Johanna Schweitzer, Marina Chernivsky u.a. (Hrsg.): Von Antisemitismus betroffen sein
Rezensiert von Dr. Michael Kohlstruck, 11.09.2023

Johanna Schweitzer, Marina Chernivsky, Friederike Lorenz-Sinai (Hrsg.): Von Antisemitismus betroffen sein. Deutungen und Umgangsweisen jüdischer Familien und junger Erwachsener. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 110 Seiten. ISBN 978-3-7799-7045-3. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Auf Basis einer empirisch-explorativen Untersuchung fragt die Studie danach, welche antisemitischen Erfahrungen jüdische Schüler im Schulalltag machen und wie die unmittelbar Betroffenen und deren Eltern mit diesen Erfahrungen von Antisemitismus umgehen. Zum Themenkomplex aktueller Antisemitismus und Schule wird erst seit etwa fünf Jahren intensiver publiziert. Die vorgestellte Untersuchung ist damit eine der ersten empirischen Untersuchungen, die von Antisemitismus betroffene jüdische Schüler und deren soziales Nahfeld in den Blick nimmt.
Autorinnen
Die Studie ist in Kooperation zwischen einer Nichtregierungsorganisation (NGO) und einer Fachhochschule entstanden: Marina Chernivsky leitet das „Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment“, getragen von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (ZWST) sowie die Beratungsstelle OFEK, die Betroffene von antisemitischen Vorfällen berät. Friederike Lorenz-Sinai ist Professorin für Methoden der Sozialen Arbeit und Sozialarbeitsforschung an der Fachhochschule Potsdam. Johanna Schweitzer leitet die Fachschule für Sozialpädagogik am Elisabethstift Berlin und ist freie Mitarbeiterin am Kompetenzzentrum.
Entstehungshintergrund
Das Buch basiert auf einer früheren Veröffentlichung der Autorinnen aus dem Jahr 2020, die als gedruckte Broschüre wie auch im Internet verfügbar ist: Chernivsky, Marina/​Lorenz, Friederike/​Schweitzer, Johanna: Antisemitismus im (Schul-)Alltag. Erfahrungen und Umgangsweisen jüdischer Familien und junger Erwachsener, Berlin 2020; https://zwst-kompetenzzentrum.de/wp-content/​uploads/2022/01/KoZe_Familienstudie_web_14-01.pdf
Aufbau
(1) Die Vorüberlegungen gehen auf die Aktualität des Themas Antisemitismus ein und stellen die Studie in den Kontext der jüngeren Forschungen zu den Auswirkungen von antisemitischen Erfahrungen auf Betroffene. Kapitel (2) enthält eine wissenschaftliche Definition von Antisemitismus als „Struktur feindseliger Vorstellungen gegenüber Juden als Kollektiv“ (Rensmann/​Schoeps), die sich in mentalen Phänomenen und Handlungen manifestieren und in Distanzierung, Vertreibung oder Tötung von Juden münden (12). Eingegangen wird auch auf aktuelle politische Kontroversen um die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Kapitel (3) referiert unter der Überschrift „Forschungsstand“ einige jüngere Forschungen, die gezielt die Perspektive der von antisemitischen Vorfällen betroffenen Juden untersuchen. Die Autorinnen vermissen an bisherigen Studien die Aufmerksamkeit für „Antisemitismus als strukturelles Gewaltverhältnis mit realen Effekten“ (19). In diesem Kapitel werden darüber hinaus einige allgemeine Mechanismen im Umgang mit Antisemitismen vorgestellt und Standards der eigenen Forschung postuliert. Dabei rücken die Verfasserinnen von dem Anspruch ab, Wissenschaft habe auf der Basis explizierter Konzepte neutral zu forschen und autorisieren Betroffene, an der Begriffsdefinition von Antisemitismus als Betroffene mitzuwirken (20). Innerhalb des Spektrums aktueller antisemitischer Vorfälle wird zwischen den Formen „Sprachhandlung“ und „physischer Gewalt“ unterschieden. Ungeachtet dieser Unterscheidung wird den Betroffenen das Recht zuerkannt, über die Verwendung des Gewaltlabels bei der Bewertung von antisemitischen Vorfällen zu entscheiden (23). Neben der tatsächlichen unmittelbaren Erfahrung von antisemitischen Vorfällen spielen auf Seiten der Betroffenen auch antizipierende Befürchtungen eine wichtige Rolle (24 f.). „Opferbeschuldigung“ (Blaming the victim) wird als eine Strategie der Neutralisierung von Unrecht und Leid benannt (23 f.). Das vierte Kapitel, der Hauptteil, stellt die Ergebnisse der eigenen Untersuchung vor; Diskussion und Schlußwort runden den Band ab.
Inhalt
Die Fragen der Studie lauten: „Welche Erfahrungen machen jüdische Heranwachsende und ihre Familien an Schulen und in ihrem sozialen Umfeld? Wie fühlen sie sich in Bezug auf Antisemitismus und welche Umgangsweisen schildern sie? Wie nehmen sie den Umgang mit Antisemitismus in der Gesellschaft allgemein und an Schulen im Besonderen wahr? Welche Bedarfe schildern sie in Bezug auf den Umgang mit Antisemitismus in Schule und Gesellschaft?“ (26)
Es wurden 23 Interviews in Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern mit jungen Erwachsenen, Elternteilen und Lehrkräften geführt. Die Interviewten selbst oder ihre Kinder besuchen aktuell eine Schule oder eine Kindertagesstätte oder haben sie in den fünf Jahren vor den Interviews besucht. Weitere fünf Interviews wurden mit Experten „aus dem Themenfeld und Zivilgesellschaft geführt“ (27). Zum Zeitraum der Interviews werden leicht divergierende Angaben gemacht: Einmal wird 2017/18 angegeben (27), an anderer Stelle ist nur noch vom Jahr 2018 die Rede (31, Anm. 20). Zur Auswahl der Gesprächspartner wird mitgeteilt, dass der „Aufruf zur Teilnahme“ „über soziale Netzwerke verbreitet und gezielt an jüdische Communities geschickt“ wurde (27). Es finden sich keine Angaben zu den Fragen, wie viele Personen sich insgesamt gemeldet hatten, anhand welcher Kriterien die Interviewpartner ausgewählt wurden und welche Schultypen in die Untersuchung einbezogen waren.
Die Auswertung erfolgte gemäß den Prinzipien der interpretativen Sozialforschung, wofür hier die Namen Gabriele Rosenthal und Anselm Strauss stehen (28).
Abschnitt 4.2 fasst die zentralen Befunde zusammen. Von antisemitischen Erfahrungen im Schulalltag berichten die meisten Interviewten, dabei überwiegen „Erinnerungen an verbale Formen des Antisemitismus“ (29, 56). Die „Formen verbaler und antisemitischer Gewalt“ [ sic!] sind nach Autorinnensicht „nicht eindeutig trennbar„; „auch verbale Übergriffe“ können „als unmittelbare und existenzielle Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit erlebt werden“ (29). „Überwiegend alle“ Interviewten „antizipieren zudem potenziell gewaltförmige Situationen, auch ohne diese direkt erlebt zu haben“ (29). Viele hätten antisemitische Situationen während ihrer Schulzeit zunächst selbst „trivialisiert und erst retrospektiv eindeutig als Unrechtserfahrung und teilweise auch als Gewalt eingeordnet“ (29). Insgesamt variieren die Berichte über Häufigkeit und Intensität der als antisemitisch gedeuteten Ereignisse. „Deutlich wird die Mehrdimensionalität antisemitischer Situationen, die sich nicht zwingend nur auf Antisemitismus beziehen.“ [sic!] (30) Zu den Reaktionen der Betroffenen gehören das Vermeiden bestimmter Orte, das Verbergen jüdischer Identität, aber eben auch „das Zeigen der eigenen jüdischen Identität“, der Kontakt zu jüdischen Organisationen oder „das übersteigerte politische und soziale Engagement“ (30). Als relevant erweisen sich auch die Definitionsprozesse, in denen darüber befunden wird, welche Situationen als antisemitisch zu gelten haben und als solche thematisiert werden. Die Interviewten machen die Erfahrung, dass ihnen nicht immer die Definitionsmacht zugebilligt wird (30).
Abschnitt 4.3 referiert „Antisemitismuserfahrungen“. Im Unterabschnitt zu „Einschätzungen der gesellschaftlichen Lage“ (31-33) wird hervorgehoben, dass die eigene Kenntnis und die Berichterstattung über Antisemitismus das Sicherheitsgefühl von Juden beeinflussen (32). Zu der allgemeinen Situation gehört auch, dass Antisemitismus im öffentlichen Diskurs als „eigenständiges Problem'“ gilt (32). In allen Interviews werde der erstarkende Rechtspopulismus thematisiert und eine Instrumentalisierung von Antisemitismus, etwa bei der AfD beobachtet (33). Unter „Verständnisse und Konzepte von Antisemitismus“ (34-36) wird referiert, dass die Befragten jede Art „'von negativem Verhalten aufgrund der jüdischen Herkunft'“ (34) als „Antisemitismus“ betrachten. Doch sei eine genauere Befassung mit Antisemitismus erforderlich, da auch bei Juden Unsicherheit herrsche, ob man in konkreten Situationen tatsächlich mit Antisemitismus konfrontiert sei (35). Im Abschnitt „Antisemitismus als Alltagserfahrung“ (36-37) wird hervorgehoben, dass antisemitische Erfahrungen sehr unterschiedlich ausfallen und dass sie teilweise auch nur von Juden als solche wahrgenommen werden können (36). Dies gelte besonders dann, wenn etwa „Judenwitze“ in einer heterogen zusammengesetzten Gruppe erzählt würden und sich dabei eine Steigerungsdynamik entwickele (37). „Wünsche nach Solidarität“ (38 f.) konstatiert die Existenz von Erwartungen nach Beistand und Unterstützung gegen antisemitische Positionierungen in der Schule. Es dominiere die Auffassung, dass die Identifizierung von Antisemitismus nicht die primäre Aufgabe der betroffenen Juden sei (38). Unter dem Titel „Besonderung und angenommene Nicht-Präsenz“ (39 f.) wird die Erfahrung von Interviewten angesprochen, einerseits als Juden angesprochen zu werden und andererseits die implizite Annahme ihrer nicht-jüdischen Umwelt zu spüren, es lebten heute keine Juden in Deutschland und bei „Juden“ handele es sich letztlich um ein historisches Phänomen. „Erfahrungen aus der Schulzeit“ (40-43) macht erneut auf das zeitlich breite Spektrum antisemitischer Erfahrungen aufmerksam, das von der Grundschulzeit bis in die Oberstufe reicht. Teilweise werden die Erfahrungen auch erst nach Jahren als antisemitisch eingeordnet (41). Lehrkräfte werden durchweg als indifferent gegenüber antisemitischen Äußerungen erinnert (41). Das kann zu Zweifeln an der eigenen Wahrnehmung der Betroffenen führen (42 f.). „Antisemitismus unter Gleichaltrigen“ (43-45): Die Erfahrungen mit antisemitischen Äußerungen stammen meistens von Gleichaltrigen; dabei kann das als Abwertungswort verwendete „Jude“ auch auf Nichtjuden angewendet werden (44). Allerdings berichtet eine junge Frau auch über eine bedrohliche Situation, in der sie von drei Jungs mit dem Erzählen von historischen Szenarien der Tötung von Juden konfrontiert wurde, um sie in Angst und Schrecken zu versetzen (44). Bemerkenswert sind die von einigen Interviewten berichteten Tatsachen von kontinuierlich oder wiederholt erlebten Konfrontationen mit antisemitischen Äußerungen (43, 45).
Abschnitt 4.4. ist dem Verhältnis der Befragten zu den Lehrkräften und deren Reaktionen gewidmet (45-54). In der Regel wenden sich Schüler bei Beschimpfungen als Minderheitenangehörige nicht in erster Linie an die Lehrkräfte (45 f.) Dadurch unterbleibe auch meistens eine Unterrichtung der Schulleitung. Doch es wird auch von einer Ausnahme berichtet, bei der die direkt informierte Schulleitung sehr rasch und im Sinne der Interviewten reagiert habe (46 f.). In wieder einem anderen Fall rät die Schulleitung zu einem diskreten Umgang mit der Zugehörigkeit eines Schülers zum Judentum und legt zugleich Wert darauf, über etwaige antisemitischen Äußerungen informiert zu werden (48). Neben tatsächlich erfahrenen Umgangsweisen des pädagogischen Personals werden auch Vermutungen der Interviewten referiert, inwieweit Lehrkräfte auf antisemitische Herabsetzungen reagieren könnten (48). Auf eindeutige antisemitische Beschimpfungen von jüdischen Schülern wird den Interviewten zufolge „eher und klarer interveniert“ (49), während in anderen Fällen viel von der jeweiligen Schulkultur abzuhängen scheint (49). Dazu gehört die Behandlung des Nahostkonflikts und die von Lehrkräften berichtete Gleichsetzung der israelischen Seite mit „den Juden“ (50). Berichtet wird über die Praxis der Zuweisung einer besonderen Kompetenz für jüdische Themen an jüdische Schüler durch Lehrkräfte (52), in diesem Fall begünstigt allerdings durch die von einer interviewten Schülerin beanspruchte Deutungshoheit in religiösen Fragen gegenüber den Pädagogen. Bei der Behandlung der nationalsozialistischen Judenpolitik im Unterricht wird verschiedentlich von Lehrkräften jüdischen Schülern die Möglichkeit eröffnet, den Raum zu verlassen (53 f.).
Abschnitt 4.5 stellt „Antisemitismus als graduelle Erfahrungskategorie“ vor (55-67). Die angeführten Interviewpassagen zeigen, dass antisemitische Vorkommnisse (55) oft unerwartet auftreten. Wie sie jeweils von den Schülern bewertet werden und welche Bedeutung ihnen beigemessen wird, hängt nicht zuletzt von deren Deutungen und der psychischen Verfasstheit der Betroffenen ab. Vielfach jedoch wird Antisemitismus generell als einschneidende Alltagsbedrohung erlebt (57, 62), sodass potentiell Betroffene häufig über adaptive Strategien nachdenken oder im Zweifel sind, ob sie sich als Juden zu erkennen geben sollten (59 f.). Familie und „Community“ werden von einigen Interviewten als Unterstützung betrachtet. Beratungsstellen spielen in den Interviews keine Rolle. „Vor diesem Hintergrund erscheint der Ausbau von spezialisierten Unterstützungsangeboten für Menschen mit Antisemitismuserfahrungen als dringend geboten.“ (67)
Insgesamt verdeutlichen die Befunde, dass „Jüdinnen:Juden sich unterschiedlich von Antisemitismus betroffen sehen. Was die Interviewpartner:innen jedoch teilen, ist die Antizipation der Möglichkeit antisemitischer Übergriffe und das Nachdenken darüber, ob ihr Umfeld (…) ihre Erfahrungen ernstnehmen und verstehen sowie sie selbst adäquat schützen könnten.“ (70)
Diskussion
Die spezifische Leistung von explorativen Untersuchungen besteht für die hier maßgebliche Fragestellung im Herausarbeiten bestimmter Muster im mentalen und handlungspraktischen Bewältigungsverhalten von jüdischen Schülern. Dazu sind die einzelnen Fälle heranzuziehen und jeweils für sich in einer generalisierenden Abstraktion auf wesentliche Elemente hin zu sichten, die dann zu bestimmten Mustern synthetisiert werden. Solche Muster weisen einen höheren Allgemeinheitsgrad auf als die in den Interviews direkt berichteten Umgangsweisen; als Untersuchungsergebnis ist etwa ein Spektrum von Verarbeitungstypen denkbar, das von einem larmoyanten über einen gelassenen bis hin zu einem offensiven Copingverhalten reicht. Daneben kann lediglich informiert werden über die verschiedenen Varianten und Formen von antisemitischen Vorfällen, mit denen die Interviewten konfrontiert waren. Hier sind (aufgrund der geringen Fallzahl) weder Häufigkeitsangaben sinnvoll noch können daraus verallgemeinernde Schlüsse bezüglich des Auftretens antisemitischer Phänomene an Schulen in Deutschland gezogen oder negative Resultate formuliert werden: Die hier Interviewten geben keine tätlichen Attacken zu Protokoll; daraus ließe sich natürlich nicht folgern, dass es an Schulen neben den dargestellten verbalen Antisemitismen nicht auch zu physischen Attacken aus antisemitischen Motiven kommt.
Ein Hauptproblem der Studie besteht darin, die Methodologie der qualitativen oder explorativen Sozialforschung nicht konsequent anzuwenden. Durchweg werden einzelne Aspekte der Interviewauswertung in quantitativen Dimensionen formuliert (28, 34, 43, 61 u.ö.), obwohl das Forschungsdesign keine Antworten auf die Fragen nach der quantitativen Häufigkeit bestimmter antisemitischer Akte sowie ihrer Wirkungen und Verarbeitungsweisen auf Seiten der Betroffenen zulässt. Hinsichtlich der Analyse von „Deutungen und Umgangsweisen“ wird das explorative Design der Untersuchung nicht wirklich ausgereizt; zwar werden verschiedene Reaktionen der Interviewten referiert, es werden allerdings aus diesen Einzelreaktionen keine allgemeinen Muster entwickelt, die im Ergebnis etwa als Spektrum von Reaktionstypen dargestellt würden. Dieser entscheidende Generalisierungsschritt der explorativen oder qualitativen Sozialforschung fehlt, sodass es bei einer Aufzählung selbstberichteter Reaktionen und Antizipationen der Betroffenen bleibt. Ein Beispiel: Eine Interviewte misst antisemitischen Kommentaren nicht allzu viel Bedeutung bei und betont, „'nicht geschlagen worden zu sein'“ (56). Nach den Standards der explorativen Sozialforschung könnte man daraus eine Hypothese zur Generierung eines bestimmten Typs von Coping-Verhaltens entwickeln, die dann an weiteren Äußerungen derselben Interviewten zu testen wäre. Die Autorinnen analysieren indes nicht den Eigensinn dieses Falls, der möglicherweise zur Identifikation eines spezifischen Profils im Umgang mit Antisemitismen führt, sondern wechseln zu einer Erklärung: „Dies lässt sich als eine Verinnerlichung von Macht- und Unterdrückungsverhältnissen durch Betroffene deuten …„; anstatt also „mit ihrem Pfund zu wuchern“ und das ihnen exklusiv vorliegende Interviewmaterial intensiv auszudeuten, verweisen die Verfasserinnen auf Literatur aus der Rassismusforschung (56, ähnlich 58). Damit wird die Chance vergeben, im Interviewmaterial etwas Neues zu entdecken.
Begrifflich wäre bei einem wichtigen Themenaspekt mehr Klarheit und Einheitlichkeit angebracht. Die Autorinnen sind hinsichtlich des von ihnen verwendeten Gewaltbegriffs uneindeutig: An manchen Stellen werden verbale Antisemitismen als sprachliche Gewalt bezeichnet, d.h. also Sprechhandlungen werden dem Gewaltbegriff subsumiert (43). An anderen Stellen wird „Gewalt“ zur exklusiven Bezeichnung von physischen Integritätsverletzungen verwendet (44). Schließlich kann man an wieder anderen Stellen den Eindruck gewinnen, die Vergabe des Attributs „Gewalt“ sei an das Kriterium des subjektiven Erlebens der Betroffenen gebunden und kennzeichne ein als besonders tiefgehend empfundenes Ereignis unabhängig von seiner verbalen oder physischen Form (37, 44).
Der Verlag hätte nicht am Lektorat sparen sollen (20, 30, 45, 51, 69). Zu etlichen Kurzzitierungen im Text (9-12, 16) fehlen die vollständigen Angaben im Literaturverzeichnis (73-76).
Die zentralen Ergebnisse des Buches wurden bereits 2020 publiziert. Dem Rezensenten hat sich nicht erschlossen, warum sie nun erneut veröffentlicht wurden, zumal auch die zwischen 2020 und 2022 erschienene schulbezogene Antisemitismusforschung nur teilweise eingearbeitet wurde.
Fazit
Mit einem explorativen empirischen Forschungsansatz werden antisemitische Erfahrungen von jüdischen Schülern und deren Verarbeitung in der Mitte 2010er Jahren in Deutschland erforscht. Damit gehört die Studien zu den ersten Forschungen zum Coping-Verhalten bezüglich antisemitischer Schulereignisse. Dokumentiert wird eine große Bandbreite von einzelnen Erfahrungen und Reaktionsweisen der Interviewten; generalisierende Synthesen zur Identifikation bestimmter einzelner Verarbeitungsmuster fehlen.
Rezension von
Dr. Michael Kohlstruck
Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsstelle Jugendgewalt und Rechtsextremismus am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin
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Zitiervorschlag
Michael Kohlstruck. Rezension vom 11.09.2023 zu:
Johanna Schweitzer, Marina Chernivsky, Friederike Lorenz-Sinai (Hrsg.): Von Antisemitismus betroffen sein. Deutungen und Umgangsweisen jüdischer Familien und junger Erwachsener. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
ISBN 978-3-7799-7045-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29993.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
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