Corinna Scherwath, Sibylle Friedrich: Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung
Rezensiert von Angelika Alieff-Sliepen, 09.05.2023

Corinna Scherwath, Sibylle Friedrich: Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2020. 4., aktualisierte Auflage. 237 Seiten. ISBN 978-3-497-02998-3. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Integration der Arbeit mit Traumatisierung in die pädagogischen Arbeitsfelder durch die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten von pädagogischen Fachkräften anhand von hilfreichen Übungen und Methoden.
AutorInnen
Corinna Scherwath, Dipl. – Sozialpädagogin, Kinder/Jugendsozialtherapeutin, Fachberaterin für Psychotraumatologie und Traumapädagogik, freiberuflich als Fortbilderin tätig, leitet das Institut für verstehensorientierte Pädagogik (Iverso Paed) in Hamburg.
Dr. Sibylle Friedrich, Dipl. – Psychologin, ist freiberufliche Dozentin und Moderatorin im Schul- und Sozialbereich in Hamburg und Norddeutschland sowie psychologische Beraterin in eigener Praxis. Sie befindet sich zudem in der Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin (dgvt).
Aufbau
Das Buch ist in drei Oberkapitel aufgeteilt. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der Erklärung des Begriffs Trauma und bietet einen Einblick ins Traumaverstehen. Das zweite Kapitel bildet den Hauptteil und beinhaltet ein breites Angebot an Handlungsmöglichkeiten in der pädagogischen Arbeit gepaart mit Übungen und weiterführender Literatur. Im dritten Kapitel richtet sich der Blick auf die pädagogischen Fachkräfte mit dem Ziel, sie zu stärken und ihre Selbstfürsorge zu aktivieren. Das Buch schließt mit den gesellschaftspolitischen Aspekten in Bezug auf traumatische Erlebnisse und dem Apell sich zu positionieren.
Inhalt
In der Erklärung des Begriffs Trauma machen die Autorinnen deutlich, dass sie sich nicht in Anlehnung an das ICD 10 auf das Ereignis beziehen, sondern auf die Folgen für den/die Betroffene/n. Hier berufen sie sich auf Hüther (S. 21). Eine traumatische Erfahrung besteht dann, wenn die Möglichkeit, ein Ereignis zu verarbeiten nicht mehr gegeben ist. Das führt zu einem Umschalten auf basales Überleben, nur noch Flucht oder Kampf stehen im Vordergrund. Gelingt beides nicht, sprechen die Autorinnen in Anlehnung an Huber (2009) von der „traumatischen Zange“ (S. 23). Wenn sich für ein Ereignis keine Lösung mehr finden lässt, wird die Wahrnehmung verändert. Unbewältigte Situationen können dazu führen, dass vorhandene neutrale Verschaltungen destabilisiert werden. Das führt zur Veränderung der Handlungsfähigkeit aufgrund divergierender Gefühle und Gedanken. Aufgrund der Komplexität der Symptomatiken ist eine Klassifizierung sowohl nach ICD 10, als auch nach DSM-V nicht ausreichend. Um eine weitere Ausdifferenzierung zu gewährleisten gehen die Autorinnen intensiv auf die Faktoren der Übererregung, Wiedererleben und Vermeidung bei einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ein. Dies wird durch Beispiele veranschaulicht.
Scherwath und Friedrich unterscheiden zwischen der PTBS und der komplexen PTBS, die sich durch „ein breites Symptomspektrum im Bereich der Gefühlsregulation“ (S. 32) auszeichnet. Insbesondere durch das Wiederholen traumatischer Erlebnisse, wie andauernde Gewalt oder Missbrauch lässt sie sich von der klassischen PTBS abgrenzen. In diesem Zusammenhang wird kritisiert, dass erst 2022 im Rahmen der ICD 11 differenziert wird. Als eine weitere Form wird das Entwicklungstrauma beschrieben, aufgrund einer immer noch fehlenden Ausdifferenzierung wird von allgemeinen Entwicklungsstörungen gesprochen. Das hat zur Konsequenz, dass es lediglich zu einer Symptombehandlung, nicht aber zu einer Auflösung und Bearbeitung der Ursachen kommt.
Da besonders der Entwicklungsverlauf der ersten Lebensjahre Einfluss auf das gesamte Leben, die innere Haltung und das Selbst- und Fremdkonzept nimmt, bedarf es hier einer genaueren Betrachtung von traumatischen Erlebnissen und den gezeigten Symptomen. Können bestimmte Entwicklungsaufgaben nicht bewältigt werden, hat das Auswirkungen auf die darauffolgenden Entwicklungsaufgaben. Veranschaulicht wird dieser Zusammenhang an dem Grundbedürfnis nach Bindung. Wird das Bedürfnis nicht befriedigt, entwickelt das Kind eine Bindungsstörung, die sich dauerhaft in unterschiedlichen Formen zeigen kann. Besonders genannt sei hier das negative Selbstkonzept als Folge traumatischer Erfahrungen. Häufig wird von betroffenen Menschen Verantwortung für das Ereignis übernommen. Eindrücklich gehen die Autorinnen auf das Beispiel sexualisierte Gewalt ein, in der das Opfer aufgrund mutmaßlich gesendeter Botschaften zum Täter wird. Durch die Schuldübernahme entsteht der Trugschluss, eigenes anderes Verhalten hätte die traumatisierende Situation verhindern können. Damit wird das Empfinden von Schuld und Scham zu einem zentralen Element, was in der pädagogischen Arbeit unbedingt beachtet werden muss.
Dissoziationen zur Bewältigung traumatischer Erfahrungen spielen in der Pädagogik insofern eine Rolle, als dass sie häufig als Verhaltensauffälligkeiten, die reglementiert werden müssen wahrgenommen werden. Durch diese Art der Symptombekämpfung kann das negative Selbstkonzept manifestiert werden. Denn handelt es sich tatsächlich um eine Bewältigungsstrategie, verliert die/der Betroffene die Kontrolle über ihr/sein Verhalten und ist gar nicht in der Lage, es zu verändern. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, bedarf es einer fachlich fundierten Betrachtung der Biographie. Zunächst wird zwischen Monotrauma, Multitrauma und sequenzieller Traumatisierung unterschieden. Vor dem Hintergrund der individuellen Schutzfaktoren kann eine Prognose zum Ausmaß der traumatischen Erfahrung getroffen werden. Überraschende Ereignisse, die handlungsunfähig machen, weil sie in das innere Konzept nicht einsortiert werden können werden als Schocktraumata verstanden. Im weiteren Verlauf stellen die Autorinnen die Unterschiede zwischen Kollektiverlebnissen, wie Naturkatastrophen und individuellen Beziehungstraumata heraus und verdeutlichen, dass die eigene Betroffenheit stark davon abhängt, wie sehr sich die Person handlungsunfähig und ausgeliefert gefühlt hat. Den Verlust von nahestehenden Personen können Erwachsene in der Regel gut verarbeiten, für Kleinkinder kann dies aber ebenfalls eine Traumatisierung bedeuten, wenn es keine adäquate andere Bindungsperson gibt, da sie noch sehr auf deren Schutz angewiesen sind. Maßgeblich für den Grad und die Schwere der Folgen traumatischer Erfahrungen sind individuelle Faktoren wie biographische Erfahrungen, das soziale Umfeld und eigene Ressourcen. Vulnerabilität sowie die Weitergabe traumatischer Ereignisse an die nächste Generation (transgeneratives Trauma, S. 59) können ebenfalls Risikofaktoren darstellen. Aber auch die Schutzfaktoren nehmen einen großen Einfluss. Exemplarisch werden hier die personalen Faktoren, Resilienzfaktoren und umgebungsbezogenen Faktoren benannt. Sie können dazu führen, dass eine Verarbeitung besser gelingt.
Kapitel zwei beschäftigt sich mit den Leitlinien traumabezogener Interventionen im sozialpädagogischen Alltag. Zunächst wird auf die Gefahr hingewiesen, dass ohne ein hermeneutisches Fallverstehen in der Sozialpädagogik schnell eine reine Symptombearbeitung ohne Auseinandersetzung mit den Ursachen stattfindet. Solche Ansätze sind in der Regel zum Scheitern verurteilt. Dies wird in mehreren Fallbeispielen durch Bearbeitung mit einem verhaltensorientierten im Gegensatz zu einem verstehensorientierten Zugang veranschaulicht. Es geht also nicht um das „warum“, sondern „wofür“. Das erfordert einen Perspektivwechsel, denn es geht nicht darum durch Konsequenzen gezeigtes Verhalten abzustellen, sondern durch Verstehen Ursachen zu erkennen und die alten Wunden zu versorgen, aber auch durch eine „Nachversorgung“ Verstrickungen durch traumatische Erfahrungen in der Vergangenheit aufzulösen. Scherwath und Friedrich postulieren fünf Handlungs- und Zielrichtungen, die im Folgenden Stationen, Aspekte und Methoden sozialpädagogischer Arbeit bei Traumatisierung flankieren:
- Herstellen von Sicherheit
- Reduzierung und Vermeiden von Stress
- Unterstützung von sicheren Bindungsentwicklungen
- Unterstützung von positiven Selbstbildern
- Ressourcenorientierung (S. 73)
Grundlage traumapädagogischer Konzepte bildet die Herstellung eines sicheren Ortes. Neben den Fachkräften sind hier auch die Einrichtungen selber gefordert. Denn nur wenn für die Mitarbeiter*Innen institutionelle und persönliche Sicherheit durch Wertschätzung, Fehlerfreundlichkeit, offene Kommunikation, Rückendeckung und gute Kooperation (Rheinische Gesellschaft für Innere Mission und Hilfswerk 2005), aber auch ausreichende Ressourcen, angemessene Dienstpläne, stabile Leitungspräsenz und institutionelle Transparenz und Unterstützungssysteme (Schmid 2013; Lang 2013) gewährleistet sind, können geeignete Schutzräume für korrigierende Erfahrungen implementiert werden. Ein weiterer sicherheitsstiftender Aspekt ist das Erstellen von klaren Regeln, Rahmenstrukturen und Ritualen. Individuelle Lösungen und Anforderungen in den Alltagsstrukturen beugen einer Überforderung vor und nehmen den Stress, der als größter Risikofaktor für traumatisierte Menschen gilt. Hilfreiche Leitfragen zur Erstellung von Regeln könnten sein:
- Fühlt sich das Kind als Teil der sozialen Gemeinschaft?
- Kann es den Sinn der Regel aus einem positiven Blickwinkel erfassen?
- Entsprechen die Anforderungen der Regeln dem Entwicklungsstand und der Stresskompetenz des Kindes?
- Besitzt das Kind ausreichend Steuerungsfähigkeit, um eine Regel zu berücksichtigen?
- Sind die Konsequenzen mit positiven und heilsamen Erfahrungen, statt mit Androhungen und Beängstigung verbunden?
(vgl. auch Schmid/Lang 2013, 282–300)
Basis dieser Regeln sollte das Entwickeln und Erhalten von Gewaltfreiheit sein. Hilfreich ist die Partizipation der Gruppe, um durch gruppenpädagogische Interventionen eine tragende Gemeinschaft entstehen zu lassen.
Neben den inhaltlichen Rahmenbedingungen müssen auch die äußeren der Intention eines Schutzraumes entsprechen. Wohnräume müssen behaglich gestaltet sein und den Bewohner*Innen muss eine Möglichkeit zur Privatsphäre bereitgestellt werden. Des Weiteren spielen Kontakte zur Herkunftsfamilie, insbesondere bei einer Unterbringung in Pflegefamilien oder stationäre Einrichtungen eine entscheidende Rolle. Um die Sicherheit der Kinder nicht zu gefährden führen die Autorinnen hierzu hilfreiche Fragen an, die sowohl das Kind, als auch die Bezugspersonen in den Blick nehmen.
Um die Wichtigkeit einer guten pädagogischen Beziehung zu unterstreichen, arbeiten die Autorinnen im Folgenden „Bindungssicherheit als Grundlage für erfolgreiches Lernen“ (S. 89) heraus. Der Überforderung von Fachkräften beugen sie vor, indem sie Wissen über traumatische Bindungs- und Beziehungsstrukturen sowie eine eigene sichere Bindungsrepräsentation einfordern. Zur Orientierung stellen sie das Konzept der Feinfühligkeit, Präsenz, Resonanz, Unterstützung bei der Stressregulation und Nähe, Trost und Körperkontakt vor. Gelingt die Beziehungsgestaltung, kann bei den traumatisierten Menschen durch korrigierende Erfahrungen die emotionale Sicherheit im inneren System wiederhergestellt werden. Fachkräfte nutzen also sich selbst als Instrument, wodurch die Notwendigkeit der personalen Kompetenzen in den Fokus rückt. Scherwath und Friedrich führen als hilfreiche Fähigkeiten die emotionale Verfügbarkeit, Herzlichkeit, Selbst- und Stressregulation sowie Selbstreflexion auf.
In der psychotherapeutischen Arbeit mit traumatisierten Menschen geht es nicht mehr primär um die inhaltliche Bearbeitung, sondern vielmehr darum, Betroffene zunächst zu stabilisieren, damit sie an ihre Ressourcen herankommen. Die Begünstigung positiver Selbstbilder und Selbstwirksamkeitsüberzeugung rückt in den Fokus. Um das zu gewährleisten bedarf es eines Umdenkens, denn im pädagogischen Alltag wird der Blick häufig auf das gerichtet, was nicht geht, eben die Probleme, die behoben werden sollen. Vielmehr sollten sich die Pädagog*Innen als „Schatzsucher auf der Insel der Persönlichkeit“ (S. 103) verstehen. Im Vordergrund steht die Wertschätzung für die Lebensleistung der Klient*Innen. Bei all dem, was diese Menschen durchgemacht und erlebt haben, haben sie doch Mechanismen entwickelt, um zu überleben. Das gilt es bewusst zu machen, um ressourcenorientiert arbeiten zu können. Mit anschaulichen Beispielen und einer hilfreichen Methodenauswahl veranschaulichen die Autorinnen Möglichkeiten zur Ressourcenorientierung.
Auf dieser sicheren Basis lassen sich traumatische Erfahrungen mehr und mehr in die eigene Lebensgeschichte integrieren. Drei Felder kennzeichnen den Beitrag sozialpädagogischer Arbeit zur Traumabearbeitung. Die Psychoedukation als Unterstützung Erlebens- und Verhaltenssymptomatiken ohne Negativkonnotation besser zu verstehen. Durch diese Neubewertung Distanz zu schaffen und dann wieder Handlungsfähigkeit zu erlangen. Das gezeigte Verhalten hatte einen Sinn, damit die Situation überstanden werden konnte.
Das zweite Feld beschäftigt sich mit der Entlastung traumatisierter Menschen durch Enttabuisierung. Gewalt und Missbrauch ist ein breites gesellschaftliches Problem. Damit kann der Blick geweitet werden und betroffenen Personen das Gefühl von Schuld genommen werden.
Und schließlich als drittes Feld die traumasensible Biographiearbeit. In der Beschreibung der Vergangenheit lässt sich das Erlebte in einen Gesamtkontext integrieren und die eigene Leistung zur Lebensbewältigung bewusst machen. Um keine Trigger auszulösen empfiehlt es sich, Betroffene auf ihre gesamte Lebensgeschichte schauen zu lassen und sie nicht einem wiederholten Erleben der traumatischen Erfahrung auszusetzen.
Der Mensch erlebt sich selten als eine geschlossene Einheit, vielmehr besteht er aus vielen teilweise divergierenden Persönlichkeitsanteilen. Zahlreiche psychische Modelle beschäftigen sich mit diesem Phänomen. Scherwath und Friedrich benennen u.a. das Stufenmodell der Transaktionsanalyse nach Bern, das Psychodrama nach Moreno, das Theater des Inneren nach Satir, das innere Team nach Schulz von Thun, sowie der Ansatz der Ego – Statik – Therapie entwickelt von John und Helen Watkins und weitergedacht von Peichl, der im Folgenden näher beleuchtet wird.
Das Unterkapitel schließt mit hilfreichen Anregungen und vertiefender Literatur zur Ego – State – Arbeit.
Um auf plötzliche auftretende Situationen, die auf Störungen der Affekt- und Impulskontrolle beruhen vorbereitet zu sein, entwickeln die Autorinnen einen Notfallplan. Ziel ist es, sowohl das pädagogische Fachpersonal, als auch die Betroffenen selber handlungsfähiger zu machen. Zur Veranschaulichung werden die Affekt- und Impulsausbrüche mit Erosionen in einem Erdbebengebiet verglichen. Auch hier sind Pläne und Sicherheitsmaßnahmen notwendig, um dem begegnen zu können und nicht lediglich hilflos ausgeliefert zu sein. Als mögliche Herangehensweise für derartige Ausbrüche wird die Triggeranalyse beschrieben. In tabellarischer Form werden Schlüsselreize, die als Auslöser für Affekt- und Impulsausbrüche identifiziert werden festgehalten. Durch die Kenntnis solcher Schlüsselreize können sie besser vermieden werden, bzw. es können Strategien entwickelt werden, die diese neutralisieren.
Eine weitere hilfreiche Methode ist das Achtsamkeitstaining. Präventiv eingeübt hilft es den Betroffenen, Kontrolle über die eigene Wahrnehmung zu gewinnen und so in Stresssituationen durch das wahren von Distanz dem Gefühl nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Das Stessbarometer, bzw. die Stressskala wird ebenfalls angeführt, sowie diverse Strategien zur Distanzierung und Selbstberuhigung, veranschaulicht durch passende Übungen. Des Weiteren führen die Autorinnen als Stressreduzierungsmaßnahmen die Entwicklung von Skills, also von Fähigkeiten, extreme und unangenehme Gefühle besser ertragen zu können, als auch die Erstellung einer Notfallliste, bzw. eines Notfallkoffers an.
Für Menschen mit guter Vorstellungsgabe empfehlen sich Imaginationsübungen, wie die Tresorübung, in der ein imaginärer Aufbewahrungsbehälter für belastende Erinnerungen entwickelt wird, sowie die Fernbedienungstechnik, die über das Bild der Fernbedienung dazu befähigt das „innere“ Programm steuern zu können. Abgeschlossen wird dieses Unterkapitel mit einem Stufenplan, der als Anregung zur Reorientierung der betroffenen Personen dienen soll. Im Weiteren wird der Umgang mit traumatisierten Menschen durch die Erste Hilfe bei Akuttrauma ergänzt. Nach einer kurzen Beschreibung der Schockphase und dem Umgang damit wird das Stressmanagement in den ersten 4 – 6 Wochen in Bezug auf Ruhe und Schlaf, Bewegung und Ernährung sowie Aufklärung und Resonanz beschrieben.
Das zweite Kapitel schließt mit einer kurzen Hinführung in die psychotherapeutischen Hilfen mit dem Ziel, sozialpädagogisches Fachpersonal zu befähigen, geeignete therapeutische Maßnahmen installieren zu können.
Zunächst beschreiben Scherwath und Friedrich die Unterschiede zwischen vier gängigen Ansätzen aus dem therapeutischen Kontext, um sie dann näher zu erläutern. Die Trauma – fokussierte kognitiv – behaviorale Therapie (TFKBT) geht von lerntheoretischen Wirkungszusammenhängen aus. Durch eine bedrohliche Erfahrung wird ein neutraler Reiz konditioniert, sodass Betroffene immer beim Auslösen dieses Reizes Angstreaktionen zeigen, was dazu führt, dass sie entsprechende Situationen künftig meiden. Um dem entgegenzuwirken werden die Verknüpfungen durch neue positive Lernerfahrungen entkoppelt, bis der Reiz wieder neutral ist.
Das Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) bedient sich der entspannenden Wirkung rhythmischer rechts – links – Augenbewegungen. Das Kind erinnert die traumatische Erfahrung, durch bilaterale Stimulation über Augenbewegungen werden Selbstheilungsprozesse der Psyche angestoßen.
Die Narrative Expositionstherapie für Kinder (KIDNET) entspricht im Wesentlichen der Narrativen Expositionstherapie. Ist aber auf Kinder zugeschnitten. Positive und negative Lebensereignisse werden auf einer Zeitlinie symbolisch dargestellt um dann die belastenden Situationen narrativ zu bearbeiten.
Die Psychodynamische Imaginative Traumatherapie (PITT) nutzt die therapeutische Wirkung heilsamer Imaginationen.
Ebenso hilfreich für sozialpädagogische Fachkräfte in der Arbeit mit Betroffenen ist ein guter Überblick über vorhandene Kliniken und die Möglichkeit der begleitenden medikamentösen Behandlung.
Das dritte und letzte Kapitel legt den Fokus auf das Helfersystem und beschäftigt sich mit der Gefahr der sekundären oder auch stellvertretenden Traumatisierung. Im Fokus steht die Arbeit in der ambulanten und stationären Kinder- und Jugendhilfe. Bezugnehmend auf eine Studie der Universität Hamburg, die hohe Prävalenzen einer sekundären Traumatisierung in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aufzeichnet, appellieren die Autorinnen präventive Maßnahmen in Form von Handlungskonzepten zu installieren. Im Folgenden werden hierzu hilfreiche und anschauliche Übungen erläutert. Aber auch die Psychohygiene im Team, bei der vor allem den Leiter*Innen von Institutionen mit vorwiegend traumatisiertem Klientel eine zentrale Rolle zukommt wird herausgearbeitet.
Das Buch endet mit einer Schlussbetrachtung, in der Scherwath und Friedrich deutlich auf die gesellschaftspolitische Verantwortung hinweisen mit dem Appell, sich für die Verbesserung von Lebensbedingungen einzusetzen gepaart mit einer klaren Haltung gegen Gewaltverherrlichung bzw. -verharmlosung und einer Entwertung in der Gesellschaft. Sie machen auf die durch massive Sparmaßnahmen deutlich verschlechterte Arbeitsbedingungen für sozialpädagogische Fachkräfte aufmerksam und fordern sowohl einen niedrigeren Betreuungsschlüssel, als auch eine qualitativ bessere Ausbildung.
Diskussion
Scherwath und Friedrich begründen die neue Auflage ihres Buches damit, dass das Thema Traumapädagogik in der pädagogischen Fachwelt stark zugenommen hat. Immer wieder betonen sie den „traumasensiblen Blick“ (S. 9), um in den Hilfeprozessen wirksam werden zu können. Dabei stellen sie deutlich heraus, dass es in der pädagogischen Arbeit mit Betroffenen zunächst nicht um Verhaltensänderung geht, sondern um eine qualitative Beziehungsgestaltung im Sinne der Wertschätzung und Anerkennung der Lebensleistung des Klientels. Schon an dieser Stelle wird die innere Haltung der Autorinnen deutlich, die durchweg traumatisierte Menschen nicht in eine Opferschublade stecken und somit Gefahr laufen, sich über sie zu stellen, sondern eine Begegnung auf Augenhöhe fordern, in der gemeinsam ressourcenorientiert nach Lösungen gesucht werden kann.
Nichtsdestotrotz findet in der Kinder- und Jugendhilfe eine Renaissance von traditionellen pädagogischen Maßnahmen statt, deren Ziel es ist, durch Sanktionen eine Verhaltensänderung zu erzwingen. Aber genau an dieser Stelle wirkt das vermeintlich gut gemeinte Herangehen eher problemstabilisierend. Für traumatisierte Menschen bestätigt sich die Erfahrung, dass sie machtlos sind und ihr Ohnmachtsgefühl nur dann in den Griff bekommen, wenn sie selbst Macht ausüben können. Damit werden bestehende Traumamuster determiniert.
An dieser Stelle ist es den Autorinnen durch das Einbetten der Theoriegerüste in anschauliche Praxisbeispiele gelungen, Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und die eigene Haltung immer wieder zu hinterfragen. Die traumapädagogischen Ansätze werden auf hilfreiche Erkenntnisse für das pädagogische Arbeitsfeld überprüft und die vorgestellten Konzepte bieten gute Impulse für die sozialpädagogische Basisarbeit. Sie richten Ihren Fokus nicht auf die Konfrontation und das Durcharbeiten traumatischer Erfahrungen, vielmehr setzen sie auf Selbstwirksamkeit und die positive Selbstwahrnehmung. Hier findet auch ihr vorgestellter Notfallplan für Situationen, die auf Störungen der Affekt- und Impulskontrolle beruhen Anschluss. Damit nehmen sie pädagogischen Fachkräften die Berührungsängste und bieten anschauliche Übungen und Methoden an, um Handlungsfähig zu bleiben.
Da traumatische Erfahrungen häufig in der Kindheit stattfinden, gilt es dort anzusetzen. Die Umsetzung des Anliegens, allen sozialpädagogischen Handlungsfeldern gerecht zu werden ist den Autorinnen nicht ganz gelungen. Eine Umsetzung in Kitas oder Schulen scheint mir wenig praktikabel. Für die stationäre und ambulante Jugendhilfe, Beratungsstellen, sowie ganz aktuell in den Fokus gerückte Arbeit mit Geflüchteten bietet das Buch jedoch sehr gute Ansätze. Insbesondere durch die Erklärung der Brisanz, nichtbewältigter Entwicklungsaufgaben wird die Notwendigkeit deutlich, dass eben nicht an den Symptomen, sondern an den Ursachen gearbeitet werden muss. Das Konzept des guten Grundes, nämlich, dass jedes Verhalten in einem bestimmten Kontext subjektiv als sinnhaft erlebt wird bedarf einer dem Menschen zugewandten Haltung. Hier gilt es vor allem zu verstehen und nicht zu bewerten. Erst in der Auflösung dieser Ursachen kann eine Nachversorgung erfolgen. Dabei steht die Bindungsorientierung immer zentral im Fokus. Die Autorinnen bleiben hier allerdings schuldig, dass es sich um die Gestaltung einer professionellen Beziehung handelt.
An dieser Stelle erlebe ich häufig in meiner Supervision vor allem mit noch unerfahrenen pädagogischen Fachkräften eine Unsicherheit. Natürlich bin ich mein eigenes Instrument und bringe, anders als etwa der Maschinenbauingenieur viel mehr von meiner eigenen Persönlichkeit in die Beziehungsgestaltung mit ein. Allerdings ist es gerade im Sinne der Selbstfürsorge wichtig, dass ich mich immer im Rahmen des professionellen Kontextes bewege. Deshalb ist es auch folgerichtig, dass pädagogisches Fachpersonal sich mit seiner eigenen Biographie auseinandersetzt, damit eigene evtl. unverarbeitete Lebensthemen bewusst gemacht werden können und die Gefahr eines Überstülpens auf das Gegenüber gebannt werden kann. Das Bedarf einer hohen Fähigkeit zur Selbstreflektion und es gilt diese immer wieder zu überprüfen. An diesem Punkt unterscheidet sich die private von der professionellen Beziehung maßgeblich. Und gerade deshalb muss schon in der Ausbildung der pädagogischen Fachkräfte die Fähigkeit zur Ausgestaltung und Wahrnehmung von Beziehung geschult werden. In meinen Lehraufträgen für diverse Hochschulen im pädagogischen Kontext bin ich immer wieder verwundert, wie wenig Platz für berufsbezogenen Selbsterfahrung die Curricula bieten.
Scherwath und Friedrich fordern folgerichtig ein Umdenken in der Ausbildung der pädagogischen Fachkräfte, sowie einen veränderten Betreuungsschlüssel, um den komplexen Aufgaben und Herausforderungen gerecht werden zu können. Sie appellieren an eine Anpassung der Rahmenbedingungen für das pädagogische Fachpersonal und machen die besondere Verantwortung von Leitung deutlich. Für die Supervision fordern sie ein traumasensibles Konzept. Grade an dieser Stelle musste ich schmunzeln, habe ich mich doch für die Rezension dieses Buches entschieden, weil mir in meiner supervisorischen Praxis immer mehr Supervisand*Innen begegnen, die mit traumatisierten Menschen arbeiten.
Nicht zuletzt positionieren sie sich sehr klar gegen die massiven Sparmaßnahmen und die deutlich verschlechterten Arbeitsbedingungen für sozialpädagogische Fachkräfte und fordern eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung gegen Gewaltverherrlichung und Entwertung in der Gesellschaft.
Fazit
Durch seinen stringenten und anschaulichen Praxisbezug stellt das Buch eine gute Unterstützung für pädagogische Fachkräfte, aber auch Studierende im sozialen Bereich dar. Scherwath und Friedrich ist es gelungen, ein sehr komplexes Thema ausdifferenziert und verständlich aufzubereiten und durch die vielen Übungen den Handlungsspielraum zu erweitern und somit Berührungsängste abzubauen.
Rezension von
Angelika Alieff-Sliepen
Sozialpädagogin / Sozialarbeiterin
Supervisorin (M.Sc.) (DGSv.)
Invisio. Praxis für systemische Beratung, Supervision und Coaching, Münster
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