. Zwar zeichnet die Autorin mit großer Kenntnis der Institutionen und Akteure detailliert nach, wie Markt und Wettbewerb zunehmend zu den Institutionen staatlicher Politik wurden, die gesellschaftliche Probleme „lösen“ sollten. Aber die staatliche Durchsetzung von Eigenverantwortung, der Umbau des Sozialstaats und die Zurückdrängung des Einflusses öffentlicher Institutionen ist als „Landnahme“ (also der Durchsetzung kapitalistischer Handlungslogiken in traditionell dem Markt entzogenen Bereichen) eigentlich nichts Neues. Die im Buch dargestellten Entwicklungen unterscheiden sich nicht grundsätzlich von anderen (kritischen) Reportagen des sich entfesselnden Kapitalismus.
Die Autorin wählt bei ihrer Studie eine dezidiert normative Perspektive, die mit einem ungebrochen politikwissenschaftlichen Idealismus davon ausgeht, dass Staat und politisch-administratives System „Problemlösungen“ anzielen, wenn sie urbane Krisen und ihre Folgewirkungen bearbeiten (man wüsste an mancher Stelle wirklich gerne, welche das denn sein sollen?). Diese Perspektive ließe sich auch umkehren, und die Frage stellen, ob Staat und politisch-administratives System mit ihrer rechtlichen Durchsetzungskraft nicht ein System aufrechterhalten, dass diese Krisen und Verwerfungen systematisch und dauerhaft hervor bringt und die „solution“ darin besteht, dass die kapitalistische Marktwirtschaft nicht beherrscht, sondern befördert werden will. Das würde auch die Perspektive auf die Bedeutung der Politikwissenschaft verändern, die sich (und das Buch zeigt dies in verschiedener Hinsicht in hervorragender Weise) als wissenschaftlicher Motor und fundamentalistischer Befürworter staatlicher Politik geriert, der sie dann doch immer nur hinter her hechelt. Dass der „erschöpfte Staat“ eine relative Metapher ist, zeigt ja nicht nur der Ukraine-Krieg, der dem US-amerikanischen Staat bislang mehr als 50 Milliarden US-Dollar an Unterstützungsleistungen wert war, sondern auch die von der Autorin zurecht an den Schluss der Arbeit gestellte Tatsache, dass es der Staat ist, der das „Versagen“ des Marktes korrigiert und hierfür die Zahlungskraft seiner Bürgerinnen und Bürger in Anspruch nimmt.
Fazit
Ariane Leendertz hat eine eindrucksvolle Arbeit vorgelegt, die für die wissenschaftliche und politische Auseinandersetzung mit der Geschichte neoliberaler Programmatiken Standards setzt. Das Buch ist eine historisch kenntnisreiche Analyse einer Entwicklung, die oftmals viel zu pauschal als neoliberales Zeitalter gekennzeichnet wird. Es kann als Lektüre für alle an dieser Entwicklung Interessierten nur empfohlen werden.
Rezension von
Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt
Professor i.R. für Sozialmanagement, Verwaltung und Organisation am Fachbereich Sozialarbeit der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe Bochum
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Zitiervorschlag
Norbert Wohlfahrt. Rezension vom 06.12.2022 zu:
Ariane Leendertz: Der erschöpfte Staat. Eine andere Geschichte des Neoliberalismus. Hamburger Edition
(Hamburg) 2022.
ISBN 978-3-86854-365-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29921.php, Datum des Zugriffs 28.03.2023.
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