Anil Batra, Oliver Bilke-Hentsch (Hrsg.): Praxisbuch Sucht
Rezensiert von Prof. Dr. Gundula Barsch, 08.02.2023
Anil Batra, Oliver Bilke-Hentsch (Hrsg.): Praxisbuch Sucht. Therapie der stoffgebundenen und Verhaltenssüchte im Jugend- und Erwachsenenalter. Georg Thieme Verlag (Stuttgart) 2022. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. 368 Seiten. ISBN 978-3-13-242937-6. D: 99,99 EUR, A: 102,80 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
Das vorgelegte Werk ist zehn Jahre nach seiner Ersterscheinung bereits die 3. Auflage dieses Fachbuches. Es versteht sich als ein Überblickswerk, in dem die wichtigsten und aktuellen Themen im Bereich von Suchtmedizin und Suchtpsychiatrie angesprochen werden. Dazu gehören auf der einen Seite Problembereiche, die durch soziale Entwicklungen im Umgang mit Substanzen, aber auch in Zusammenhang mit bestimmten Verhaltensmustern bisher so nicht drängend waren. Dazu gehören aber auch Verschiebungen, die durch eine Veränderung der diagnostischen Kriterien im ICD-11 und DSM-5 zustande kommen und bestimmen, was wann und in welchen Ausprägungen als die Krankheit Abhängigkeit bzw. Sucht verstanden und therapeutisiert werden soll. Am deutlichsten wird diese Entwicklung in Bezug auf diverse Verhaltensmuster, die nicht mit einem Substanzkonsum einhergehen, aber nunmehr als Sucht klassifiziert und entsprechend behandelt werden. Auf der anderen Seite gehört zu den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch die Einführung digitaler Angebote in das ambulante und stationäre Versorgungssystem. Diese wurden mit den Coronamaßnahmen forciert etabliert und haben viele traditionelle Bereiche deutlich und nachhaltig verändert. Sie sind gekommen, um zu bleiben, brauchen aber den kritischen Blick darauf, wieweit damit tatsächlich ein Gewinn für die Patienten verbunden ist und nicht einfach nur dem hochgewuchteten Thema Digitalisierung gerecht werden. Das Buch hat den Anspruch, diesen vielgestaltigen Entwicklungen eine Bühne zu geben, weshalb sich die Herausgeber auf ein 39-köpfiges Autorenkollegium gestützt haben, das in der Mehrheit auch neu für die Arbeit an diesem Fachbuch gewonnen werden konnte. Respekt vor dieser herausgeberischen Arbeit!
Herausgeber:innen
Vorgelegt wird es von einem Herausgeberduo, das sich mit einer deutschen Kollegin und einem Schweizer Kollegen über Ländergrenzen hinweg gefunden hat und ganz offensichtlich miteinander verbunden ist durch Perspektive der Psychiatrie auf das Thema Abhängigkeit.
Inhalt
Das Buch ist in vier große Kapitel gegliedert. Diese widmen sich zunächst den theoretischen Modellen, die gegenwärtig das Verständnis von Abhängigkeit/Sucht erklären. In einem nächsten Kapitel geht es überblicksartig um psychotherapeutische Verfahren, die sich in der Suchtkrankenbehandlung etablieren konnten. Diese werden in einem nächsten Kapitel auf die Besonderheiten bezogen, die die therapeutische Arbeit mit Konsumenten höchst unterschiedlicher psychoaktiver Substanzen haben sollte. In dem abschließenden vierten Kapitel wird dargestellt, welche therapeutischen Herausforderungen zu meistern sind, wenn es um diverse sogenannte stoffungebundene Süchte geht. Alle Unterkapitel halten sich in etwa an einen Umfang von ca. zehn Seiten, wodurch es dem Leser leicht wird, sich schnell und fokussiert einen Überblick über die einzelnen Spezialthemen zu verschaffen.
Gestartet wird mit einer Vorstellung verschiedener diagnostischer Inventare, durch die der alte Begriff Sucht verlassen und als substanzbezogene Störung annonciert wird. Ergänzt wird dies durch die Einordnung der diagnostischen Verfahren in die Leitlinien-Diskussion der evidenzbasierten Medizin. So wird klarer, wie und warum zu welchen Einschätzungen gefunden wird. Hervorhebenswert ist das Bemühen der Autoren, immer wieder auf die Komplexität biopsychosozialer Dimensionen des Themas Abhängigkeit zu verweisen und die Mahnung, bei allem Bemühen um Standardisierung und Einschränkungen subjektiver Bewertungsspielräume die Besonderheiten des individuellen Einzelfalls im Auge zu behalten.
Es schließen sich Darstellungen biologischer Erklärungsmodelle von Abhängigkeit an, die sich entlang von Genetik, Neurologie und hirnorganischen Veränderungen sowie Umwelt bewegen. Deutlich wird, dass nach wie vor kein schlüssiges Erklärungsmodell zur Entwicklung von Abhängigkeit entwickelt werden konnte. Dies lässt sich auch nicht mit dem Verweis auf ein multivariates Geschehen ausräumen. Das erste Kapitel schließt mit einer dezidierten Auseinandersetzung mit Motivationsentwicklungen ab und skizziert zudem, wie die systemische Arbeit in Theorie und Praxis auch im Bereich der Suchtkrankenhilfe ankommt.
Das zweite große Kapitel stellt diverse psychotherapeutische Behandlungsverfahren vor. Die skizzierte Palette reicht von Psychoedukation, in die auch schon existierende digitale Angebote eingeordnet wurden, über Motivierende Gesprächsführung, kognitive Therapie, Cognitive Bias Modifikation, Dritte-Welle-Verfahren vor allem in Zusammenhang mit einer Rückfallprävention, dialektisch-behaviorale Therapien und verschiedene psychodynamisch orientierte Therapieformen bis hin zu multidimensionaler Familientherapie, Angehörigenarbeit mit Paar- und Familientherapie und Community Reinforcement. Alle diese Ansätze werden vorgestellt, indem zunächst eine Einordnung der Leitideen dieser Therapien vorgenommen wird, ein kurzer Abriss zu den Verfahren an sich gegeben und deren Eignung für bestimmte Themen/Personen/Problemlagen skizziert wird. Abgerundet werden die jeweiligen Themen durch eine Verortung des Stellenwerts der jeweils skizzierten Ansätze in einem Therapiekanon und durch eine Einschätzung der Wirksamkeit. Auf diese Weise entsteht ein guter Überblick über die jeweiligen Verfahren. Diese Übersicht fordert allerdings auf, sich im Fall der Anwendung in der Praxis intensiver mit den jeweiligen Methoden auseinanderzusetzen.
Das dritte große Kapitel stellt therapeutische Besonderheiten vor, die sich aus problematischen Konsumformen sehr unterschiedlicher psychoaktiver Substanzen ergeben. Ausgangspunkt sind immer die Pharmakologie der Substanz und die sich daraus ergebenden Wirkungen, für die die Risiken einer Abhängigkeitsentwicklung umrissen und Besonderheiten der Behandlungsformen dargestellt werden. Auf diese Weise ergibt sich auch in diesem Kapitel ein schneller Überblick über eine breite Palette von Konsumformen. Dazu gehören Alkohol, Tabak, Cannabis, Opiate und Opioide, Kokain, Amphetamine und Methamphetamine, Extasy, Sedative und Hypnotika, Biodrogen, GBA, GHB, neue synthetische und Party-Drogen sowie das Phänomen der Politoxikologie. Eine Einordnung des Konsums dieser Substanzen in bestimmte soziale Bezüge hätte das Gesamtbild bereichert. Gerade die jeweiligen drogenkulturelle Rahmenbedingungen werden zu zentralen Dimensionen, die mit ihren Deutungsbildern und Drogensozialisationspraktiken auf die Ausprägung und Entwicklung von Konsummustern einen deutlichen Einfluss nehmen.
Das Werk schließt mit einer Darstellung problematischer Verhaltensstile, für die sich derweil die Lesart „stoffungebundene Abhängigkeit“ eingebürgert hat. Für die systematische Abarbeitung der zentralen Informationen wird ebenfalls das Schema der stoffgebundenen Abhängigkeit genutzt. Auf diese Weise ergibt sich schließlich auch zu diesen Phänomenen ein guter Überblick, der natürlich eine vertiefende Beschäftigung einfordert, wenn im therapeutischen Alltag z.B. Spielsucht, Computer- und Internetsucht, suchtartiges Kaufverhalten, exzessives Sexualverhalten, Sportsucht oder Arbeitssucht zu einem Schwerpunkt werden.
Diskussion
Das Buch beeindruckt, weil auf 360 Seiten eine große Dichte unterschiedlicher Themen rund um Abhängigkeit zusammengestellt wird. Es ist damit gelungen, einen umfassenden Überblick über Diagnostik, Erklärungsmodelle von Abhängigkeit und wichtige allgemeine therapeutische Methoden vorzustellen. Diesen allgemeinen Darstellungen folgt die Konkretisierung für die unmittelbare Praxis einzelner Problemlagen. Dabei wird sowohl in Bezug auf die stoffgebundenen als auch mit Blick auf die als Verhaltenssüchte gelesenen problematischen Verhaltensweisen ein großes Spektrum vorgestellt. Merksätze, Fallbeispiele, Zusammenfassung und herausgehobene spezielle Hinweise erleichtern zudem, wesentliches im Blick zu behalten. Mit dieser Anlage gelingt es, für alle im Bereich der Suchtmedizin und Suchtpsychiatrie Beschäftigten einen guten Überblick über den aktuellen Wissensstand und die Themen der praktischen Behandlung zu geben. Leider fehlen alle Hinweise auf Angebote, die die Selbststeuerungsfähigkeit der Patienten wieder herstellen wollen, z.B. KISS „Kompetenz im selbstbestimmten Substanzkonsum“ und kontrolliertes Trinken oder Substitution, die in Deutschland zu der umfänglichsten Behandlungsart bei Opiatabhängigkeit geworden ist. Wohl auch deshalb kommen Apps, die über Self-Tracking das Bemühen der Patienten um Selbstermächtigung durch Selbsterkenntnis unterstützen wollen (z.B. Checkpoint-C und Checkpoint-S) nicht in den Blick. Auch wenn mit dem Hinweis auf die Bezüge zwischen Entwicklungsaufgaben der Lebensalter und Abhängigkeit in erfreulicher Weise soziale Bezüge in die Betrachtung des Gesamtgeschehens einbezogen werden, hätte man sich eine stärkere Darstellung z.B. der drogenkulturellen Bezüge und deren Potenzial für die Prävention problematischen Drogenkonsums gewünscht. Schon der Blick auf die Unterschiede zwischen Ecstasy und Heroin lässt erahnen, dass von Drogenszenebezügen durchaus positive Impulse ausgehen können, die es anzuerkennen und zu fördern gilt.
Fazit
Das vorgelegte Werk ist ein profunder Wissensschatz für professionell in der Suchtkrankenbehandlung Tätige. Die Tatsache, dass die Inhalte kostenfrei im Internet abgerufen werden können, ist ein freundlicher Zugewinn für alle – in diesem Sinne ist der Zugang dazu erfreulich niedrigschwellig.
Rezension von
Prof. Dr. Gundula Barsch
Hochschule Merseburg
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Zitiervorschlag
Gundula Barsch. Rezension vom 08.02.2023 zu:
Anil Batra, Oliver Bilke-Hentsch (Hrsg.): Praxisbuch Sucht. Therapie der stoffgebundenen und Verhaltenssüchte im Jugend- und Erwachsenenalter. Georg Thieme Verlag
(Stuttgart) 2022. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-13-242937-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29986.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
Urheberrecht
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