Vassilia Triarchi-Herrmann: Mehrsprachige Erziehung
Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 14.02.2023

Vassilia Triarchi-Herrmann: Mehrsprachige Erziehung. Wie Sie Ihr Kind fördern.
Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2022.
4., überarbeitete Auflage.
162 Seiten.
ISBN 978-3-497-03158-0.
D: 18,90 EUR,
A: 19,50 EUR.
Reihe: Kinder sind Kinder - 25.
Die Autorin
Dr. Vassilia Triarchi-Herrmann ist Sprachtherapeutin und hat über mehrere Jahrzehnte als Referentin für Interkulturelles Lernen an staatlichen Institutionen und der Ludwig-Maximilian-Universität München gearbeitet. Was es bedeutet, in der Familie zweisprachig zu erziehen, kennt sie aus eigener Erfahrung. Sie ist Mutter einer zweisprachig griechisch-deutschen Tochter.
Thema
Wenn Mama und Papa verschiedene Sprachen sprechen, haben Kinder die wertvolle Chance, mehrere Sprachen gleichzeitig zu lernen. Eltern stellen sich viele dazu Fragen. Die Autorin will den Eltern Handlungssicherheit für den mehrsprachigen Alltag geben.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Kapitel werden viele zentrale Begriffe vorgestellt und erläutert. Mehrsprachigkeit wird definiert und deren verschiedene Begriffe vorgestellt: Muttersprache, Erst- und Zweitsprache, Familien- und Umgebungssprache, starke und schwache Sprache, simultane und sukzessive Mehrsprachigkeit. Dabei geht die Autorin auch auf besondere Sprachmerkmale bei Mehrsprachigkeit ein (Interferenzen, Sprachmischung und Code-switching).
Im zweiten Kapitel wird die Sprachentwicklung bei Mehrsprachigkeit besprochen. Triarchi-Herrmann unterscheidet simultane mehrsprachige Sprachentwicklung und den Zweitspracherwerb nach dem dritten Lebensjahr. Der Spracherwerb verläuft bei einem frühen Zweitspracherwerb in etwa gleich wie bei einsprachigen Kindern, in individuell verschiedenen zeitlichen Verläufen. Sie bespricht ausführlich die Meilensteine bis zum sechsten Lebensjahr, dann die Phasen des Zweitspracherwerbs nach diesem Lebensjahr.
Im dritten Kapitel werden Abweichungen und Störungen bei Mehrsprachigkeit besprochen. Die Autorin gibt Antworten auf die Frage, welche Abweichungen normal sind. Lange Zeit galt Mehrsprachigkeit als Risikofaktor für eine Sprachstörung. Die Autorin stellt fest, dass eine ungleiche Entwicklung der Sprachen sehr häufig vorkommt und eine parallele Entwicklung der Sprachen eher selten ist. Die zeitliche Verschiebung in der Entwicklung der Sprachen liegt meistens am unterschiedlichen Sprachangebot. Auch das kurzfristige Verweigern einer der Sprachen kommt häufig vor und ist kein Symptom einer Sprachstörung. Insgesamt ist ihr wichtig festzuhalten, dass mehrsprachige Erziehung keine Sprachstörung verursacht. Kennzeichen einer Sprachstörung ist es, dass sie in jeder Sprache auftritt und zwar die gleichen wie bei einsprachigen Kindern. Es werden Empfehlungen gegeben, wie sich das Umfeld verhalten soll, wenn das Kind nicht „normal“ spricht.
In Kapitel 4 werden die Auswirkungen der Mehrsprachigkeit auf die allgemeine kindliche Entwicklung diskutiert. Untersuchungen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zeigten eher negative Auswirkungen. Diese Studien wiesen aber aus heutiger Sicht viele methodische Fehler auf, Einzelfallstudien zeigten auch damals schon positive Auswirkungen. Eine Veränderung erfolgte ab den 60er Jahren. Positive oder negative Auswirkungen (vor allem der kognitiven Entwicklung) erklärt die Schwellenniveauhypothese (Überschreiten von Schwellen für positive Auswirkungen; additiver vs. subtraktiver Bilingualismus): Die Qualität der Entwicklung ist zudem abhängig von sozio-kulturellen, emotionalen und sprachlichen Bedingungen.
In Kapitel 5 werden Prinzipien (5 Prinzipien) für den mehrsprachigen Alltag besprochen. Die konkreten Empfehlungen und Tipps zur Unterstützung der Eltern basieren auf den langjährigen Erfahrungen der Autorin. Es wird empfohlen, so viel als möglich mit dem Kind zu sprechen, so viel als möglich in der Muttersprache der jeweiligen Person nach dem Prinzip „eine Person- eine Sprache“ und eine Sprachmischung zu vermeiden. Wichtig sind die Überlegungen, welche Sprache Familiensprache werden soll und wie jede Sprache mit möglichst viel positiver Zuwendung vom Kind gehört und verwendet werden kann. Hilfreich sind dabei Bilderbücher, Vorlesen, gemeinsames Singen oder auch Filme. Insgesamt ist es wichtig, dem Kind eine positive Einstellung zu seiner Mehrsprachigkeit zu vermitteln.
Der umfangreiche Serviceteil enthält ein Glossar der wichtigen Begriffe, ein Verzeichnis der Fachliteratur, Literatur zum Weiterlesen und Arbeitsbücher zur mehrsprachigen Sprachförderung, Websites zum Thema (mit Büchern, Märchen, Versen, Liedern, Spiele) und ein Verzeichnis von Beratungsstellen.
Diskussion
Mehrsprachigkeit ist ein seit Jahrtausenden bestehendes Phänomen, wie alte Texte beweisen, wahrscheinlich seitdem die ersten beiden Menschen mit unterschiedlichen Sprachen aufeinandertrafen. Mehrere Sprachen zu beherrschen war somit schon immer eine Notwendigkeit, eine Selbstverständlichkeit und manchmal ein Privileg. Heutzutage ist Mehrsprachigkeit weltweit die Norm, Einsprachigkeit die Ausnahme. Viele Eltern wollen ihr Kind mehrsprachig erziehen bzw. es ist eine Notwendigkeit im Kontext familiärer und nichtfamiliärer Umgebung.
Der Elternratgeber soll auch in der vierten (gründlich überarbeiteten) Auflage Eltern mehrsprachiger Kinder während der Zeit des Spracherwerbs begleiten, dabei ein Bewusstsein für die Sprachentwicklung des Kindes schaffen und natürlich viele Fragen beantworten.
Das Buch informiert über die (allgemeine) Entwicklung bei mehrsprachigem Aufwachsen sehr anschaulich mit vielen Beispielen. Auch im Kapitel zu den Prinzipien wird das Wissen um ein gesundes mehrsprachiges Aufwachsen alltagsnah umgesetzt.
Das Buch ist zwar als Elternratgeber konzipiert, aber auch andere Personen, so z.B. die PädagogInnen in den Kindertagesstätten, können das Buch gewinnbringend lesen (so den Abschnitt über die Sprachentwicklung bei einem sukzessiven Zweitspracherwerb) und den Eltern dieses Wissen vermitteln. Eltern, die nach einer Empfehlung „Sie müssen zuhause mit Ihrem Kind deutsch reden“ ratlos und verzweifelt in die Beratung kamen, sind mir noch gut im Gedächtnis.
Wie bei jedem Buch ist es aber leider auch bei diesem Buch notwendig, die deutsche Sprache hinreichend gut zu beherrschen. Unter dieser Voraussetzung ist es sehr zu empfehlen.
Zielgruppen
Eltern, ErzieherInnen, GrundschullehrerInnen
Fazit
Das Buch vermittelt als Ratgeber anschaulich und mit vielen Beispielen viel Wissen über positive mehrsprachige Entwicklung (einschließlich auch möglicher Abweichungen und Störungen) und gibt wertvolle Tipps und Anregungen.
Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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