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Eva Lermer, Matthias Hudecek: Unsicherheit

Rezensiert von Dr. Thomas Kowalczyk, 04.01.2023

Cover Eva Lermer, Matthias Hudecek: Unsicherheit ISBN 978-3-497-03144-3

Eva Lermer, Matthias Hudecek: Unsicherheit. Globale Herausforderungen psychologisch verstehen und bewältigen. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2022. 218 Seiten. ISBN 978-3-497-03144-3. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.

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Thema

Der Umgang mit Unsicherheit ist ein Thema, das alle Menschen bewegt. Manche setzen sich bewusst damit auseinander. Andere sind sich dessen unbewusst. Zum Teil versuchen sie dann unbewusst, Unsicherheit abzubauen bzw. Sicherheit zu gewinnen, um nicht (ständig) beunruhigt zu sein. Wieder andere sehen Unsicherheit als Teil des menschlichen und des gesellschaftlichen Lebens an und akzeptieren sie, was zwar in der Formulierung nicht aber in der Umsetzung einfach ist. Durch eine Empfehlung der socialnet-Redaktion und mit diesen Gedanken bin ich zum Buch von Lermer und Hudecek gelangt. Es nimmt sich das zum Thema – anhand aktueller Phänomene und Geschehnisse wie Covid19, Fake News, Finanzkrisen, Kryptowährungen oder politischer Erdbeben. Die Autor:innen konzentrieren sich darauf, die o.g. Herausforderungen psychologisch zu verstehen und zu bewältigen, wie es im Untertitel steht.

Autor:innen

Prof. Dr. Eva Lermer, Psychologin und Soziologin, forscht und lehrt an der Hochschule Augsburg und am Center for Leadership and People Management der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dr. Matthias Hudecek, Psychologe, forscht und lehrt am Lehrstuhl für Sozial-, Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie der Universität Regensburg und ist Lehrbeauftragter für „Psychologie der Arbeit und Organisation“ an der Universität St. Gallen (Information des herausgebenden Verlages, https://www.reinhardt-verlag.de/55384_lermer_unsicherheit/, abgerufen am 28.12.2022).

Aufbau und Inhalt

Das Buch umfasst 8 Kapitel, welche den ganzen Bogen der Themenbearbeitung gut wiedergeben.

  1. Einleitung
  2. Pandemie
  3. Politik, Führung und Kontrolle
  4. Digitalisierung, technologischer Fortschritt und künstliche Intelligenz
  5. Nullzinsen, Kryptowährungen und Inflation
  6. Fake Numbers, Fake Stories und Fake News
  7. Arbeitswelt 4.0
  8. Mehr Unsicherheit wagen: Vorschläge für einen kompetenteren Umgang mit Unsicherheit

Jedes Kapitel hat in der Regel drei bis vier Unterkapitel, die das Thema weiter strukturieren. Im Rahmen dieser Rezension werde ich beispielhaft die Kapitel 1, 4, 6 und das Schlusskapitel 8 besprechen. Einleitung und Schluss erläutern das Problem und die von den Autor:innen vorgeschlagene Auflösung, Kapitel 4 und 6 bieten einen beispielhaften Blick in zwei der sechs Unsicherheit auslösenden Phänomene, die das Buch behandelt.

1. Einleitung

Lermer und Hudecek legen ihrem Buch einen Unsicherheitsbegriff aus der Entscheidungstheorie zugrunde: „…Umweltzustände, für die keine Eintrittswahrscheinlichkeiten bekannt sind“ (S. 7). Es geht daher nicht um Unsicherheiten, die an Wahrscheinlichkeiten gekoppelt sind wie beim Roulette oder im Lotto, in denen die Wahrscheinlichkeiten ja berechenbar sind. Insbesondere durch Globalisierung und Digitalisierung (sowie viele weitere Faktoren) haben wir Menschen unsere Lebenswelt auf einen Komplexitätslevel gehoben, der es fast unmöglich macht, Risiken überhaupt zu identifizieren, geschweige denn sie richtig einzuschätzen. Aber auch schon vor unserer modernen Zivilisation waren Menschen mit Ereignissen und Phänomenen konfrontiert – z.B. bei einer Sonnenfinsternis oder wenn der Regen über längere Zeit ausblieb oder kriegerische Zustände eskalierten – die in ihrer Zeit genauso mächtige Unsicherheiten hervorriefen, wie wir sie heute erleben mögen. Deshalb haben wir über Jahrhunderte hinweg Strategien entwickelt, damit umzugehen. Lermer und Hudecek unterscheiden drei Arten von Strategien: nicht-rationale Strategien (Glaube, Hoffnung, Religiosität…), rationale Strategien (Abwägungen von Pro-Contra-Argumenten eines Sachverhaltes, Wissenschaftliches Vorgehen…) und „ein Zwischending zwischen rationalen und nicht-rationalen Strategien“ (Vertrauen auf die Einschätzung anderer Menschen oder Experten, Leitung durch Emotionen, Bauchgefühl) (S. 11–13).

„Allen Strategien ist gemein, dass durch sie Komplexität und damit einhergehend die Unsicherheit in einer bestimmten Situation reduziert werden soll. Auch wenn es keine Garantie auf Erfolg gibt, haben grundsätzlich alle Strategien in Abhängigkeit des jeweiligen Kontextes das Potenzial, eine Lösungsmöglichkeit darzustellen“ (S. 13). Gerade in unserer schnelllebigen Zeit haben Menschen zudem den Hang, einfache Lösungen (= große Komplexitätsreduktion) zu suchen, weil sie ansonsten ein höheres Maß an Zeit, Auseinandersetzung und Energie aufwenden müssten. In diesem Zusammenhang werden verschiedene psychologische Theorien besprochen, die den Umgang mit komplexen Situationen oder Ambivalenzen erläutern: Theorien der Kognitiven Dissonanz, Framing und Reframing oder Wahrheitskonservierung. Gerade den Hang zur Wahrheitskonservierung konnte man während der COVID-Pandemie besonders gut beobachten. Mitten in der Verunsicherung vieler Menschen entwickelte sich der Erkenntnisstand fortlaufend weiter und ist auch heute noch keineswegs abgeschlossen. Viele hatten aber das Bedürfnis – durchaus verständlicherweise – einen Erkenntnisstand zu einem Zeitpunkt als Wahrheit zu konservieren.

Die Autor:innen setzen sich in diesem Einleitungskapitel mit vielen weiteren psychologischen Mechanismen dezidiert auseinander, die in unser psychologisches Grundkostüm und in unsere Intuition übergegangen sind. Das kann für uns Menschen nützlich, aber auch hinderlich sein, um mit Unsicherheit umzugehen. Sie kommen zum vorläufigen Schluss: „Allerdings haben wir in unserer evolutionären Entwicklung sozusagen die Entwicklung unserer Intuition zwischenzeitlich überholt. Salopp gesagt: Unser intuitives Gefühl ist in der Höhle geblieben“ (S. 35). Das Wissen um unsere psychologische Konstitution ist ein wesentlicher Teil unseres eigenen Verständnisses von Unsicherheit. Das Leitmotiv von Lermer und Hudecek zum Verstehen und Bewältigen ist geprägt von „Humanismus, Demokratie, Aufklärung und kritischer Prüfung im Popperschen Sinne“ (S. 23).

4. Digitalisierung, technologischer Fortschritt und künstliche Intelligenz

Das Kapitel ist untergliedert in vier Abschnitte, die das Thema umreißen:

  • Smartphones – Fluch oder Segen
  • Alles überall und zu jeder Zeit
  • Alles KI oder was?
  • Mein Freund der Roboter?

Sie beginnen mit einem Blick in die technology adaption rate, also der Rate, mit der wir neue Technologien oder Entwicklungen annehmen, anhand einer Graphik von Moon M. (2016): Telefon 75 Jahre Adaption, Mobiltelefon 16 Jahre, Internet 7 Jahre, Facebook 3–5 Jahre, Pokémon Go wenige Wochen. Neben der Beschleunigung konstatieren sie, dass der digitale Fortschritt vor keinem Lebensbereich Halt macht: neue Kommunikationsformen in der Arbeitswelt wie Slack, Gesundheitsapps zum Hautkrebsscreening, vollautomatische Kassen in Supermärkten, selbstfahrende Fahrzeuge wie Busse in Regensburg oder Smart-Home-Elemente im Haushalt bis hin zu Sprachassistenten wie Alexa.

In der Summe führen Umfang und Geschwindigkeit auf individueller Ebene dazu, dass ein oftmals diffuses Gefühl von Überforderung und Unsicherheit entsteht. Denn im Regelfall gibt es keine bewusste Entscheidung. Es erfolgt kein Diskurs in der Gesellschaft, ob wir fortan alle ein Smartphone nutzen oder selbstfahrende Busse haben wollen, ob es sinnvoll oder wünschenswert ist (S. 63). „Aus psychologischer Sicht kann dies zu einem Gefühl von Kontrollverlust führen, also der Empfindung, dass man die Geschehnisse um sich herum nicht mehr wirklich beeinflussen kann. Mit Kontrolle ist auch in diesem Zusammenhang nicht ein Kontrollieren in Form von Überwachung gemeint, sondern… die wahrgenommene Kontrolle stellt die Überzeugung von Personen dar, gewünschte Ereignisse herbeiführen und unerwünschte Ereignisse vermeiden zu können“ (S. 64). Diese Kontrollwahrnehmung ist allerdings für Menschen essentiell, sie fördert das Selbstwertgefühl und die emotionale Stabilität. Wobei aus psychologischer Sicht oft schon das Gefühl, nämlich die subjektive Wahrnehmung der Eigenkontrolle, ausreicht, ohne dass objektiv Möglichkeiten zu Einflussnahme vorliegen; also die „Illusion von Kontrolle“ kann ausreichen (S. 64f). Dazu kommt, dass wir die Auswirkungen dieser Technologieentwicklung auf gesellschaftlicher Ebene noch weniger beeinflussen, ja z.T. noch nicht einmal erfassen können. Alle Effekte zusammen genommen bilden daher einen sehr großen Unsicherheitstreiber.

Im Zusammenhang mit KI beschäftigen sich die Autor:innen mit Algorithmen, genauer gesagt mit der Unzulänglichkeit von Algorithmen, die Verschiedenheit von Menschen abzubilden. Algorithmen werden aufgestellt und trainiert. In beiden Prozessen können Fehler einprogrammiert sein, die später kaum mehr auszumerzen sind, weil viele lernende Systeme Anfangsfehler reproduzieren. Lermer und Hudecek nennen hier automatisierte Bewerber:innenauswahl in der Tech-Branche, in der Systeme auf Männer zugeschnitten waren und diese dann zuverlässig überwiegend Männer als die besseren Bewerber:innen identifizierten. Oder eine KI zum Hautkrebsscreening, das mit 100.000 Bildern gefüttert und trainiert wurde, von denen nur 2.500 Bilder von Menschen mit dunkler Hautfarbe waren. Dementsprechend war die Genauigkeit der Ergebnisse von dunkelhäutigen Menschen beeinträchtigt. Scheinbar „objektive“, KI-ermittelte Ergebnisse reproduzieren in solchen Fällen dann die Fehler oder einen bereits bestehenden Bias immer weiter und stärken so den falschen Algorithmus.

6. Fake Numbers, Fake Stories und Fake News

Interessanterweise setzen die Autor:innen vor die Reihung der Fake-Begriffe im Text noch Bullshit Kommunikation. „Verborgene Bedeutung verwandelt sich in unvergleichliche abstrakte Schönheit“ (S. 112) Das ist ganz offensichtlich Bullshit, also pseudo-profunder Blödsinn und wurde von Pennycook G. et al. (2015) im Rahmen einer Studie bewusst erdacht. Man denkt unwillkürlich auch an den Aufsatz von Karl Popper (1984) Gegen die großen Worte (ein Brief, der ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt war), in dem er sich mit Zitaten von Adorno und Habermas auseinandersetzt. Beispiel gefällig? „Die gesellschaftliche Totalität führt kein Eigenleben oberhalb des von ihr Zusammengefassten, aus dem sie selbst besteht“ übersetzte er in „Die Gesellschaft besteht aus den gesellschaftlichen Beziehungen“. Schlimm nur, wenn Menschen versuchen, solchen Aussagen Sinnhaftigkeit zuzuschreiben. [Der Bezug zu diesem Aufsatz ist nicht im vorliegenden Buch enthalten, sondern wurde vom Rezensenten zum umfassenderen Verständnis hinzugefügt].

„Der Begriff Fake News ist spätestens seit Donald Trump‘s Präsidentschaft (2017 – 2021) in unserem Alltag angekommen – wenngleich es dieses Phänomen natürlich wesentlich länger gibt“ (S. 104). Die Verfasser:innen zitieren im vorliegenden Buch einen Überblicksartikel von Pennycook G. und Rand D. (2021), in dem beschrieben ist, wie in der New Yorker Zeitung The Sun 1835 in sechs Artikeln über angebliches Leben auf dem Mond berichtet wird. Fake News, die später als „Great Moon Hoax“ bekannt wurden (S. 104). Fake Numbers erläutern Lermer und Hudecek an folgendem Beispiel: „…, dass 65 % aller Kinder, die heute zur Grundschule gehen, angeblich später in Jobs arbeiten werden, die es heute noch gar nicht gibt“ (S. 107). Diese Aussage ist durch keine einzige Studie belegt, aber wurde in zahlreichen Berichten verbreitet bis hin zum OECD-Bericht über die Zukunft der Bildung (2016): „OECD evidence shows…“, ohne jede Quellenangabe. Wenn ein amerikanischer Präsident oder die OECD etwas veröffentlichen sind – vielleicht sehr unterschiedliche – Adressaten zweifellos gewillt, das zu glauben. Eine interessante Fake Story beschreiben sie am Beispiel der „Geschichte mit den Wölfen“, die sich großer Beliebtheit in manchen beruflichen Netzwerken wie LinkedIn oder Xing erfreut. Unter einem Bild mit einem Wolfsrudel, das durch eine winterliche Landschaft wandert, wird erläutert: die drei vordersten Wölfe seien die ältesten und schwächsten Tiere, sie bestimmen die Geschwindigkeit, damit niemand zurückbleibt. Dann folgen die stärksten und der Hauptteil der Gruppe, am Ende schließlich bewegt sich mit etwas Abstand der Alpha-Wolf, der die gesamte Gruppe von der hinteren Position aus kontrolliere. Dann wird diese Geschichte als Metapher für erfolgreiche Führung bemüht. Das tatsächliche Bild zeigt aber ein Wolfsrudel auf Wanderschaft in Nord-Kanada, angeführt von der Alpha-Wölfin, die als Spurläuferin den Weg durch den Tiefschnee für die anderen Tiere ebnet, da insbesondere die schwächeren Tiere die Wanderschaft sonst nicht überleben würden. Eine anscheinend plausible Geschichte wird konstruiert, deren Schlussfolgerungen zum Führungsalltag dann von Laien als stimmig empfunden werden: eine wahre Fake Story!

„Einmal in die Welt gesetzt, halten sich derartige Fake Numbers und Fake Stories oft recht hartnäckig. Ein Grund dafür ist der sogenannte Wahrheitseffekt (eng. illusory truth effect), welcher erstmals von Hasher L. et al. im Jahr 1977 beschrieben wurde“ (S. 109). In Testreihen hatten sie gemessen, wie solche eingestreuten Fakes durch ständige Wiederholung immer mehr als Wahrheit anerkannt wurden.

Die Fakes appellieren oft mehr oder weniger versteckt an Emotionen der Empfänger:innen. „Emotionen können jedoch unser Urteilsvermögen beeinträchtigen, da sie unsere Fähigkeit zum rationalen Denken vernebeln. Ferner zeigen Studien in diesem Kontext, dass Menschen, die sich stärker auf Emotionen verlassen, eher an falsche Schlagzeilen glauben“ (S. 116). Gerade bei den Fakes stellen kommunikative Filterblasen ein großes Problem dar, der sogenannte Wahrheitseffekt und Emotionen tun ihr Werk.

8. Mehr Unsicherheit wagen: Vorschläge für einen kompetenteren Umgang mit Unsicherheit

Auf Basis der Erläuterungen in den vorangegangenen Kapiteln konstatieren die Autor:innen im Prinzip zweierlei. Zum einen: Wissenschaftlicher Fortschritt, Aufklärung, technologisches Verständnis, vertiefte psychologische Erkenntnisse u.a. führen zwar dazu, dass wir besser verstehen können, aber die Unsicherheit wird dadurch nicht wirklich weniger. Zum anderen: Unsicherheit wird von Menschen in der Tendenz als etwas Negatives betrachtet. „Fast schon wie bei einer Krankheit streben wir dann danach, dass wir die Unsicherheit „weg machen“ wollen und nach immer mehr und neuen Optimierungsmöglichkeiten suchen. Paradoxerweise entstehen dadurch nicht selten neue Unsicherheitstreiber, denen wir dann an anderen Stellen wieder durch neue Gegenmaßnahmen begegnen müssen“ (S. 144). Dem stellen sie die Erkenntnis gegenüber, dass Unsicherheit zur menschlichen Freiheit gehört. Dies wird besonders deutlich am Beispiel des chinesischen Sozialkredit-Systems, in dem menschliches Verhalten mit Punkten bewertet wird. Wer sich in den Augen der Regierung positiv verhält bekommt Pluspunkte, wer sich negativ verhält Punktabzüge. Die so festgestellte Punktzahl erleichtert oder erschwert dann z.B. den Hochschulzugang oder Zugang zu einem Kredit oder Auto. Das Ergebnis ist mehr Kontrolle, aber weniger Freiheit. „Was für die meisten Menschen in Europa nach einer unschönen Dystopie klingt, scheint laut Umfrageergebnissen bei der chinesischen Bevölkerung überwiegend gut anzukommen“ (S. 145).

Was ist also hilfreich, um einen guten Umgang mit Unsicherheit zu gewinnen. Zunächst die Erkenntnis, dass wir uns darum bemühen müssen. „Denn die Vorstellung, dass wir einen guten Umgang mit Unsicherheit „schon von selber“ entwickeln, ist in etwa so naiv wie die Annahme, dass Kommunikation trivial sei“ (S. 142).

Unter der Annahme, dass wir Freiheit und Autonomie höher schätzen als die autoritäre Elimination von Unsicherheit – wie am Beispiel des Sozialkreditsystems in China erläutert – schlagen Lermer und Hudecek daher Strategien für mehr Unsicherheitskompetenz vor. Auf individueller Ebene: „Wissen um psychologische Effekte; eigene Anfälligkeiten erkennen; Motivation, sich zu entwickeln und aktiv zur Gestaltung von Kultur und Gesellschaft beizutragen; Perspektivwechsel; Auseinandersetzung mit dem eigenen Wertekompass; Kommunikation und mentale Flexibilität sowie Zeit [Hervorhebung durch den Rezensenten]“ (S. 150). Die aufgezählten Punkte werden im Buch dann einzeln erläutert.

Auf der institutionellen und gesellschaftlichen Ebene braucht es nach Lermer und Hudecek neue Strukturen und Orientierung: Psychoedukation und Persönlichkeitsbildung als Bildungsauftrag; Mehr Agieren als Reagieren; Fehlerkultur; Brauchen wir eine Werte-Grundverordnung? (WGVO, begrifflich angelehnt an die Datenschutz-Grundverordnung); Demokratische Grundordnung als unabdingbare Voraussetzung (S. 167–188).

Die Autor:innen setzen sich in diesem Schlusskapitel auch mit dem Sicherheitsbegriff auseinander und unterscheiden psychologische und soziale Sicherheit. Während soziale Sicherheit als Begriff vermutlich allen Leser:innen geläufig ist, lohnt ein abschließender Blick auf die Definition der psychologischen Sicherheit, die sich auf Edmondson A. (1999) bezieht: „Darin charakterisiert Edmondson psychologische Sicherheit als die geteilte Überzeugung von verschiedenen Personen, dass ein Team oder eine Gruppe ein sicherer Ort ist, an dem man sich trauen kann, Risiken einzugehen“ (S. 180). Während wir mit vielen Unsicherheiten leben müssen, kann auf der psychologischen Ebene eine Struktur Sicherheit bieten, welche die Unruhe auf der thematischen Seite ausbalanciert.

Diskussion

Unsicherheit ist kein neues Phänomen, weder individuell noch als gesellschaftliche Ausprägung. Aber moderne Entwicklungen wie Digitalisierung, Klimawandel, Fakes (Fake News, Fake Numbers, Fake Storys), Finanzkrisen oder Arbeitswelt 4.0 halten in einer Geschwindigkeit und einem Ausmaß Einzug in unser Leben, die Menschen zutiefst verunsichert. Lermer und Hudecek beschreiben in diesem Buch wie diese Unsicherheit auf uns wirkt, welche Mechanismen und Fehlmechanismen wir zum Abbau der Unruhe, die diese Unsicherheit auslöst, anwenden und wie ein guter Umgang damit aussehen könnte. Die Autor:innen konzentrieren sich dabei auf eine psychologische Sicht des Themas und unterlegen ihre Erkenntnisse mit zahlreichen Beschreibungen psychologischer Phänomene. Diese sind im Buch sehr detailliert beschrieben und stets mit Studien hinterlegt. So kompliziert die psychologischen Mechanismen in uns auch sind, mit allen inneren Täuschungen, denen wir Menschen unterliegen, sie bieten dafür eine aufgeräumte Darstellung. Ein erster Grund, warum es sich lohnt, das Buch zu lesen.

Die Autor:innen kommen schließlich zum Schluss, dass es Zeit braucht und viel Reflexion, die persönliche und gesellschaftliche Unsicherheit zunächst tiefgründiger zu verstehen. Sie verstehen dabei Unsicherheit als Bestandteil der menschlichen Freiheit und fordern Zeit, um selbst zu denken und um Unsicherheit auszuhalten und zu bewältigen. So vergleichsweise einfach dieser Schluss in der Formulierung klingen mag, so aufwändig, vor allem aber höchst befriedigend ist er, wenn wir uns an die Umsetzung machen.

Lermer und Hudecek hinterlegen die von ihnen vorgeschlagenen Schritte zur Bewältigung (siehe oben, Kapitel 8) mit ausführlichen Erläuterungen und ziehen auch hier viele psychologische Studien zu Rate. Das ist mein zweiter Grund, das Buch zu lesen. Kann einem der Atem stocken im ersten Teil des Buches, beim Blick in all diese beschleunigten Krisen und ihrer psychologischen Auswirkungen auf Menschen und Gesellschaft, so beginnt er zusehends wieder zu fließen beim Blick auf unsere Bewältigungsmöglichkeiten. Insofern ist es auch ein spannendes Buch.

Fazit

Das vorliegende Werk ist ein solides Fach- und Lesebuch über die psychologischen Aspekte von Unsicherheit. Es ist eine besondere Stärke, dass die Autor:innen dieses Thema anhand von aktuellen globalen Entwicklungen aufgreifen und darüber hinaus zeitgemäße Vorschläge zur psychologischen Bewältigung unterbreiten und ausführlich erläutern. Das Buch ist insbesondere aufgrund seiner Aktualität und versehen mit zahlreichen zitierten Studien allen Fach- und Führungskräften in der Sozialwirtschaft zu empfehlen, die in ihrer Arbeit zusehends mit den o.g. globalen Entwicklungen konfrontiert sind.

Literatur

Die Literaturangaben Edmondson A. (1999), Hasher L. et al. (1977), Moon M. (2006), Pennycook et al. (2015) sowie Pennycook G. und Rand D. (2021) wurden dem rezensierten Buch entnommen und sind dort im Literaturverzeichnis enthalten. Sie werden hier daher nicht als Originalquelle aufgeführt, aber dennoch zitiert, da die betreffenden Aussagen in der Rezension direkt auf diese Quellen zurückzuführen sind.

Popper, Karl R. (1984): Gegen die großen Worte (S. 99 – 113), abgedruckt im Buch Auf der Suche nach einer besseren Welt – Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren. Piper Verlag München, 14. Auflage 2006.

Rezension von
Dr. Thomas Kowalczyk
Geschäftsführer COMES e.V., Berlin
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Es gibt 22 Rezensionen von Thomas Kowalczyk.

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ISSN 2190-9245