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André Niggemeier: Psychodynamik, Management und Führung

Rezensiert von Prof. Dr. Rüdiger H. Jung, 25.04.2023

Cover André Niggemeier: Psychodynamik, Management und Führung ISBN 978-3-339-12564-4

André Niggemeier: Psychodynamik, Management und Führung. Eine qualitative, modulare Analyse zur Berücksichtigung psychoanalytischer Phänomene in der akademischen und nicht-akademischen Ausbildung von Führungs- und Managementkräften in Deutschland, Österreich. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2021. 118 Seiten. ISBN 978-3-339-12564-4. D: 65,90 EUR, A: 67,80 EUR.
Schriftenreihe Schriften zur Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie - Band 90.

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Thema

Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist die Annahme, dass die Kenntnis und Berücksichtigung psychodynamischer Zusammenhänge in der Führungspraxis unzureichend ausgebildet sind. „Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Untersuchung die akademische sowie die nicht-akademische Ausbildung von Führungskräften in Deutschland daraufhin analysiert, inwieweit sie jeweils psychoanalytische Phänomene berücksichtigt.“ (S. 9)

Autor

Der Verfasser, André Niggemeier, arbeitet als wissenschaftlicher Studienortleiter sowie Lehrkraft für Sozialpädagogik & Management und Sozialpädagogik, Management & Coaching an der ‚iba University of Cooperative Education‘ in Kassel. Niggemeier ist „Beratungswissenschaftler“ mit einer Promotion zum Thema „Ausbildung von Beratenden“ an der ‚Helmut-Schmidt-Universität Hamburg‘ und einer weiteren Promotion zum Thema „Führungsforschung – Expositionsverfahren in Führung und Sozialmanagement“ an der ‚St.-Elisabeth-Universität‘ (Bratislava, Slowakei).

Aufbau und Inhalte der Publikation

Der Autor gliedert seinen gut 100 Textseiten und vier Anhangsseiten umfassenden Untersuchungsbericht in sieben Kapitel.

Auf das einleitende Kapitel 1 folgt im Kapitel 2 eine „Erläuterung von Schlüsselbegriffen und Grundlagen psychoanalytischer Führung“. Mit Bezug auf die Schlüsselbegriffe Management und Führung hält Niggemeier eine begriffliche Gleichsetzung für „grundlegend falsch“ (S. 13); er plädiert für eine strikte Unterscheidung. Niggemeier will nur dann von Führungskräften sprechen, wenn sie sich von Managerinnen und Managern als bloßen Verwaltern des Bestehenden unterscheiden durch ihre Vision, die damit verbundene jederzeitige Bereitschaft zum Brechen von Regeln, die Emotionalität und Überzeugungskraft ihrer Auftritte, ihr souveränes und risikofreudiges Agieren u.a. m. (vgl. S. 14). Mit Bezug auf den Schlüsselbegriff der Psychodynamik werden Träume, Neurosen, posthypnotische Zustände, Aggression, Angst, Widerstand und Motivation im Kontext von Führung jeweils knapp beleuchtet. Erkennbar ist in diesen, häufig auf die Psychoanalyse von Sigmund Freud rekurrierenden, Ausführungen das Anliegen des Autors, dass Führungskräfte für sich selbst wie im Blick auf ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über die Kompetenz verfügen, problematische, auch auf frühkindliche Erfahrungen zurückgehende, Verhaltensprägungen „zu analysieren und letztlich zu überwinden.“ (S. 31)

Kapitel 3 ist mit 45 Seiten das umfangreichste Kapitel der Schrift. Es stellt „psychoanalytische Phänomene“, die für „Führung und Management von Bedeutung sind“, dar. Sie bilden die Grundlage für die Ableitung von 54 „Analysekategorien“, auf die hin die Curricula der Führungskräfteausbildung untersucht werden. Zunächst beschreibt Niggemeier ‚Containment‘ als „Konzept der psychoanalytischen Führung“, „um seelische Belastungszustände zu bewältigen.“ (S. 34, 33) Er geht davon aus, dass bei Mitarbeitern ihre in der Kindheit geprägten Anerkennungs- und Aufmerksamkeitswünsche in der betrieblichen Situation unbewusst eine Rolle spielen und „die Führungskraft dann automatisch in eine Elternrolle“ gerät (S. 34). Das Kapitel bringt im Weiteren Ausführungen zu Aggression, zu psychotherapeutischen Konzepten wie Konfrontation und Exposition, die knappe Skizzierung eines Modells für ein synergetisches Prozessmanagement sowie eine ausführlichere Betrachtung (Kap. 3.5 bis 3.8) des Konzepts der „Synergetik“ (Haken/​Schiepek) in seiner Nutzbarmachung für die Führungsarbeit. Eingebettet in diesen Teil sind Ausführungen zur systemischen Intervention und deren Arbeitstechniken (zirkuläres Fragen, Systemaufstellungen u.a.m.), zum Einsatz eines „Therapie-Prozess-Fragebogens“ in der Führungsarbeit, Hinweise auf die von Schiepek u.a. veröffentlichten Messungen der Emotionsdynamik bei Probanden unterschiedlicher Settings, die Skizzierung zweier Phasenmodelle für Veränderungsprozesse und schließlich eine Beschreibung der von Haken/​Schiepek entwickelten und unter dem Aspekt der Organisationsentwicklung auch von Schiersmann/​Thiel aufgegriffenen „generischen Prinzipien“ für die „Gestaltung von Ordnungswandel“ unter Beachtung der Dynamik selbstorganisierender Prozesse (alle Literaturverweise leider ohne Seitenangaben). Niggemeier spricht in seinen Ausführungen von „Beratungsprozess/Führungsprozess“ oder „Beratungs- und Führungsverlauf“ – wobei die damit einhergehende Rollenbeschreibung unklar bleibt.

Mit Kapitel 4 („Methodik der Untersuchung“) beginnt die eigentliche Untersuchungsbeschreibung. Der Autor stellt noch einmal die Untersuchungsfrage („Forschungsfrage“) klar: „Inwieweit berücksichtigen die untersuchten Curricula der akademischen Ausbildung von Führungskräften psychoanalytische Methoden?“ Zur Beantwortung der Frage wurden 150 Curricula von Hochschulen und nicht-wissenschaftlichen Fort- und Weiterbildungen für angehende und bereits praktizierende Führungskräfte einer softwaregestützten (MAXQDA) Inhaltsanalyse unterzogen: 50 Curricula von Hochschulen mit dem Schwerpunkt „Führung im Sozial und Gesundheitswesen“, 50 Curricula von Hochschulen mit dem Schwerpunkt „ Führung in Wirtschaft und Profit-Unternehmen“, 50 Curricula von nicht-akademischen Fort- und Weiterbildungen mit dem Schwerpunkt „Führungskräfteausbildung“ (alle 150 Institutionen sind im Anhang der Schrift aufgeführt; ebenso die „Liste der Analysecodes“).

Die Ergebnisse der Analyse werden in Kapitel 5 dargestellt (einschl. Tabellen mit Häufigkeitsangaben zu den nachgewiesenen Kategorien). „In der Gesamtanalyse wird deutlich, dass die identifizierten Passagen in den Curricula sehr allgemein gefasst sind und nur einen impliziten Bezug zu psychodynamischen und psychoanalytischen Modellen und Verständnisweisen ermöglichen.“ (S. 92) In den Curricula für Profit-Unternehmen ließen sich die Kategorien „Wandel“, „Psychodynamik u. Führung“ sowie „Persönlichkeit u. Führung“ am häufigsten nachweisen. In den Curricula für Non-Profit-Unternehmen ist „Psychodynamik und Führung“ die am häufigsten aufgefundene Kategorie; „Wandel“ folgt mit deutlichem Abstand. Niggemeier erkennt in den Curricula eine lösungsorientierte Behandlung und resümiert: „Eine problemverstehende Behandlung von psychodynamischen Aspekten wird weitgehend außer Acht gelassen. Es hat den Anschein, als sollten keine Zeit und Ressourcen auf ein tiefgreifendes Verständnis psychodynamischer Mechaniken verschwendet werden“ (S. 99). In den Curricula der nicht-akademischen Ausbildungsinstitutionen ist „Rolle und Selbstmanagement“ die am häufigsten erkannte Kategorie, wobei Niggemeier zu dem Urteil kommt, dass die Beschreibungen „eher den Charakter von Werbebroschüren haben als von ernstzunehmenden Curricula.“ (S. 105) Abschließend hält der Autor mit Bezug auf die untersuchten akademischen, d.h. Hochschul-Curricula es für „fraglich, ob die Studierenden auf diese Weise zu einem wirklichen Problemverständnis befähigt werden.“ Er sieht in der „Behandlung psychodynamischer Aspekte in Führung und Management in den untersuchten Curricula bisweilen leider Blendwerk ohne jeden wissenschaftlichen Bezug.“ (S. 106)

In seiner knappen „Kritische(n) Würdigung der durchgeführten Untersuchung“ (Kapitel 6) verweist Niggemeier neben den Grenzen seiner Analyse der Curricula auch auf die erhöhten Anforderungen an Führungskräfte, wenn sie „psychodynamische Phänomene“ in ihre Führungsarbeit einbeziehen.

In den „Schlussfolgerungen aus den Untersuchungsergebnissen und Handlungsempfehlungen“ (Kapitel 7) zieht der Autor ein sehr drastisches Fazit seiner Analyse. Das Fehlen von Nachweisen einer tiefgreifenden Beschäftigung „mit psychodynamischen oder gar psychotherapeutischen Inhalten“ bedeutet, dass in der Führungskräfteausbildung „der Grundstein für einen künftigen Führungsmisserfolg“ gelegt, mithin die „Fehlentscheider von morgen“ ausgebildet werden (S. 109). Der Autor schließt mit der Forderung, dass „objekttheoretisch und psychodynamisch fundierte(n) Curricula (…) in den Führungs- und Managementschmieden an erster Stelle stehen (sollten).“ (S. 110)

Diskussion

Eine empirische Bestandsaufnahme, „inwieweit psychoanalytische Inhalte bzw. Theorien in der Führungs- und Managementausbildung verankert sind“ (S. 9), ist angesichts der Facetten von Führungskompetenz durchaus von Interesse. Auch, wenn der Beitrag einschlägiger Ausbildungen zur Entwicklung von Führungskompetenz letztlich nur über eine Qualitätserkundung, beispielsweise per teilnehmender Beobachtung oder Befragung der so ausgebildeten Führungskräfte nach einer gewissen Praxiszeit zu ermitteln ist. Niggemeiers Methode kann lediglich das „Versprechen“ einer psycho-dynamischen Kompetenzvermittlung, wie es in den analysierten Curricula erkennbar ist, ermitteln. Immerhin lässt sich auf diese Weise bereits ein Defizit im inhaltlichen Programm vieler Ausbildungen konstatieren. Weshalb der Autor dieses Defizit einerseits drastisch beklagt (Ausbildung der „Fehlentscheider von morgen“) und eine Erstrangigkeit psychodynamischer Themen in den Curricula fordert (siehe oben), zugleich aber in seinem Schlusskapitel schreibt: „Es konnte noch nicht empirisch nachgewiesen werden, dass sich ein signifikanter Mehrwert für Führungs- und Managementkräfte ergibt, wenn psychodynamische Phänomene in der Führungspraxis berücksichtigt werden“ (S. 107), muss doch – gelinde gesagt – überraschen.

Zur Unterscheidung der Begriffe Management und Führung in Kapitel 2: Abgesehen davon, dass in einem wissenschaftlichen Verständnis Begriffe nicht richtig oder falsch, sondern „nur“ mehr oder weniger zweckmäßig sein können, führt diese Aufladung des Führungsbegriffs um ein bestimmtes ‚Mindset‘ und um bestimmte Wirkungen auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Anlehnung etwa an das Konstrukt einer charismatisch-transformativen Führerschaft letztlich dazu, den Begriff von seinen Wirkungen her zu definieren, was seine wissenschaftliche Verwendung ganz erheblich einschränkt. In der weiteren Untersuchung nach Kapitel 2 macht Niggemeier von dieser Unterscheidung keinen Gebrauch mehr, sondern spricht meistens von „Management und Führung“.

Einige Anmerkungen im Detail:

Der Kern der Untersuchung umfasst gut 30 Textseiten und hätte bei prägnanterer Abfassung auch in der Form eines Aufsatzes nutzbringend veröffentlicht werden können. Auf den etwa 70 Seiten zuvor zeigen sich etliche formale Mängel wie beispielsweise die sprachliche Verwechselung der Begriffe Methode und Methodik, methodisch und methodologisch oder die in Teilen nicht lesbare Abbildung auf S. 47 (alle Abbildungen ohne Nummerierung). Darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden.

Irritierend ist eher manches Inhaltliche: Die häufige Anführung des ‚Psychoanalytischen’ lenkt, gestärkt durch die verschiedentlichen Bezüge zur Psychoanalyse Sigmund Freuds (z.B. S. 19 f., 29) auf eine für die Führungskräfteausbildung nur bedingt taugliche Fährte. Erst recht, wenn der Eindruck erweckt wird, gute Führungskräfte müssten in der Lage sein, unbewusste, verdrängte Verhaltensmuster ihrer Mitarbeitenden als Folge von Kindheitserfahrungen „zu verstehen und zu nutzen, um die Arbeitsbeziehung positiv zu entwickeln“ (S. 30). In den Kapiteln 3.5 und 3.6 des Buches ist häufig mit einem gewissen Gleichklang von Mitarbeiter und Klient, von Führung, Beratung und Therapie die Rede. Ohne Zweifel ist es von Vorteil, wenn Führungskräfte methodisch in der Lage sind, zusätzlich in die Rolle eines Coaches für Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter in einer schwierigen Problemsituation zu schlüpfen. Die Rolle eines Therapeuten ist davon strikt zu trennen und gehört in andere Hände.

Im Übrigen entstammen die meisten der vom Autor angesprochenen psychologischen Methoden und Techniken nicht der Psychoanalyse, sondern der Verhaltenspsychologie, auch der systemischen Therapie und anderen Ansätzen. Niggemeier nimmt für seine Untersuchung in Anspruch, dass der Analyse der Curricula „ein theoriegeleitetes Kategoriensystem“ zugrunde liegt (S. 84). Aus der eher sehr subjektiv wirkenden, eklektischen Zusammenstellung von psychologischen Methoden und Arbeitstechniken im großen Kapitel 3 ergibt sich für den Rezensenten keine klare Theoriebasis für das Kategoriensystem.

Dass die Untersuchung die geistige Dimension, welcher (nach Viktor Frankl) die für gutes Führungshandeln wichtige Sinnfrage zuzuordnen ist, gar nicht in den Blick nimmt, soll insofern nicht kritisiert werden, als der Buchtitel mit dem Begriff der „Psychodynamik“ dies auch nicht erwarten lässt. Für zukünftige Analysen von Aus- und Fortbildungen für Führungskräfte wäre diese Erweiterung indes sehr zu wünschen.

Fazit

Der Autor liefert eine nicht uninteressante Bestandaufnahme zur Thematisierung „psychodynamischer“ Aspekte in der Ausbildung von Führungskräften, die aber in ihrer Herleitung und Ergebniskommentierung beim Rezensenten manches Stirnrunzeln hervorgerufen hat.

Rezension von
Prof. Dr. Rüdiger H. Jung
Lehrgebiet: Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Management/Führung und Organisationsentwicklung. Arbeitsschwerpunkte: Aktuelle Probleme der Unternehmens- und Personalführung, Führungskräfteentwicklung und stimmige Führung, Sinn- und Werteorientierung in der Führung, Personale Entwicklung durch Coaching, Selbstorganisation und Lernende Organisation
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Es gibt 2 Rezensionen von Rüdiger H. Jung.

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Zitiervorschlag
Rüdiger H. Jung. Rezension vom 25.04.2023 zu: André Niggemeier: Psychodynamik, Management und Führung. Eine qualitative, modulare Analyse zur Berücksichtigung psychoanalytischer Phänomene in der akademischen und nicht-akademischen Ausbildung von Führungs- und Managementkräften in Deutschland, Österreich. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2021. ISBN 978-3-339-12564-4. Schriftenreihe Schriften zur Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie - Band 90. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29939.php, Datum des Zugriffs 11.06.2023.


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