Ellen Beate Hansen Sandseter, Jens-Ole Jensen (Hrsg.): Wild und gefährlich? Riskantes Spiel bei Kindern
Rezensiert von Dipl. Soz. päd. Claudia Nicolaus, 28.04.2023

Ellen Beate Hansen Sandseter, Jens-Ole Jensen (Hrsg.): Wild und gefährlich? Riskantes Spiel bei Kindern. Hintergründe, Entwicklungspotenziale und Spielformen für Kita und Schule. Verlag an der Ruhr GmbH (Mülheim an der Ruhr) 2022. 220 Seiten. ISBN 978-3-8346-5289-8. D: 27,99 EUR, A: 28,80 EUR.
Thema
Die vorliegende Anthologie beleuchtet das wilde und gefährliche Spiel (rough and tumble play) und seine Entwicklungspotenziale auf der einen Seite und die Frage von Sicherheitsaspekten im Spiel auf der anderen Seite.
Herausgeber:in
Ellen Beate Hansen Sandseter – leitende Dozentin für Physische Aktivität und Gesundheit an der Dronning Mauds Minne Hochschule (DMMH) in Trondheim.
Jens-Ole Jensen Leiter des Forschungs- und Entwicklungszentrum für Kinder- und Jugendkultur am VIA University College in Aarhus.
Entstehungshintergrund
„Das Ziel dieser Anthologie ist, eine Form des Spiels näher zu beleuchten, die oft als weniger wünschenswert und positiv angesehen wird als das sichere, ruhige und harmonische Spiel.“ (Vorwort S. 11) Es soll gezeigt werden, wie wichtig und wertvoll dieses Spiel für die kindliche Entwicklung ist, insbesondere wie diese Spielform in die pädagogische Arbeit in Kindertageseinrichtungen und Schule zu implementieren ist.
Aufbau und Inhalt
Das vorliegende Buch gliedert sich in elf Kapitel von insgesamt 14 AutorInnen, die in Dänemark und Norwegen zu Bewegung und körperlicher Aktivität von Kindern und Jugendlichen lehren und forschen. Es besteht vor allen ein gemeinsames Interesse das Thema „Wildes und gefährliches Spiel“, aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Die ersten beiden Aufsätze befassen sich mit grundlegenden Fragen zu den Bedingungen für wildes und gefährliches Spiel. Danach folgen Aufsätze mit unterschiedlicher Fokussierung, diese können einzeln und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden.
Das erste Kapitel, verfasst von Ellen Beate Hansen Sandseter, betrachtet das riskante Spiel im Kindergarten. Zunächst wird mit einem kurzen Beispiel beschrieben, was riskantes Spielverhalten bei Kindern ausmacht - „spannungsreiches und herausfordernder Spiel, das Unsicherheit und ein reales Verletzungsrisiko beinhaltet“. (S. 15) Dabei werden verschiedene Kategorien aufgezeigt, die auf ein riskantes Spielverhalten hinweisen. Der Autorin ist es wichtig zu beschreiben, wie Kinder das riskante Spiel erleben und welche Bedeutung es für die kindliche Entwicklung (Motorik, soziale Kompetenz, Risikobewältigung) hat. Weiterhin wird auch der Raum für riskantes Spiel beleuchtet z.B. gibt es Naturspielflächen oder eher traditionelle Spielplätze. Die Gestaltung der kindlichen Spielumgebung ist also von großer Bedeutung, wenn es um die Entfaltungsmöglichkeiten in spannungs- und risikobetontem Spiel geht, so Sandseter. Es wird auch die Einstellung und Haltung der pädagogischen Fachkräfte gegenüber riskantem Spiel thematisiert. Dafür werden unterschiedliche Studien herangezogen. Es gelingt eine Sensibilisierung für das Thema in den unterschiedlichen Facetten.
Jens-Ole Jensen möchte im zweiten Kapitel die Veränderungen, die im Laufe der Zeit dem kindlichen Spiel unterliegt, analysieren. Überschrieben ist das Kapitel mit: Die Zivilisierung wilder und gefährlicher Bewegungsspiele. Die Veränderung von Regeln und Normen (Zivilisierung und Zivilisierungsprozess) werden anhand des Fußballs und alter Sportarten aufgezeigt. Es wird verständlich beschrieben, wie sich durch Pädagogisierung und Institutionalisierung das Spiel verändert und was gesellschaftlich akzeptiert ist. „Die Pädagogisierung ist einerseits der Versuch, von den Interessen der Kinder oder Jugendlichen auszugehen, gleichzeitig auch die Normen und Werte des Spiels selektiv auszuwählen bzw. zu manipulieren.“ (S. 42) Zusammengefasst wird es als gezähmte Wildheit und sicheres Risiko vom Autor benannt.
Das dritte Kapitel, verfasst von Helle Skovjerg Karoff, beschäftigt sich mit der Gefahrenbewältigung bei Trampolinspielen. Im Aufsatz beschreibt der Autor, wie Kinder mithilfe unterschiedlicher Strategien den Gefahren beim Springen auf dem Trampolin begegnen. Die Strategien beziehen sich dabei auf unterschiedliche Aspekte wie Kommunikation, Kompetenz, Lärm u.a. Die zentralen Elemente des Spiels werden durch die Darstellung unterschiedlicher Beobachtungen von spielenden Kindern greifbar gemacht.
Kampf, Spiel und Kampfkultur wird im vierten Kapitel von Martin Lykkegaard vorgestellt. Der Aufsatz konzentriert auf sich die letzte Kategorie, der von Sandseter aufgestellten Kategorien, die Kampfspiele. Es soll für pädagogische Fachkräfte ein differenziertes Verständnis dieser Spiele vermittelt werden. Dabei werden die drei Phänomene Rauf- und Tobespiele (RTS), traditionelles Kampfspiel und Kampfkultur vorgestellt und diskutiert. Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden herausgearbeitet, vor allem werden Möglichkeiten des Einsatzes aufgezeigt. Am Ende wird das Thema unter kampfpädagogischen Gesichtspunkten betrachtet und Handlungsempfehlungen formuliert.
Auch Kapitel 5 beschäftigt sich mit dem spielerischen Kämpfen. Überschrieben ist der Aufsatz von Rune Storli Born to be wild – Kindliche Tummelspiele und spielerisches Kämpfen. Storli verfolgt dabei verschiedene Fragen: Was ist RTS?, Was charakterisiert RTS?, Wie ist die zweideutige Botschaft von RTS zu verstehen? – gemeint ist damit, zu unterscheiden, ob es eine kindliche Aggression ist oder kindliches Spiel. Weiterhin fragt der Autor, nach geschlechtsspezifischen Unterschieden (It’s a man’s world…) und nach der Angebotsstruktur seitens der Eltern (dynamische Systemtheorie). „Mehrere Studien haben gezeigt, dass Eltern dazu neigen, mit ihren Söhnen eher spielerisch zu kämpfen und zu toben, während sie mit ihren Töchtern eher Rollenspiele spielen.“ (S 93) Die Erkenntnis daraus sollte sein, für ein gleichwertiges Lern- und Entwicklungsumfeld zu sorgen. Pädagogische Fachkräfte sollen Jungen und Mädchen ein vielfältiges Angebot unterbreiten und diese einzuladen.
Rune Storli und Maria Roisin Sundt verfolgen im sechsten Kapitel das Thema, wie Tobespiele und spielerisches Kämpfen aus kindergartenpädagogischer Perspektive betrachtet werden sollte. Viele Kindergärten und Schulen haben Restriktionen und Regeln, die diese Art des Spielens verbieten oder es Kindern erschweren, diese auf freie und natürliche Weise auszuüben. Die Diskussion zielt darauf ab, wie Rauf- und Tobespiele (RTS) in die pädagogische Arbeit zu integrieren sind. Dazu gilt es, dass sich Erwachsene wertschätzend gegenüber dieser Spielform verhalten, diese möglicherweise anregen oder aber gleichberechtigt teilnehmen. RTS als Spielform verdient das gleiche Verständnis und den gleichen Respekt wie andere Arten von Spielen, so die AutorInnen. Am Ende wird eine kleine Auswahl an Spielen präsentiert.
Das siebte Kapitel von Henrik Taarsted Jørgensen befasst sich mit dem Thema Parkour – eine relativ neue städtische Bewegungskultur. Im Aufsatz geht es vor allem um den Zusammenhang zwischen Parkour und Bildung, wie kann die Parkour-Philosophie umgeformt oder angepasst werden, um diese für den Unterricht zu nutzen. Nach einer kurzen Einführung in diese „Bewegungskunst“ (Entwicklung, grundlegende Fertig- und Fähigkeiten), wird die Parkur-Hand vorgestellt. Der Daumen steht für Ermutigung, der Zeigefinger für Vorsicht, der Mittelfinger für Freiheit, der Ringfinger für Leidenschaft und der kleine Finger für Inklusion. Die einzelnen Aspekte werden verständlich beschrieben. Angesprochen wird das Dilemma, dass es auf der einen Seite Situationen gibt, die mit Risiken verbunden sind und auf der anderen Seite zu wenige Erfahrungen, die auf Risiken vorbereiten. „Aus pädagogischer Sicht muss das Ziel daher sein, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Jugendlichen die Möglichkeit geben, Bewegungsmöglichkeiten zu erkunden, ohne sich ernsthaft zu verletzen. Sie sollen sich dabei sicher fühlen können und lernen, mit Spannungen umzugehen und Ängste zu ertragen, ohne entweder tollkühn oder übervorsichtig zu sein.“ (S. 121)
Zirkus – ein magischer Raum für das Wilde und Gefährliche steht im Mittelpunkt des achten Kapitels von Maybritt Jensen und Heid Osnes. Es werden die Möglichkeiten beleuchtet, in einem zirkuspädagogischen Rahmen dem wilden und gefährlichen Spiel Raum zu geben. Die Aufmerksamkeit wird auf die Bedeutung des physischen und ästhetischen Ausdrucksvermögens von Kindern gelenkt. Zirkuspädagogik ermöglicht Spielen und Lernen zugleich, wobei Körper und Bewegung einen Eigenwert haben und ihre Erfahrung an sich bereits eines der Lernziele ist, so die Autorinnen.
Auch das neunte Kapitel beschäftigt sich mit Zirkus im Kindergarten und geht der Frage nach: Wie kann Zirkus Kleinkindern gerecht werden und eignet er sich in seiner Vielfalt für Kleinkinder? Das Kapitel wurde von Linn Elisabeth Lea Moxness verfasst. Für die Studie wurden die allerjüngsten Kinder ausgewählt (1-2 Jahre). Das Projekt ist speziell dafür konzipiert. Zunächst wird der theoretische Rahmen vorgestellt und in der Folge die wichtigsten Ergebnisse anhand der teilnehmenden Beobachtungen präsentiert. Dabei wird mit Hilfe von Praxisprotokollen ein Einblick in die (Zirkus-)Arbeit gegeben und in der Auswertung mit den theoretischen Überlegungen verknüpft. Damit leistet die Autorin einen wichtigen Beitrag dieses Spiel auch im Kleinkindalter zu implementieren und (Bewegungs-)Räume zu schaffen.
Im zehnten Kapitel wird ein neues Thema aufgemacht – Ist Natur gefährlich? Niels Ejbye-Ernst und Olav B. Lysklett schreiben über das kindliche Spiel in Naturkindergärten. Dieser Aufsatz zeigt auf, wie der Alltag in Naturkindergärten aussieht und wie die ganzheitliche Entwicklung und das Lernen der Kinder unterstützt wird. In Skandinavien ist das Draußenspielen ein wichtiger Bestandteil der Kindergartenkultur, außerdem ist die Zahl der Wald- und Naturkindergärten in den letzten Jahren gewachsen.
Das elfte Kapitel greift die Diskussion um das Thema Verletzungen und Sicherheitsdenken in norwegischen Kindergärten auf – Ist das Unvermeidliche vermeidbar? – so die Frage. Verfasst hat diesen Aufsatz ein Autorinnenkollektiv: Ellen Beate Hansen Sandseter, Ole Johan Sando, Ingar Pareliussen und Camilla Kalvatn Egset. Die Diskussion bezieht sich auf Aussagen in Norwegen und Dänemark. Beide Länder haben in der Zielsetzung von Kindergärten sowohl eine gute anregende Spielumgebung sowie die Sicherheit der Kinder formuliert. Sandseter schreibt dazu schon im Jahr 2013, dass daraus ein Dilemma entsteht, dessen sich die Kita-Mitarbeitenden in der pädagogischen Praxis bewusst sein müssen. Der Aufsatz beschäftigt sich weiterhin mit Daten und Unfallstatistiken in norwegischen Kindergärten. „Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass norwegische Kindergärten ein sicherer Ort für Kinder sind und dass in Kindergärten sehr selten schwere Unfälle mit bleibenden Folgen oder tödlichen Verletzungen auftreten.“ (S. 203) Zudem gibt es von den beiden Übersetzerinnen Annette Kessler und Antje Engelking einen Anhang mit Aussagen über Verletzungen und Unfälle in deutschen Kindertagesstätten.
Diskussion
Das freie, wilde und kreative Spiel bietet den Kindern und Jugendlichen eine Reihe von sozialen und motorischen Lernmöglichkeiten und dient nicht zuletzt einer besseren Vorbeugung von Unfällen (Verletzungsprävention). Dazu gehören Kampfspiele, Rauf- und Tobespiele, Zirkusaktivitäten, Parkour, Spielen mit Höhe und Geschwindigkeit oder in natürlichen Umgebungen, wie es in den Aufsätzen beschrieben wird. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Einstellung/Haltung, die Diskussion im Team ist notwendig, um eine restriktive pädagogische Praxis in Frage zu stellen. Nur so können die Spielmöglichkeiten und Kompetenzen von Kindern sinnvoll erweitert werden.
Fazit
Die Anthologie regt zur Auseinandersetzung und zum Nachdenken an. Es richtet sich insbesondere an pädagogische Fachkräfte von Kindertagesstätten, Grundschulen und auch weiterführende Schulen. Ziel ist es, die pädagogische Praxis im Umgang mit wilden und riskanten Spiel zu reflektieren.
Rezension von
Dipl. Soz. päd. Claudia Nicolaus
Lehrkraft für besondere Aufgaben Hochschule Magdeburg-Stendal
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