Ingrid Meyer-Legrand: Die Kraft der Kriegsenkel
Rezensiert von Alexandra Großer, 26.05.2023

Ingrid Meyer-Legrand: Die Kraft der Kriegsenkel. Wie Kriegsenkel heute ihr biografisches Erbe erkennen und nutzen. Europa Verlag GmbH & Co. KG (München, Wien) 2022. 256 Seiten. ISBN 978-3-95890-460-6. D: 12,00 EUR, A: 12,40 EUR.
Thema
Ingrid Meyer-Legrand beschreibt in „Die Kraft der Kriegsenkel. Wie Kriegsenkel heute ihr biografisches Erbe erkennen und nutzen“, wie der erste und zweite Weltkrieg die Kriegsenkelgeneration beeinflusst. Die Generation, die zwischen 1960 und 1975 geboren wurde. Mit welchen gesellschaftlichen Einflüssen sie zu kämpfen haben, aber auch welche Ressourcen und Kraftquellen in diesem Erbe stecken und wie die Kriegsenkel diese für sich und die heutigen Herausforderungen nutzen können.
AutorIn oder HerausgeberIn
Ingrid Meyer-Legrand hat Sozialwissenschaften, Geschichte und Sozialarbeit studiert. Sie hat als Projekt- und Referatsleiterin in einem Wohlfahrtsverband gearbeitet. Sie arbeitet als Coach, Supervisorin und Therapeutin in eigener Praxis in Berlin und Brüssel sowie online.
Aufbau
Das Buch enthält neben Vorwort und Einführung 12 Kapitel mit mehreren Unterkapiteln.
Inhalt
Mit „Meine eigene Geschichte“ beschreibt die Autorin in einem kurzen Abriss ihre Familiengeschichte und die Familiengeschichte ihres Mannes.
„Die Kriegsenkel – entwurzelt, rastlos und getrieben“ – so beschreibt die Autorin in diesem Kapitel die Kriegsenkelgeneration, die eigentlich in Friedenszeiten und Wohlstand aufgewachsen ist. Viele von ihnen stehen in privaten wie in beruflichen Beziehungen entweder auf der Bremse und kommen nicht voran oder fühlen sich „entwurzelt … rastlos und getrieben“ (S. 27). Viele haben den Wunsch „endlich anzukommen … im Leben und in der Gesellschaft und endlich Wurzeln zu schlagen“ (S. 29). Die Autorin geht diesen Phänomenen nach, in dem sie zunächst das Leben der „Eltern als Kriegskinder“ (ebd.) beleuchtet.
Im Kapitel „Aufgewachsen bei den Kriegs- und Flüchtlingskindern des Zweiten Weltkriegs“ zeigt die Autorin auf, dass bereits der erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 seine Spuren in den Familien hinterließ. Denn die Kinder des Ersten Weltkriegs sind „die späteren Eltern der Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs“ (S. 39). Sie zeigt auf, dass Deutschland „drei existenzielle Brüche“ (ebd.) erlebte: den ersten Weltkrieg, die Hungerkrise und die Inflation. All diese Brüche wirken bis in die Generation der Kriegsenkel hinein. Die Eltern der Kriegsenkel erlebten traumatisierte Eltern, Armut, den Verlust von Angehörigen, manche wuchsen ohne Vater auf, unterstützten ihre Mütter bei der Erziehung der Geschwister oder halfen bereits in jungen Jahren zur Unterstützung des Lebensunterhalts mit. Aus Erzählungen von Kriegsenkeln wird deutlich, wie Familien in der NS-Zeit „in unterschiedlichster Form Teil des NS-Systems“ (S. 45) werden und dieses mittragen.
Um die gesellschaftlichen Hintergründe zu verstehen geht Ingrid Meyer-Legrand in „Das nationalsozialistische Erziehungsideal“ den Folgen der nationalsozialistischen Erziehung nach. Anhand der Erfahrungen eines Kriegskinds zeigt sie auf, wie sich die Zugehörigkeit zum BDM (Bund deutscher Mädel) auf Familien auswirkte. Erziehungsratgeber für Mütter taten ihr übriges. Gefühle, eigene Bedürfnisse zu haben war verpönt. Gefordert waren Anpassung, Gehorsam und Selbstaufgabe. Dieses erklärte Erziehungsziel hatte verheerende Folgen auf mehrere Generationen. „Krieg, Flucht und Vertreibung“ (S. 54) traumatisierten Frauen und deren Kinder zusätzlich. Nicht nur auf der Flucht waren „Kinder und Kleinkinder mit ihren Müttern“ (ebd.) Erschießungen, Vergewaltigungen und „andere Gewalttätigkeiten“ (ebd.) ausgesetzt. „Für die Flüchtlingskinder kam noch die prägende Erfahrung hinzu, Fremde im eigenen Land zu sein“ (ebd.). Flüchtlingskinder erlebten in ihrer neuen Heimat oft Anfeindungen. Solche Erfahrungen, erläutert die Autorin, können tiefe Verunsicherungen auslösen und zu „extremer Anpassung“ (S. 55) führen.
In „Der Krieg ist noch nicht zu Ende“ beschreibt die Autorin die unterschiedlichen Erfahrungen der Männer, Frauen und Kinder, die diese nach dem Krieg machten. Während die Männer im Krieg waren, waren es die Frauen, die sich Zuhause um alles kümmerten und dadurch ein anderes Selbstbewusstsein aufbauten. Waren die Männer am Anfang noch die Sieger kehrten sie am Ende des Kriegs als Verlierer und oft auch gebrochen und ihrer Ideale beraubt aus dem Krieg beziehungsweise Gefangenschaft zurück. Sie kamen zurück zu ihren Familien, in zerstörte Städte, oft auch in ein zerstörtes Zuhause oder gar einen ganz anderen Ort. Viele Väter, die zurückkehrten, blieben für ihre Frauen und Kinder obwohl anwesend abwesend. Bis heute werden die damaligen Leitsätze: „Auf Männer kann man sich nicht verlassen“ (S. 70) und „Macht euch nicht abhängig von einem Mann!“ (ebd.) an zukünftige Frauengenerationen weitergegeben. Die elterlichen Beziehungsmodelle zwischen Zerrüttung und Familienideal, welches vor allem in den 50er Jahren entstand, beeinflussen die Beziehungen der Kriegsenkel bis heute.
Das Kapitel „Die schwierige Gefühlserbschaft“ zeigt auf, dass die Kriegsenkelgeneration noch heute mit dem Krieg und Schuldgefühlen kämpft. Viele Kriegsenkel sind mit Menschen aufgewachsen die durch Krieg, Flucht, Vertreibung und Gewalterfahrungen traumatisiert wurden. Manche Eltern, Kriegskinder, agierten ihre Gefühle ungefiltert aus, statt über ihre traumatischen Erlebnisse zu sprechen, was zu einer Retraumatisierung hätte führen können. So hatten manche Kinder der Kriegskinder es mit „unberechenbaren, neidischen Müttern“ (S. 79) und „ausrastenden Vätern“ (ebd.) zu tun. Manche Kriegskinder schwiegen über ihre Erlebnisse andere erzählten die immer gleiche Geschichte, um mit der Erfahrung, die sie machten, fertig zu werden. Der Krieg war in vielen Familien allgegenwärtig. Sätze, wie „Wie gut ihr es habt. Wir hatten das alles nicht“ (S. 83), „Wenn ihr wüsstet, was Hunger ist, würdet ihr den Teller leer essen“ (ebd.) saßen mit vielen Familien am Tisch. Manch Kriegsenkel fühlt sich bis heute schuldig an den Verbrechen, die ihre Großeltern und Eltern begangen haben. Ein Erbe mit dem viele Kriegsenkel bis heute zu tun haben.
Im folgenden Kapitel „Transgenerationelle Weitergabe und Traumata“ zeigt die Autorin auf, dass die Bewältigung von Leid und Traumata alle „Bereiche des sozialen Lebens“ (S. 89) betreffen. Jedes Mitglied des Familiensystems wird durch diese Bewältigungsprozesse „zu einem besonderen Verhalten veranlasst“ (ebd.). In der Kriegsenkelgeneration kann es dadurch zur „Parentifizierung“ (ebd.) und „einer sekundären Traumatisierung“ (ebd.) kommen. Gleichzeitig entwickeln Kriegsenkelkinder „besondere Kompetenzen, die sie .. in ihren Berufen häufig sehr erfolgreich machen“ (S. 92). Viele Kriegsenkel erleben sich auf der Suche nach einer Heimat, möchten endlich ankommen und Antworten darauf haben, „was eigentlich mit ihnen los ist“ (S. 93). Im Anschluss geht die Autorin konkreter auf das Thema „Parentifizierung“ und möglichen Effekten dieser Verantwortungsübernahme ein.
In „Die Kinder und Jugend der Kriegsenkel – aufgewachsen in Friedenszeiten und Wohlstand“ stehen die Kriegsenkel selbst im Fokus, als auch der gesellschaftliche Hintergrund ihres Aufwachsens. Die Kriegsenkelgeneration wuchs in einer Zeit auf, in der alles möglich erschien. In der sie neue Werte und Maßstäbe setzten, neue Lebensmodelle entwarfen, studieren konnten, was immer sie wollten. Sie hatten durch die Öffnung der Bildungseinrichtungen neue Aufstiegschancen. „Zum ersten Mal konnte in der Bundesrepublik eine Generation unabhängig von ihrer sozialen Herkunft „etwas werden“. Sie gelangte in akademische Berufe und damit auch in andere soziale Schichten“ (S. 108). Ein Wechsel vom sozialen Milieu der Herkunftsfamilie in das neue soziale Milieu ist für den Einzelnen „mit einer großen Verunsicherung“ (S. 119) verbunden. Neben dem „Gefühl des Ungenügens“ (ebd.) befinden sich Kriegsenkel oft auch auf der „Suche nach dem eigenen Platz“ (S. 121). Diese „Suche“ lässt sie oftmals den Job wechseln, Fort- und Weiterbildungen besuchen, um sich fachlich noch weiter zu qualifizieren. Dabei kommt es immer wieder zu Stop & Grow -Phasen in denen sie sich selbst reflektieren und „neu, an ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen, an ihren Werten und ihren eigenen Vorstellungen vom Leben“ (S. 122) orientieren. Diese Stop & Grow-Phasen versteht Ingrid Meyer-Legrand auch als Strategie der Kriegsenkel um „mit den eigenen Wünschen an das Leben, mit ihrem besonderen Erbe und mit den Möglichkeiten und Anforderungen einer offenen Gesellschaft zurechtzukommen“ (ebd). Sie plädiert dafür diese Umbrüche, die auch immer wieder bedeuten neu zu beginnen, dieses Innehalten und Reflektieren als Ressourcen und Stärken zu begreifen in einer Gesellschaft, die geprägt ist vom lebenslangen Lernen und die Mobilität und Flexibilität vom Einzelnen verlangt.
In diesem Kapitel „Eine Kriegsenkel-Biografie im Schnittpunkt individueller und gesellschaftlicher Geschichte“ erklärt die Autorin anhand von Beispielen und den Methoden „Genogrammarbeit“ und „My Life Storyboard“ wie die Kriegsenkelbiografien mit den Biografien der Familie und der gesellschaftlichen Geschichte zusammenhängen. Anhand dieser Methoden erarbeitet sie mit den Kriegsenkel*innen Chancen, Ressourcen, Möglichkeiten aber auch Hindernisse, Muster und Glaubenssätze, die ihr Leben beeinflussen.
Das Kapitel „Gesellschaftliche Verhältnisse und persönliche Herausforderungen“ besteht aus einem Interview einer „Kriegsenkelin, die in der DDR aufgewachsen ist“ (S. 169). Die Leser*innen erhalten damit einen kleinen Einblick auf die Einflüsse, die „die jeweilige Gesellschaft auf den Lebenslauf hat“ (S. 177). Neben ihrer Kriegsgeschichte erzählt die Interviewte von der Übersiedlung von Familienmitgliedern in den Westen sowie der Bevormundung, die sie durch die DDR erlebte.
Im Kapitel „My Life Storyboard am Beispiel von Vera“ beschreibt die Autorin exemplarisch im Dialog mit einer Klientin ihre Methode und Vorgehensweise in der Biographiearbeit mit Klient*innen. Entlang der einzelnen Lebensstationen, die mit dem Storyboard erfasst werden, werden die Schnittpunkte sichtbar und die Zusammenhänge für die zu Beratenden begreifbar und damit nutzbar für die Zukunft.
Mit der Schlussbetrachtung „Das Erbe der Kriegsenkel – ein gesellschaftliches Potenzial“ geht die Autorin noch einmal auf die besondere Kraft der Kriegsenkel ein. Die sie auch als Botschafter*innen sieht für eine demokratische, mitfühlenden und mitmenschliche Gesellschaft und für einen gelingenden Neubeginn (vgl. S. 239).
Diskussion
Ingrid Meyer-Legrand beschreibt in ihrem Buch nicht nur welche Folgen Krieg, Flucht, Vertreibung und Gewalterfahrungen für die Kriegsenkelgeneration haben, sondern auch welche Kraftquellen, Ressourcen, Möglichkeiten und Kompetenzen den Kriegsenkeln dadurch zur Verfügung stehen und wie sie diese für sich nutzen können. Sie nimmt dabei verschiedene Blickwinkel ein, anhand derer sie die Lebensgeschichten der Kriegsenkelgeneration betrachtet. Immer wieder kommen in ihrem Buch Kriegsenkel, die ihre Beratungen aufsuchten zu Wort. Viele der biografischen Geschichten und theoretischen Erläuterungen zeigen exemplarisch die diffusen Gefühle der Kriegsenkel, die sie selbst nicht richtig benennen können. All die Selbstzweifel, das Streben nach Perfektionismus, dieses Gefühl keine Heimat zu haben, die Rastlosigkeit, nirgends richtig anzukommen, Beziehungen nur halbherzig einzugehen, für all dies gibt es jetzt durch das Buch der Autorin und ihre multiperspektivische Sicht Erklärungsansätze. Dazu gehört für die Autorin ebenfalls die Epoche in der die Kriegsenkelgeneration aufwuchs, um zu verstehen, dass diese Rastlosigkeit und Stehenbleiben nicht nur durch das Erbe der Kriege zu erklären ist. Obwohl die Kriegsenkelgeneration mit vielen Widersprüchen, Umbrüchen zu kämpfen haben, zeigt die Autorin zugleich auf, dass dieses biografische Erbe auch eine Kraftquelle ist, die es zu erkennen und zu nutzen gilt. Durch die Reflexion der gesellschaftlichen Zusammenhänge, der Lebensgeschichten, die erzählt werden, die viele der Kriegsenkel ähnlich erlebt haben dürften, erscheint die eigene Biografie, das eigene Verhalten in einem anderen Licht. Es sind die verschiedenen Perspektiven, die zur Selbstreflexion der eigenen Biografie und Familiengeschichte mit seinen unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen einladen, und damit die eigenen Ressourcen und Kompetenzen erkennen lassen.
Fazit
Insgesamt gesehen ist „Die Kraft der Kriegsenkel“ ein sehr lesenswertes Buch. Für Menschen, die der Kriegsenkelgeneration angehören, denen diese Rastlosigkeit bekannt vorkommt, die das Gefühl haben, auf der Suche zu sein und endlich ankommen möchten, bietet das Buch einen Einblick in das Zeitgeschehen und kann Antworten auf ihre diffusen Gefühle geben.
Rezension von
Alexandra Großer
Fortbildnerin, päd. Prozessbegleiterin, systemische Beraterin
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Zitiervorschlag
Alexandra Großer. Rezension vom 26.05.2023 zu:
Ingrid Meyer-Legrand: Die Kraft der Kriegsenkel. Wie Kriegsenkel heute ihr biografisches Erbe erkennen und nutzen. Europa Verlag GmbH & Co. KG
(München, Wien) 2022.
ISBN 978-3-95890-460-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29987.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.
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