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Mathias Günther: (Wie) Funktioniert unsere Gesellschaft, Herr Luhmann?

Rezensiert von Prof. Dr. Heiko Kleve, 13.11.2023

Cover Mathias Günther: (Wie) Funktioniert unsere Gesellschaft, Herr Luhmann? ISBN 978-3-339-13072-3

Mathias Günther: (Wie) Funktioniert unsere Gesellschaft, Herr Luhmann? Ein fiktives, aber reales Interview mit dem Soziologen Niklas Luhmann. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2022. 780 Seiten. ISBN 978-3-339-13072-3. D: 69,80 EUR, A: 71,80 EUR.
Reihe: Soziologische Themen zur Diskussion - 11.

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Thema

Die soziologische Systemtheorie von Niklas Luhmann gilt als schwer zugänglich. Denn sie stellt ein äußerst komplexes Werk dar, das in zahlreichen Büchern präsentiert wird, die sämtliche gesellschaftlichen Systeme behandeln. Dabei wird eine fachwissenschaftliche Sprache genutzt, die mit kompliziert klingenden Begriffen arbeitet, die zum Teil in kontraintuitiver Weise soziale Phänomene beschreiben und erklären. Deshalb gibt es inzwischen etliche Einführungsbücher in diese Theorie, die klassisch wissenschaftlich angelegt sind, manchmal aber auch ungewöhnlichen Stilmitteln folgen. Zu denken ist hier beispielsweise an das Einführungsbuch „Niklas Luhmann – beobachtet“, welches Peter Fuchs 1992 in erster Auflage beim Westdeutschen Verlag publiziert hat. Damit präsentiert Fuchs ein fiktives Kolloquium von Wissenschaftlern und Studierenden über Grundfragen der Luhmannschen Theorie, das amüsant zu lesen ist.

In ähnlicher Weise geht Mathias Günther in seinen beiden Bänden vor: Er präsentiert ein fiktives Gespräch zwischen einer an der Systemtheorie interessierten Person und Luhmann. Während Fuchs jedoch nicht nur die Sachebene der Kommunikation des von ihm geschilderten Kolloquiums veranschaulicht, sondern auch nonverbale und soziale Dynamiken der aufeinanderfolgenden Mitteilungen seiner Protagonisten beschreibt, bleibt Günther ganz bei der sachlichen Inhaltsebene. So offerieren seine beiden Bände ein äußerst umfangreiches, zwar fiktives, aber auf von Luhmann publizierten Arbeiten fußendes Interview. In dieser Weise werden nahezu alle Themenstränge der Theorie angesprochen.

Autor

Näheres über den Autor dieser beiden Bände, Mathias Günther, erfahren die interessierten Leser/​innen in dem Werk leider nicht. Das Einzige, was er von sich offenbart, ist, dass er seit Oktober 2016 gemeinsam mit Prof. Dr. Karl-Siegbert Rehberg an der Technischen Universität Dresden einen Luhmann-Gesprächskreis anbietet, bei dessen Teilnehmern er sich im Vorwort bedankt (S. 15). Mit einer Recherche auf den Seiten der TU Dresden erfährt man zudem, dass Dr. Mathias Günther auch im Jahre 2021 den Gesprächskreis fortsetzte. Ob der Kreis nach wie vor existiert und in welcher Weise Herr Günther sich weiterhin mit Luhmanns Systemtheorie befasst, konnte ich mit meiner Internetrecherche nicht herausfinden.

Aufbau und Inhalt

Es handelt sich um ein sehr umfangreiches Werk, das – wie bereits geschrieben – ein fiktives mehrteiliges Interview mit Niklas Luhmann dokumentiert. Die Interviewerin trägt den Namen Lilli Kramer, und als Zeitraum für die Interviewteile ist der 7. bis 29. Juli 1997 angegeben.

Die Interviews werden in 30 Buchkapiteln präsentiert, in denen die folgenden Themen dialogisch, also durch interessierte Fragen der Interviewerin und der darauf bezogenen Antworten Luhmanns verhandelt werden:

  1. In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?
  2. Warum wird man „Luhmannianer“?
  3. „Das ist mir alles viel zu komplex …“
  4. Identität oder Differenz? Das ist hier die Frage!
  5. Wir müssen zuhören! Wir brauchen mehr Verständnis füreinander! Wir müssen endlich miteinander reden …!
  6. Ein soziologischer Schnellkurs: Selbstreferenz und Fremdreferenz, Autopoiesis, Sinn, doppelte Kontingenz.
  7. Politik ohne Menschen? Wirtschaft ohne Recht? Bildung ohne Wissenschaft? Wie kann das funktionieren?
  8. Wieso schaffen Macht, Geld, Recht, Liebe, Glaube oder Wahrheit soziale Ordnung?
  9. „Alle Menschen werden Brüder“ … aber wie soll das gehen?
  10. Alles wird immer besser oder nur anders? Oder: Fortschritt in der Gesellschaft?
  11. Erst alte, dann hochkulturelle und heute moderne Gesellschaft – und was kommt danach?
  12. Weltgesellschaft oder Nationalstaat – oder beides?
  13. „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ oder: „der blinde Fleck“
  14. „Das ist doch paradox – das geht gar nicht!“ [!]
  15. Regiert Geld die Welt?
  16. Vertrauen in die „Machtpolitiker“?
  17. „Wir wollen Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“
  18. Wissenschaft? Ich vertraue lieber meinen Erfahrungen!
  19. Massenmedien: Lügenmedien?
  20. Hat die Religion die beste Zeit hinter sich?
  21. Die Erziehung steht vor dem Problem, dass sie nicht kann, was sie will.
  22. „Das ist doch keine Kunst, das kann doch jeder“
  23. Liebe – ein riskantes soziales Geschäft!
  24. Totale Entfremdung des Individuums? Oder „Sei einfach, der du bist!“
  25. Woher drohen Risiken und Gefahren für die moderne Gesellschaft?
  26. Brauchen wir mehr oder weniger Moral?
  27. „Wie Sterne am Himmel gibt es … unzählige Werte“ – doch was können sie leisten?
  28. Protestbewegungen als Alarmauslöser
  29. Wir müssen vernünftig sein – aber wie ist das möglich?
  30. Ideologie, Utopie, Theorie oder Soziologe? Oder: Wie beobachtet sich die Gesellschaft selbst?

Flankiert werden diese 30 Kapitel durch einen umfangreichen Anhang, in dem mit Endnoten alle Luhmann-Zitate und -Paraphrasen dokumentiert werden, das Siglenverzeichnis der Luhmann-Werke und anderer Autoren enthalten ist, die Internetquellen aufgeführt sind sowie ein Literaturverzeichnis und ein Begriffsindex die beiden Bände komplettieren.

Diskussion

Um es gleich vorweg zu sagen: Wer eine Luhmann-Einführung benötigt, sollte nicht gleich dieses umfangreiche Werk zur Hand nehmen. Denn die Lektüre dieser beiden Bände setzt ein Grundverständnis nicht unbedingt der Systemtheorie, aber der Soziologie voraus. So richtet sich das Buch wohl eher an Leute, deren soziologisches bzw. gesellschaftswissenschaftliches Interesse nach einem systemtheoretischen Tiefgang sucht, der sich durch eine abwechslungsreiche Lektüre faszinieren lassen will und einen etwas ungewöhnlichen Zugang nicht scheut. Ungewöhnlich ist der Interviewstil der Bände, in denen Luhmanns Theorie in breiter wie tiefer Form hinsichtlich der oben genannten Fragestellungen präsentiert wird.

Mathias Günther schafft es in dieser Weise tatsächlich, einen spannenden Zugang zum Gesamtwerk von Niklas Luhmann zu offerieren. Dabei verfolgt er aber nicht nur die Intention, eine zeitlose Luhmann-Beschäftigung zu ermöglichen, sondern möchte gegenwartsgesellschaftliche Themen (z.B. das Erstarken populistischer Bewegungen, Demokratiedefizite, Digitalisierung oder wirtschaftliche Krisen) aufgreifen, von denen einige erst in den letzten Jahren, also nach Luhmanns Tod, mediale wie wissenschaftliche Diskurse bestimmen. Dennoch wurden diese Themen in Luhmanns Texten „bereits zur Kenntnis genommen und momenthaft in seiner Theorie verarbeitet“ (S. 14). Zugleich betont Günther, dass Luhmann zwar „konkrete aktuelle Ereignisse, die oft mit einer Problemverschärfung einhergehen, nicht vorhersehen“ (ebd.) konnte, aber interessanterweise bereits angedacht hat. Daher hat der Autor „bei der Einbeziehung solcher Fragestellungen und der fiktiven Antworten durch Luhmann […] versucht, der Luhmannschen Gedankenwelt gerecht zu werden“ (ebd.).

Aufgrund der 30 unterschiedlichen Themenstränge, die sämtliche Fragestellungen der soziologischen Systemtheorie veranschaulichen und in den Interviews auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen beziehen, eignen sich die beiden Bände als Lektüre, die selektiv und in selbstbestimmter Reihenfolge der Themenstränge gelesen werden kann. Wenn also im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs gerade ein Thema hochploppt, so könnte man dieses durch das Lesen eines entsprechenden Buchkapitels für sich selbst, etwa in Vorbereitung eines zu führenden Diskurses, systemtheoretisch reflektieren, aufbereiten und mit entsprechender Deutungskomplexität unterfüttern.

Schließlich eignet sich das Werk zur Auffrischung der eigenen systemtheoretischen Expertise. Anhand der grundlagen-, erkenntnis-, sozial- und gesellschaftstheoretischen Fragestellungen, die in den Interviews verhandelt werden, können essenzielle Unterscheidungen, sprich: Beobachtungen, Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen der Luhmannschen Theorie erinnert und möglicherweise vor dem Hintergrund aktueller Diskurse neu durchdacht werden.

Mathias Günther hat zwei sehr interessante Bände zur Reflexion der Luhmannschen Systemtheorie verfasst, mit denen er auf Basis dieser Theorie die Frage zu beantworten versucht, ob und wie unsere Gesellschaft funktioniert. Dazu wählt er das stilistische Medium des fiktiven Interviews. Eine interessierte Person befragt Niklas Luhmann zu zentralen Themen, Problemstellungen und Antwortmöglichkeiten seiner Theorie und bekommt Antworten, die Günther aus Luhmanns Werk sowohl als Zitate als auch als Paraphrasen herausgezogen hat. Entstanden ist so ein spannend zu lesendes Werk für alle, die mit soziologischen Theorien bereits vertraut sind und insbesondere die Systemtheorie zur Reflexion aktueller Diskurse und Debatten nutzen wollen. Zugleich können Systemtheoriekenner mit der Lektüre der selektiv rezipierbaren Kapitel ihre eigene Fachexpertise auffrischen und vor dem Hintergrund gegenwartsbezogener Fragen aktualisieren.

Fazit

Dr. Mathias Günther hat mit seinen zwei Bänden zu Grundfragen der Systemtheorie von Niklas Luhmann ein sehr interessantes Werk vorgelegt, das insbesondere für mit der Soziologie bereits vertrauten Leser/innen mit Gewinn gelesen werden kann. Dabei lassen sich die 30 Kapitel in selektiver Weise und in selbstbestimmter Reihenfolge rezipieren. Gerade wer sich angesichts aktueller Diskurse und Debatten in den Medien und der Wissenschaft mit gestärkter Reflexionskraft ausstatten möchte, kann dies durch das Lesen der im Buch versammelten Interviews mit nachhaltiger Wirkung realisieren.

Rezension von
Prof. Dr. Heiko Kleve
Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft, Department für Management und Unternehmertum, Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU)
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Es gibt 21 Rezensionen von Heiko Kleve.

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ISSN 2190-9245