Tado Jurić: "Gastarbeiter Millennials"
Rezensiert von Prof. Dr. Nausikaa Schirilla, 23.07.2024

Tado Jurić: "Gastarbeiter Millennials". Exploring the past, present and future of migration from Southeast Europe to Germany and Austria with approaches to classical, historical and digital demography.
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2021.
528 Seiten.
ISBN 978-3-339-12208-7.
D: 139,80 EUR,
A: 143,80 EUR.
Schriftenreihe Studien zur Migrationsforschung - Band 20.
Thema
Migration wird in der Regel als Problem, als Herausforderung oder als Gewinn betrachtet, in der Forschung meist nur in der Perspektive eines Stake Holders, nämlich aus der des Aufnahmelandes. Dieser sehr umfassende Band widmet sich Migration aus verschiedenen Perspektiven, Herkunftsländer, Zielländer, Migrierende. Thema ist die Migration aus Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina nach Deutschland und nach Österreich sowohl historisch als auch aktuell. Diese „stillen“ aber zahlenmäßig bedeutsamen Migrationsprozesse werden selten thematisiert, da sie kein großes „Problem“ darstellen, keine Skandale und Konflikte implizieren. Durch den multiperspektivischen Blick bietet das Buch viele neue, sehr kritische Einsichten in diese Migrationsprozesse. Der grundsätzliche Tenor besteht darin, die Ungleichheit im Nutzen von Migration in diesen Migrationsbewegungen aufzuzeigen – Abbau des Fachkräftemangels insbesondere im Gesundheitswesen mit geringen Integrationskosten in den Zielländern und brain drain, Unterversorgung des Gesundheitswesen und Stabilisierung und Perpetuierung von politischer Misswirtschaft und Korruption in den Herkunftsländern. Der Profit der Migration liegt eindeutig und einseitig bei den Zielländern – das zeigt der Autor unmissverständlich.
Autor
Der Autor Tado Jurić ist Migrationsforscher und Bevölkerungswissenschaftler und lehrt in Kroatien an der Katholischen Universität von Kroatien und am Institut für Bevölkerungswissenschaft an der Universität von Zagreb. Er hat in Deutschland promoviert (bei Heiner Bielefeld, dem früherem Leiter des Deutschen Instituts für Menschenrechte) und hat zahlreiche Lehr- und Forschungsaufenthalte in Deutschland und Österreich absolviert. Bei dieser Monographie handelt es sich um seine Habilitationsschrift. Die Studie und die Publikation wurden ermöglicht durch Zuschüsse von Fonds in Kroatien und durch die Konrad Adenauer Stiftung.
Aufbau
Der Band umfasst über 500 Seiten und ist in drei große Teile gegliedert, die wiederum sehr ausdifferenziert untergliedert sind. Der erste Teil ist der „Gastarbeiter“ Migration aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland und Österreich in den Jahren 1960–1970 gewidmet. Er untersucht mit unterschiedlichen Methoden zunächst das Ausmaß der Arbeitsmigration aus dem ehemaligen Jugoslawien in die beiden Länder, die Migrationspolitik des Entsendelandes und die Integrationspolitik der Zielländer. In den weiteren Kapiteln werden die subjektiven Motive, Erfahrungen und Lebenswelten der Arbeitsmigrant*innen sowie die Medienberichterstattung rekonstruiert. Der Teil schließt ab mit einem ersten Vergleich der damaligen Gastarbeitermigration sowie den aktuellen Migrationsbewegungen.
Der zweite Teil thematisiert aktuelle Migrationsbewegungen aus Kroatien und den Ländern des westlichen Balkans, das heißt vor allem Serbien und Bosnien Herzegowina seit circa 2012 bis 2021. Für diese Migration werden zahlreiche statistische Quellen genutzt, um das Ausmaß aufzuzeigen und verschiedene push und pull Faktoren untersucht, um die Gründe zu benennen. Diese Migrationsbewegungen nennt der Autor „Gastarbeiter Millennials“, um die Parallelen zur früheren Arbeitskräftemigration aufzuzeigen und die Unterschiede der vor allem um in den Jahren vor den Jahrtausendwende geborenen neuen Migrant*innen herauszustellen.
Auch für diese Gruppen werden Migrationsmotive, Integrationspolitiken und Integrationserfahrungen erforscht, demographische Trends beschrieben und strukturelle Ursachen der Migration benannt. Auf der Ebene der Demographie wird die Frage eines Bevölkerungsaustausches von der Peripherie (der EU beziehungsweise ihrer Beitrittskandidaten) ins Zentrum thematisiert, bevölkerungswissenschaftliche Methoden diskutiert und Vorschläge für eine demographie- und migrationsbezogene EU Politik entwickelt. In dem dritten Teil geht es primär um bevölkerungswissenschaftliche Methoden. Der Autor stellt fest, dass die offiziellen nationalen, EU und internationalen Statistiken sehr späte und widersprüchliche Ergebnisse liefern. Er entwickelt Alternativen aus der digitalen Demographie und arbeitet mit Google und Facebook Analysen.
Inhalt
Wie bereits erwähnt wird in dem Band mit verschiedenen Methoden gearbeitet. In dem ersten Teil werden Statistiken der betroffenen Länder, ethnographisches Material, Medienberichterstattung und eigene qualitative Interviews mit früheren „Gastarbeitern“ genutzt. Der zweite Teil stützt sich methodisch auf eine eigene große semistrukturierte quantitative Befragung und verschiedenes Datenmaterial aus Statistiken, policy Berichten, Studien und Literatur in den betroffenen Ländern. Sie werden ergänzt durch eigene methodische Vorschläge zur demographischen Forschung zu Migrationsbewegungen wie beispielsweise Untersuchungen des Wasserverbrauchs in Herkunftsregionen.
Zentrale Ergebnisse des Bandes sind die Erkenntnis des Migrationsmusters von der Peripherie ins Zentrum – historisch wie auch aktuell und der Ungleichheiten im Nutzen der Migration, die eindeutig im Zentrum verortet werden. Der Autor stellt die Freiheit der Migration nicht in Frage, bezeichnet sie aber als schädlich für die Herkunftsländer und fordert nachdrücklich politische Gegenmaßnahmen auf EU Ebene, ja überhaupt eine EU Politik zu diesen legalen Migrationsbewegungen, die von der Politik fälschlicherweise als Win Win Situation verklärt und nicht als Gegenstand von politischen Strategien gesehen werden. Die Ungleichheit stellt eine fundamentale Ungerechtigkeit dar, die nach Einschätzung des Autors fatale Folgen haben wird.
Jurić bezeichnet die Herkunftsländer als „emigration factory“, denn seiner Meinung nach unterstützen die Regierungen der Herkunftsländer die Emigration massiv. Sie stellt eine Möglichkeit dar, Kritiker*innen von politischen Missständen und Korruption loszuwerden und diese Misswirtschaft fortzusetzen. Darüber hinaus fungiert die Emigration als ein Ersatz für Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der betroffenen Regierungen. In der Befragung der „Gastarbeiter Millennials“ stellt die Kritik an politischen Missständen, Korruption und allgemeiner Perspektivlosigkeit ein zentrales Migrationsmotiv dar. Es migrieren zudem sehr viele junge, gut qualifizierte Fachkräfte, die den Ländern sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch in der politischen Auseinandersetzung fehlen. Im Gegensatz zu der Gastarbeiterphase, wo ideologische und ökonomische Aspekte eine Rolle spielten ist es aktuell eher die politische und moralischen Desillusionierung, die zählen.
Migrationsursachen stellen ferner die demographische Entwicklung in den Zielländern dar, Überalterung und Fachkräftemangel. Der Autor argumentiert weiterhin, dass früher viele Migrant*innen nach Jugoslawien zurückkehrten, jetzt aber keine Remigration stattfindet, die jungen Fachkräfte längerfristig im Zielland verbleiben und sich problemlos integrieren. Die Zielländer, vor allem Deutschland, erhalten so ohne große Investitionen billiges wertvolles Humankapital. Die Folge ist neben dem brain drain ein Bevölkerungsverlust in vielen Regionen der Herkunftsländer, der wiederum negative Konsequenzen für Arbeitsmarkt, Gesundheits- und Bildungssystem und die politische Kultur hat. Die Struktur der Migration aus Kroatien und dem westlichen Balkan wird in den Kontext der ähnlichen Struktur der Migration aus dem südöstlichen Europa gestellt. Daher ist es für den Autor zwingend, dass die EU Politiken zu dieser Migrationsfrage entwickelt, beispielsweise Bildungsprojekte in den Herkunftsländern etabliert, die exzellente Ausbildungen je nach Bedarf der betroffenen Länder anbietet, die Nutzer:innen aber verpflichtet, eine bestimmte Zeit in den Herkunftsländern zu arbeiten. Ein zentrales Ergebnis des Bandes, vor allem auch des Demographie bezogenen dritten Teil besteht darin, dass EU Politik Migrationsbewegungen rechtzeitig erkennen, analysieren und entsprechende Politiken und Strategien entwickeln muss. Dazu gehört auch die Erleichterung der Migration von Drittstaatler:innen in die EU, um den Fachkräftemangel nicht einseitig auf Kosten der EU Peripherie zu lösen. Ferner müssen mehr fiskalische Transfers von den Zentren in die Peripherie stattfinden, beispielsweise über Investitionen in das Bildungssystem. Drittens fordert der Autor, dass die EU Sozialpolitik europäisiert werden muss und EU weite einheitliche Standards im Renten- und Gesundheitssystem sowie in der sozialen Absicherung implementiert werden sollten.
Diskussion
Der Band stellt zweifelsohne mit seiner Multiperspektivität eine ganz wichtige Innovation dar. Da die Gründe und Folgen der Migration für Herkunftsländer UND Zielländer im Fokus stehen, können Mythen der positiven Migration angegangen werden und es werden negative Aspekte und EU weite Ungerechtigkeiten und Schieflagen deutlich. Aufgrund der vielfältigen und unterschiedlichen Forschungsmethoden sind Einzelergebnisse aber nicht immer nachvollziehbar. So zeigt beispielsweise der EU Freizügigkeitsmonitor des BAMF, dass fast so viele Emigration wie Immigration stattfindet, daher also auch Remigration in die Länder des südwestlichen und südöstlichen Europa – hier müsste vielleicht mehr nach Ländern differenziert und genauer geforscht werden. Weiterentwickelt werden müssen auch die methodischen Innovationen wie Nutzung von Google Suchstatistiken oder Facebook Einträgen zur Einschätzung von Integrationsprozessen und Prognose von Migrationsbewegungen. Suchstatistiken zu Deutschkursen in den Herkunft Regionen stellen innovative Zugänge dar und sind durchaus ausbaubar, aber nicht repräsentativ, wie der Autor selbst sagt.
Fazit
Die Monographie zeigt aus verschiedenen Blickwinkeln, dass der Nutzen der EU Freizügigkeit klar bei den Zielländern der Migration liegt und negative Folgen für die entsendenden Regionen hat. Dieses Ergebnis kann nicht oft genug wiederholt werden und müsste von allen, die Migrationspolitiken und Migration dauernd und vor allem negativ thematisieren, zur Kenntnis genommen werden. Des Weiteren wird mit dem Band deutlich, dass auch die innereuropäische Migration Gegenstand von EU Politik werden muss, um europäische Ungerechtigkeiten zu verändern.
Rezension von
Prof. Dr. Nausikaa Schirilla
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