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Matthias Quent, Tanjev Schultz (Vorwort): Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus

Rezensiert von Dr. Dieter Korczak, 07.02.2023

Cover Matthias Quent, Tanjev Schultz (Vorwort): Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus ISBN 978-3-7799-6839-9

Matthias Quent, Tanjev Schultz (Vorwort): Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. 400 Seiten. ISBN 978-3-7799-6839-9. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR.

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Thema

Der sogenannte „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) war eine neonazistische Terrorgruppe, die zwischen den Jahren 2000 bis 2007 neun Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin ermordete. Die Gruppe verübte außerdem 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. Im November 2011 starben die beiden Haupttäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt unter weiterhin ungeklärten Umständen. Die dritte Haupttäterin Beate Zschäpe brannte die gemeinsame Zwickauer Wohnung ab. Ab Mai 2013 fand vor dem Oberlandesgericht München der sogenannte NSU-Prozess gegen Zschäpe und vier mutmaßliche Gehilfen der Gruppe statt. Seit dem 12. August 2021 sind die Urteile rechtskräftig. Zschäpe wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Es handelt sich bei dem Buch um die 2015 an der Universität Jena eingereichte gleichnamige Dissertation. Das Buch wurde zur zweiten Auflage im November 2018 überarbeitet. Jetzt liegt die 3. überarbeitete und erweiterte Auflage vor. Was war für den Autor die Motivation, mit diesem Thema zu promovieren? Nach eigener Aussage interessierten ihn die „sinnstiftenden Rationalitäten“ des NSU und die „wissenschaftliche Analyse der Radikalisierung“ (18) sowie die „sozialstrukturellen Ursachen des Rassismus“ (21). Der Autor geht von einer Asymmetrie zwischen der Bedeutung des staatlichen Handelns und „den inneren, gruppendynamischen Radikalisierungsprozessen des Rechtsextremismus“ aus (21). Mit seiner Untersuchung möchte er die Funktion und Entstehung des Rechtsterrorismus rekonstruieren.

Autor

Matthias Quent ist seit Mai 2022 Professor für Soziologie für die Soziale Arbeit an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Zuvor hat er bei der Amadeu-Antonio-Stiftung gearbeitet.

Aufbau

Das Buch ist nach der Einleitung in elf Kapitel untergliedert und folgt im Aufbau einer Qualifizierungsarbeit für einen akademischen Titel.

Der frühere Redakteur der Süddeutschen Zeitung und Professor für Journalistik an der Universität Mainz Tanjev Schultz hat ein kurzes Vorwort geschrieben. Schultz hat regelmäßig für die SZ über den NSU-Prozess berichtet und auch ein Buch zur Geschichte des NSU publiziert.

Nach der Einleitung (15-25) folgt die Beschreibung der angewandten wissenschaftlichen Methode (26-32). Quent ist der Ansicht, dass soziologische Rechtsextremismusforschung ihre demokratischen Bezugspunkte darlegen, als „kommunikative Demokratiewissenschaft“ betrieben werden sollte, um die zu beobachtende Kluft zwischen Erkenntnissen und politischer Umsetzung zu schließen. Seine Arbeit ist sekundäranalytisch und benutzt die Technik der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring.

In Kapitel 3 widmet er sich der Frage, was Radikalisierung ist (33-52).

Der Stellenwert, den Gruppen im Prozess der Radikalisierung haben, wird in Kapitel 4 betrachtet (53-78).

Der makrosoziologische Rahmen der Gewalt wird in Kapitel 5 erläutert (79-133).

Kapitel 6 widmet sich der Differenzierung des Terrorismusbegriffs, wobei der Vigilantismus als Sonderform definiert wird (134-160).

Die Entstehung und Radikalisierung des NSU wird in Kapitel 7 dargestellt (161-288).

In Kapitel 8 werden sechs individuelle Karrierebiografien von Rechtsextremen des NSU bzw. seines Umfeldes rekonstruiert (289-311).

Die zusammenfassende Analyse gesellschaftlicher, gruppendynamischer und individueller Faktoren in der Genese des NSU wird in Kapitel 9 vorgenommen (312-320).

Das Kapitel 10 stellt eine Zusammenfassung der zentralen Befunde dar (321-347).

Neuere Entwicklungen des Rechtsterrorismus und der staatliche Umgang damit seit 2011 werden in den Kapitel 11–12 beschrieben (348-377).

Inhalt

Die inhaltliche Darstellung beginnt nicht mit Ausführungen zum Rassismus -wie der Titel des Buches vermuten ließe- sondern mit einer ausführlichen Erörterung zum Prozess der Radikalisierung „durch den Personen oder Gruppen zu Extremisten werden.“ (Neumann 2013) (34) Radikalisierung sollte als ein Prozess der Interaktion zwischen gewalttätigen Gruppen und ihrer Umgebung analysiert werden. (Della Porte) Die neue Schule der kritischen Terrorismusforschung ginge davon aus, dass Radikalisierung von einer Vielzahl von Prozessen und Faktoren beeinflusst wird. Richardson identifiziert drei Mechanismen, die zum Terrorismus führen: eine unzufriedene Einzelperson, eine ermöglichende Gruppe und eine legitimierende Ideologie. Es handelt sich daher bei Radikalisierungsprozessen im Kern um Erosionsprozesse, an deren Ende eine kleine Gruppe als harter Kern übrig bliebe.

In der Erörterung von Radikalisierung, Radikalismus und Rechtsextremismus nimmt Quent unter anderem Bezug auf Hannah Arendt, Brähler et al und auf das Konzept der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer).

Zur Beschreibung der Ausbildung relativ stabiler Gruppenstrukturen verwendet Quent das Vier-Phasen-Modell von Tuckman: Formierung, Intragruppenkonflikte (Storming), Normierung und Ausführung. Er bezeichnet die Radikalisierungsphase der rechtsextremen Bewegung in Jena zwischen 1994 und 1996 als „Storming Phase“. In der „Normierungsphase“ von 1996 bis Januar 1998 homogenisierte sich die zuvor heterogene Clique zum NSU. 

Der Autor fragt sich, was für eine Gesellschaft das ist, die den NSU hervorbringen kann. „Es wird gezeigt, wie die Schwierigkeiten, die Widersprüche unserer Gesellschaft zu moderieren oder zu verschleiern, erstens zum Rassismus als Legitimationsideologie der Widersprüche führen und zweitens zur Entstehung von politischen Strukturen, in denen Antagonismen durch ideologische Komplexitätsreduktionen ausgelöscht werden“ (79).

Quent vertritt die These, dass rassistische Gewalt der Verfestigung bestehender Machtverhältnisse nutzt und mit dem Gefühl der Machteliten verbunden ist, dass deren natürliche Legitimität in Gefahr sein könnte. Er kombiniert dies mit Machterwartungen und Machtansprüchen, die für die machtstarke Gruppe gelten. Machtverlust führt eher als Ohnmacht zur Gewalt „Rassistische Gewalt ist der Ausdruck der Projektion der Rassist*innen auf die falsch identifizierten Urheber der Frustration“ (Arendt, 132).

Die Fähigkeit, eine andere Außenseitergruppe wirksam zu stigmatisieren, sei so lange gegeben, wie die stigmatisierende Gruppe sich ihrer Machtpositionen sicher sei. Rassismus ist die Markierung von Unterschieden, die einen privilegierten Zugang sichert. 

Im Anschluss an die Erörterungen zu Radikalisierung und Rassismus befasst sich der Autor mit der Ambivalenz des rechtsextremen Terrorismus. Es gibt sehr viele unterschiedliche Definitionen des Terrorismus. Quent stützt sich auf Waldmann: „Unter Terrorismus sind planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge aus dem Untergrund gegen eine politische Ordnung zu verstehen“ (134). Als rechtsradikalen oder vigilantischen Terrorismus bezeichnet Waldmann Gewaltanwendung zum angeblichen Schutz des Staates gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Vigilantismus ist Ausdruck einer systemstabilisierenden Selbstjustiz. Tödliche Gewalt aus der rechtsextremen Bewegung richtet sich gegen Vertreter*innen sozial konstruierter Minderheitengruppen.

Bis zur zufallsbedingten Enttarnung des NSU haben die Ermittler*innen öffentlich nie ernsthaft in Erwägung gezogen, dass es sich um Taten von Rechtsextremen handeln könnte. Es wurde nicht berücksichtigt, dass bekenntnislose rassistisch-motivierte Gewalt das Handlungsrepertoire der Rechtsextremen dominierte.

Ab Kapitel 7 zeichnet der Autor die Entstehung und Entwicklung des NSU einschließlich der Biografien ihrer zentralen Figuren anhand der verfügbaren Dokumente nach. Im Schlussteil des Buches stellt er ein Pyramidenmodell der Radikalisierung des NSU und seines nahen Umfeldes vor (313). Die Basis dieses Modells bildet die Dissonanzgesellschaft mit ihren Brüchen und Verwerfungen. Durch Mechanismen der Radikalisierung in den jeweiligen Gruppenphasen der gesellschaftlichen Meso- und Mikroebene kann letztendlich eine vigilantische Untergrundgruppe entstehen.

Im Fazit seiner Arbeit weist Quent darauf hin, dass inneren Prozessen rechtsextremer Gruppen sowie deren Interaktionen mit anderen Akteuren eine hohe Bedeutung zuzumessen ist und die ambivalenten Wirkungen staatlichen Handelns kritisch berücksichtigt werden sollten.

In den beiden Schlusskapiteln, die anscheinend für die zweite und dritte Auflage angefügt wurden, zählt der Autor neue rechtsradikale Gruppierungen auf und beschreibt kursorisch ihre Taten.

Diskussion

Man merkt dem Buch an, dass es eine akademische Qualifizierungsarbeit ist. Der Leser freut sich deshalb, über die begrifflichen Einordnungen von Radikalisierung und Extremismus, die zahlreichen Quellenhinweise und den ausführlichen Literaturapparat. Der Zusammenhang zwischen methodischem Ansatz und der Ergebnisdarstellung bleibt vage. Interessant ist die Nachzeichnung der Genese und Taten des NSU, ohne jedoch für den Leser, der das NSU-Prozessgeschehen verfolgt hat, große Neuigkeiten zu offenbaren. Das zusammenfassende Pyramidenmodell der Genese des NSU kann gut zur Präventivarbeit herangezogen werden. Der Autor weist selbst darauf hin, dass Rechtsextreme dort keine Chance auf Machtgewinne haben, wo es eine starke, nicht rechte Jugendkultur gibt. (313) Das Konzept des Vigilantismus ist ebenfalls ein interessanter Ansatz. Der Zugewinn durch die Hineinnahme des Vorworts von Tanjev Schultz erschließt sich nicht, vor allen nicht im Hinblick darauf, dass Schultz selbst ausführlich zu dem Thema publiziert hat. Es überrascht, dass dem Verlag nicht der Fehldruck des Kapitels 6.7. aufgefallen ist, das fälschlicherweise auf Kapitel 7.2.3 folgt.

Fazit

Matthias Quent hat mit seiner Promotionsarbeit eine interessante Analyse der Entstehung der rechten Terrorgruppe Nationaler Untergrund (NSU) vorgelegt. Auf 400 Seiten setzt er sich mit den Konzepten und Mechanismen der Radikalisierung auseinander und beschreibt plastisch die Funktionen rassistischer Grundhaltung. Im Sinne der kritischen Terrorismusforschung zeigt er, dass auch die Radikalisierung des NSU von einer Vielzahl von Prozessen und Faktoren beeinflusst gewesen ist. Das Buch ist als Studiengrundlage sowie für die Aus- und Fortbildung in der Rechtsradikalenforschung sehr zu empfehlen.

Quellen

Arendt, Hannah (1970/1995): Macht und Gewalt. München: Piper

Della Porte, Donatella (2013): Clandestine political violence. Cambridge: University press

Mayring, Philipp (2010): Qualitative Inhaltsanalyse. Weinheim: Beltz

Neumann, Peter (2013): Radikalisierung, Deradikalisierung und Extremismus. in: APuZ 29-31/2013, S. 3–10

Richardson, Louise (2006): What terrorists want. New York: Random House

Tuckman, Bruce/​Jensen, Mary (1977): Stages of Small Group Development revisited. In: Group Organization Management. H. 2, S. 419–427

Waldmannn, Peter (2011): Terrorismus. Provokation der Macht. Hamburg: Murmann

Rezension von
Dr. Dieter Korczak
Soziologe, Publizist, Dozent, Leiter der GP-Forschungsgruppe
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Es gibt 10 Rezensionen von Dieter Korczak.

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Zitiervorschlag
Dieter Korczak. Rezension vom 07.02.2023 zu: Matthias Quent, Tanjev Schultz (Vorwort): Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. ISBN 978-3-7799-6839-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29951.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.


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