Ferdinand Klein: Waldorfpädagogik in Krippe und Kita
Rezensiert von Prof. Dr. Heiner Ullrich, 12.01.2023

Ferdinand Klein: Waldorfpädagogik in Krippe und Kita. Einblick in eine ganzheitliche Praxis, die jedem Kind seinen individuellen Lebensweg ermöglicht. Burckhardthaus Laetare Körner Medien UG (München) 2022. 161 Seiten. ISBN 978-3-96304-610-0. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.
Thema
Es ist das Anliegen des Autors, für Studierende und Fachkräfte der Elementarpädagogik den anthropologischen Zugang der Waldorfpädagogik zur frühen Kindheit und die Praxis der Waldorfkindergärten aus einer normativen erziehungswissenschaftlich-heilpädagogischen Position darzustellen, die sich eng mit der Pädagogik des polnischen Arztes und Reformpädagogen Janusz Korczak verbunden weiß.
Autor
Prof. Dr. Ferdinand Klein ist Emeritus für Heilpädagogik an der Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg. Nach seiner Emeritierung hatte er zahlreiche Gastprofessuren an mittel- und osteuropäischen Universitäten inne. Seine zentralen Arbeitsschwerpunkte sind Janusz Korczak und sein Beitrag für die Heilpädagogik, Inklusive Erziehungs- und Bildungsarbeit, Waldorfpädagogik. Aktuelle Publikationen: Mit Janusz Korczak Inklusion gestalten (2018); Heilpädagogik im Dialog (2017).
Entstehungshintergrund
Der Autor war Mitbegründer und Träger einer langjährigen Tagungsreihe „Heilen und Erziehen – Anthroposophische Heilpädagogik und Sonderpädagogik im Gespräch“, die von der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie am Goetheanum in Dornach dokumentiert wurde.
Aufbau
Der Aufbau des Buches folgt keiner stringent voranschreitenden Systematik und erinnert vielmehr an die musikalische Form eines Rondos, bei dem das Hauptthema immer wieder kehrt. Ferdinand Klein schreibt dazu: „Das organische Ganze der von Rudolf Steiner vor über hundert Jahren begründeten Waldorfpädagogik kann nur in einem verzweigten Nacheinander in immer wieder neuen Anläufen dargestellt werden. Das macht es nötig, bisweilen eine Stelle mehrmals zu berühren“ (S. 41). Das letzte der vier Kapitel stammt im Übrigen nicht von Klein selbst. Es trägt den Titel: „Gabriele Scholz gestaltet ihren integrativen Kindergarten“ und ist von Gabriele Scholz selbst verfasst.
Inhalt
Waldorfpädagogik hat Konjunktur. Der erste Waldorfkindergarten wurde 1926, ein Jahr nach Steiners Tod gegründet; heute gibt es weltweit 1.928 Waldorfkindergärten, davon 591 in Deutschland. Eine Darstellung der „Waldorfpädagogik in Krippe und Kita“ darf deshalb heute in der pädagogisch interessierten Öffentlichkeit und unter den Professionellen mit einer hohen Resonanz rechnen – erst recht, wenn sie aus der Feder eines nicht-anthroposophischen Erziehungswissenschaftlers stammt. Dazu ist allerdings schon vorweg zu sagen, dass Klein aus seiner Position als „Korczak-Pädagoge“ die Kindheitspädagogik Rudolf Steiners und die Erziehungskultur des Waldorfkindergartens nicht etwa kritisch, sondern dialogisch-affirmativ und bisweilen sogar monumentalisch darzustellen bemüht ist. Er übernimmt wichtige Grundbegriffe Steiners, um sie zu aktualisieren und rekurriert nicht auf Forschungen, sondern auf seine eigenen Wahrnehmungen als hauptsächliche Erfahrungsgrundlage für die Beschreibung der anthroposophischen Einrichtungen – Waldorfkindergärten und heilpädagogisch-therapeutische Lebensgemeinschaften für seelenpflegebedürftige Menschen. In immer neuen Anläufen rekonstruiert Klein immanent Aspekte der spirituellen und esoterischen Gedankenwelt Steiners, insbesondere das anthroposophische Bild des Kindes und den Grundriss der Elementarpädagogik des Waldorfkindergartens, die im Folgenden für den noch unkundigen Leser kompakt zusammengefasst werden.
Für die Schülerschaft Steiners entfaltet das Kind im ersten Jahrsiebt seiner Entwicklung – gemäß der aufsteigenden Linie seines Bildungsprozesses – zunächst seine äußeren Sinne und lebt dabei aber – der absteigenden Bewegung der Reinkarnation seines Ich in einen neuen physischen Leib entsprechend – noch in enger Verbundenheit mit den höheren geistigen Welten. Das Kind ist in der Zeit vor dem Zahnwechsel einerseits noch „ganz Sinnesorgan“ und Nachahmer. Deshalb ist es pädagogisch geboten, dem Kind Vorbild zu sein und ihm möglichst viele Gelegenheiten zu geben, sinnvolle, aus dem sinnlichen Erfassen zu begreifende Tätigkeiten nachahmen zu lassen sowie ihm eine angemessen ästhetische Umwelt zu bieten. Andererseits gilt das kleine Kind auch als ein phantasievolles, noch spirituell gestimmtes Wesen, das durch sein schöpferisches Spiel die Erziehenden zur Besinnung auf die geistige Dimension ihrer pädagogischen Arbeit führen kann. Aus dieser doppelten Sicht auf die „Natur des Kindes“ ergeben sich für die Waldorferzieher*innen die folgenden vier Richtlinien für die Gestaltung der Praxis des Waldorfkindergartens: Nachahmung und Rhythmus einerseits sowie Spielpflege und religiöse Erziehung andererseits.
In den verschiedenen Formen des kindlichen Spiels – vom sensomotorischen Übungsspiel über das symbolische Rollenspiel bis zum planmäßigen Konstruktionsspiel – zeigt sich für die anthroposophische Erzieherin oder der antoroposophische Erzieher, wie eine geistige Kraft schrittweise sich immer mehr mit dem Körper verbindet. Die Förderung des Spiels und die Bereitstellung des entwicklungsgemäßen Spielzeugs stellen so gesehen eine wichtige Inkarnationshilfe für das geistige Wesen des Kindes dar.
Nachahmend soll es die elementaren Tätigkeiten der Erwachsenen (z.B. Gartenpflege, Backen, Bauen und Handwerken) in sich aufnehmen. Um die Kinder zum phantasievollen Spielen zu veranlassen, sollen sie im Waldorfkindergarten so wenig Fertiges wie möglich vorfinden. Hier gibt es deshalb neben den Gerätschaften des häuslichen Lebens (Bänken, Eimern, Besen, Töpfen, Tüchern, Decken und Wäscheklammern) nur vielerlei unbearbeitete Naturmaterialien, viele bunte handgefertigte Tücher und die bewusst archaisch bzw. primitiv gehaltenen textilen Waldorfpuppen aus chemisch unbehandelter Schaf- oder Baumwolle. Die Kinder kommen jeden Morgen in einen pädagogischen Raum, in dem sie von häuslichen und hauswirtschaftlichen Dingen und Tätigkeiten angezogen und von einer Mütterlichkeit ausstrahlenden Erzieherin zur Mitarbeit angesteckt werden.
Für die Waldorfpädagog*innen ist eine rhythmisch gestaltete Lebensführung der Garant einer gesunden Entwicklung. Deshalb wird der zeitliche Ablauf des pädagogischen Geschehens nach den „kosmischen“ Rhythmen des Tages, der Woche, des Monate und der Jahreszeiten geordnet. Dem Kind als „Sinnesorgan“, das noch ganz von seinem unmittelbaren Erfahrungsraum abhängig ist, wird ein „organischer“, rhythmisch geordneter, sich alltäglich wiederholender Verlauf der Tätigkeiten vorgegeben, welcher einem zweimaligen Ein- und Ausatmen entspricht. Jedes Kind soll den Kindergartenvormittag in zwei großen Atemzügen erleben, zwischen denen das gemeinsame Frühstück liegt. Eine erste große Ausatmungsphase, in der das Kind mehr oder weniger seinen eigenen Antrieben folgen kann, umfasst das Freispiel mit dem gemeinsamen Aufräumen und dem Gang in den Waschraum. Dann folgt im „Morgenkreis“ oder während der spruchbegleiteten rhythmischen Spiele und dem Frühstück eine kurze Einatmungsphase, in welcher sich die Kinder ganz in das Gruppengeschehen einordnen. Ein zweites Ausatmen umfasst nach dem Frühstück das freie Spiel im Garten oder der kleine Ausflug, bevor mit einem zweiten Stuhlkreis mit Märchenerzählung, Puppenspiel oder Singen eine nochmalige Phase des Einatmens den Abschluss bildet. Der Wochenrhythmus ergibt sich z.B. aus dem sich wiederholenden täglichen Wechsel der künstlerischen Tätigkeiten (Malen, Musizieren, Eurythmie usw.). Der Rhythmus des Jahres wird erfahrbar durch die Geburtstagsfeiern, den jahreszeitlichen Wechsel der Pflanzen und Früchte auf dem Jahreszeitentisch sowie durch die intensive Vorbereitung auf die gemeinsame Feier der christlichen Jahresfeste. Die Jahresfeste der Waldorfpädagog*innen folgen einerseits dem Kalender des Kirchenjahres als christliche Feste für das Leben Jesu Christi und der Heiligen; sie stehen andererseits in enger Entsprechung zu den heidnisch-naturreligiösen Festen.
Diskussion
Die anthroposophisch fundierte Pädagogik des Vorschulalters ist in letzter Zeit sowohl aus waldorfimmanenter (Wiehl 2020) als auch aus erziehungswissenschaftlich-kritischer Perspektive (Ullrich 2021) dargestellt worden. Ferdinand Klein schließt mit seinem Beitrag allerdings nicht an diesen aktuellen Diskurs an, sondern wählt seinen eigenen normativen Ansatz einer existenziellen Reflexion der Pädagogik Rudolf Steiners, bei dem er nicht davor gefeit ist, die pädagogische Beziehung zwischen Erzieherin oder Erzieher und Kind ethisch zu überhöhen. Klein geht von einer eher untypischen Äußerung Steiners aus, nach der jede Erziehung Selbsterziehung des Kindes sei und die Erzieherperson hierfür nur die passende Umgebung zu gestalten hat. „Um dieser herausfordernden Aufgabe zu entsprechen, hat die Erzieherin auf sich selbst zu schauen und sich zu fragen: Wer bin ich und wer muss ich sein, damit sich das Kind in der von mir gestalteten Umgebung selbst erziehen kann“ (S. 27). Und noch nachdrücklicher und geradezu pastoral formuliert Klein die Aufgabe der Erziehung als Dienst am Kinde: „Gefragt ist die Biografie, das beispielhafte Vorleben, die Gestaltung der eigenen Individualität, die abhängt von der Fähigkeit sich mit dem eigenen Denken aus dem übergreifenden Geistigen heraus zu verständigen“ (S. 29). Und auch in der vorschulischen anthroposophischen Heilpädagogik bedarf es nicht mehr des „kalten“, spezialisierten wissenschaftlichen Wissens, sondern eines „Herz-Denkens“, durch welches die Waldorferzieherin oder den Waldorferzieher „das ursprünglich in jedem Kind veranlagte Gute aus der Tiefe seiner Person erkennen [kann]“ (S. 90). Ferdinand Klein beschließt seine Darstellung der Waldorfpädagogik des frühen Kindesalters mit einem erziehungsphilosophischen Satz, der weit über die Entwicklungsstufenlogik des Steinerschen Erziehungsdenkens hinausgeht: „Vorrangig ist die Begegnung von Ich zu Ich, bei der das eigene Sein in Freiheit und das Sein des Kindes in Freiheit aufrechterhalten bleiben“ (S. 146). Es bleibt mehr als fraglich, ob Rudolf Steiner – wie Klein im Vorwort zu seinem Buch meint – wirklich diese von Korczak stammende Würdigung der Kinder als Vorbilder der Erwachsenen „dick unterstreichen“ würde.
Die Originalität und zugleich die Einseitigkeit und Beschränkung der Kleinschen Darstellung der Waldorfpädagogik liegen in deren impliziter Verquickung mit der reformpädagogisch inspirierten Freiheitspädagogik Janusz Korczaks. Denn hier finden wir die existenzielle Überhöhung der pädagogischen Beziehung durch die Forderung nach Liebe als Grundhaltung des Erziehers, die Betonung der Vorbildlichkeit des Kindes und die Aufforderung zur Selbsterkenntnis des Erziehers vor dem Antritt seines pädagogischen Geschäfts (vgl. Miller-Kipp 2008). Angesichts der unterschiedlichen Individualitäten der Kinder darf es nach Korzcak in der Erziehung keine Verallgemeinerungen geben, wie sie allerdings gerade in der Waldorfpädagogik durch die Entwicklungs- und Temperamentenlehre Rudolf Steiners festgelegt werden. Schließlich ist hier auch nicht das Kind Vorbild für die Erzieherin oder den Erzieher, sondern diese/r Vorbild für das Kind! So bleibt insgesamt die Frage offen, ob Klein nicht noch stärker die Unterschiede als das Gemeinsame zwischen den Pädagogiken Steiners und Korzaks hätte betonen sollen.
Fazit
Ferdinand Klein vollzieht in seiner essayistisch wirkenden Monografie eine sehr eigenwillige Rezeption der Waldorfpädagogik, bei der er die Grenzen zwischen der akademischen Erziehungswissenschaft und der „Geisteswissenschaft“ Steiners verwischt. Er identifiziert sich mit ihren anthropologischen Normen und Praxisformen und assimiliert diese zugleich unausgesprochen an das Menschenbild und pädagogische Ethos des von ihm verehrten Arztes und Sozialpädagogen Janusz Korczak. Man mag Kleins ungemein starke Fokussierung der ethischen Dimension des erzieherischen Handelns in der Waldorfpädagogik beeindruckend empfinden. Der mangelnde Forschungsbezug seines Werkes macht indes die Lektüre der bisher vorliegenden Darstellungen des Handlungsfeldes Waldorfkindergarten weiterhin unentbehrlich.
Quellenangaben
Miller-Kipp, Gisela (2008): Versuch, Janusz Korczak als „Klassiker“ der Pädagogik zu lesen. In: Mitteilungsblatt des Förderkreises Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung 19, 1, S. 34–40.
Ullrich, Heiner (2021): Der Waldorfkindergarten: anthroposophische Elementarpädagogik. In: Schmidt, Thilo/​Sauerbrey, Ulf/Smidt, Wilfried (Hrsg.): Frühpädagogische Handlungskonzepte. Münster u.a.: Waxmann, S. 85–105.
Wiehl, Angelika (Hrsg.)(2020): Studienbuch Waldorf-Kindheitspädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Rezension von
Prof. Dr. Heiner Ullrich
Institut für Erziehungswissenschaft
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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Zitiervorschlag
Heiner Ullrich. Rezension vom 12.01.2023 zu:
Ferdinand Klein: Waldorfpädagogik in Krippe und Kita. Einblick in eine ganzheitliche Praxis, die jedem Kind seinen individuellen Lebensweg ermöglicht. Burckhardthaus Laetare Körner Medien UG
(München) 2022.
ISBN 978-3-96304-610-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29990.php, Datum des Zugriffs 08.12.2023.
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