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Christian von Ferber: Menschenbild und Gesellschaft

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann, 16.10.2023

Cover Christian von Ferber: Menschenbild und Gesellschaft ISBN 978-3-495-99886-1

Christian von Ferber: Menschenbild und Gesellschaft. Studien zur Philosophischen Anthropologie, Soziologie und Medizinsoziologie. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2022. 412 Seiten. ISBN 978-3-495-99886-1. 83,00 EUR.

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Thema der Publikation

Es handelt sich zum Einen um eine Studie über Helmuth Plessner als Philosoph und Soziologe, zum Anderen geht es um den eigenen Werdegang des Autors, welcher als Schüler unter dem Einfluss von Helmuth Plessner und dessen wissenschaftlichem Umfeld in der Nachkriegsstand stand. Dabei werden drei Orientierungen aufgezeigt, die letztlich zu grundsätzlichen Überlegungen zum freiheitssichernden Charakter der Soziologie und zu zentralen Fragen der Gesundheitspolitik und der Sozialmedizin führen (vgl. Klappentext).

Autor

Christian von Ferber habilitierte 1955 für Soziologie an der Universität Göttingen, hatte Professuren an der TU Hannover sowie an der Universität Bielefeld inne, ehe er 1978 die o. Professor für Medizinische Soziologie an der Universität Düsseldorf bis 1991 übernahm.

Entstehungshintergrund

Der Band ist durchaus als eine Hommage an Helmuth Plessner zu verstehen, dessen Lebenswerk in wichtigen seiner Studien Verdeutlichung finden soll. In der Einleitung von Alexander Brandenburg werden deshalb quasi im Sinne einer Laudatio die Kerninhalte der in diesem Band zusammengeführten Studien angesprochen.

Aufbau

Das Buch gliedert sich – nach einer ausführlichen, die Teilbereiche vorstellenden Einleitung in drei Teile auf, welche recht unterschiedliche Untergliederungen erfahren.

Während sich der erste Teil mit dem Philosophen und Soziologen Helmuth Plessner beschäftigt, werden in den anderen Teilen von Ferbers Studien hinsichtlich der 'Aspekte der Soziologie' und zur 'Medizinsoziologie' wiedergegeben. Den Abschluss bilden Beitragsnachweise, die den einzelnen Teilen zugeordnet werden.

Inhalte

Der 1. Teil der Studien enthält eine grundlegende Arbeit über 'Helmuth Plessner. Philosoph und Soziologe – Wissenschaft als Beruf in der Endzeit des bürgerlichen Humanismus'.

Es handelt sich hierbei um die Vorstellung von dessen Konzeption einer 'Philosophischen Anthropologie' aus dem Jahr 1928, in welcher es „um eine kritische Methode für eine rationale Begründung des universalen Anspruchs, sich auf den Menschen als solches zu beziehen“ (S. 31) geht. Es geht somit um die Frage nach dem, was der Mensch ist und welche Antwort Plessner darauf gibt? Seiner Ansicht nach ist er „sich selbst verborgen und daher sich selbst zur Erforschung aufgegeben“ (so in: 'homo absconditus' aus dem Jahr 1969). Es werden in diesem Zusammenhang wichtige Passagen aus seinem Werk, aber auch die Umstände seines Wirkens vor und nach seiner Emigration aufgrund der vielfältigen Bedrängnisse durch die Nationalsozialisten – bis hin zur Enthebung aus seinen Ämtern – dargelegt und durch die Fachliteratur belegt.

Hierbei werden wissenschaftssoziologische Fragestellungen zum einen unter dem Aspekt von 'Kontinuität und Diskontinuität', wenn es um Fragen nach dem 'Verlust der Identität', oder aber zum anderen nach den 'verlorenen Lebensjahren' geht, aufgeworfen.

Im Folgekapitel wendet er sich Plessners Philosophischer Anthropologie zu, erläutert deren Bedingungen für einen interdisziplinären Diskurs, der sich bei dem Philosophen und Soziologen Plessner zwischen der Philosophischen Anthropologie und Soziologe abspielt. Darüber hinaus wird immer wieder auf seine Forderung nach einem wissenschaftsoffenen Diskurs mit der Philosophie, so zum Beispiel mit der Biologie, oder aber auch mit der Ökologie, hingewiesen. Das macht als erkenntnisleitendes Interesse die Überwindung des Gegensatzes von Natur- und Geisteswissenschaften über einen innovativen erkenntnistheoretischen Weg erkennbar. Für Plessner könnte die „Entzweiung der Wissenschaften“ (S. 58) aufgrund dessen gelingen, „da der Mensch seine Sinne, sein Verstand, die Vernunft, sein Körper letztlich Ursprung und Ziel seines Wissens ist“ (S. 57 f.).

Der Autor weist darauf hin, dass der von Plessner angekündigte interdisziplinäre Durchbruch nicht erfolgt ist, da es beispielsweise nie zu einer Zusammenarbeit mit den Biologen, wie etwa mit Jakob von Uexküll gekommen ist – nach Ansicht des Autors offensichtlich aufgrund dessen, dass seine „radikale Reduktion… auf den Menschen als solches“ (S. 65) von den Erfahrungswissenschaften nie angenommen worden ist.

Der 2. Teil des Buches ist mit 'Aspekte der Soziologie' überschrieben.

Nach einer persönlichen Einlassung über seine Hinführung zur Soziologie schildert von Ferber die Entwicklung der deutschen Nachkriegssoziologie seit der Wende von 1959, geht auf Strukturprobleme der Forschung bzgl. der Sozial- und Gesundheitspolitik ein und nennt beispielsweise die mangelnde gegenseitige Akzeptanz von Soziologie und Biomedizin, oder aber die bestehenden Berührungsängste der sozialpolitischen Institutionen und der Sozialleistungsträger gegenüber der Wissenschaft (vgl. S. 104).

Zugleich nennt er Bedingungen, unter welchen sich die Soziologie zum Beispiel unterstützend für die Politik einbringen könnte. Es sind Schritte für eine denkbare Strukturbildung, als da u.a. sind:

  • Soziale Sicherheit als fester Bestandteil von Ausbildung und Fortbildung in der Soziologie;
  • Sozial- und Gesundheitspolitik als prozessgestaltende Elemente der gesellschaftlichen Entwicklung, oder aber
  • Sozialpolitikberatung als ein zentrales Thema von Forschung und Lehre.

Im anschließenden Kapitel widmet der Autor Helmuth Plessner zu dessen 65. Geburtstag Einlassungen zur 'Frage der politischen Voraussetzungen der Soziologie', geht dabei auf die Ambivalenz im Verhältnis von Empirischer Sozialforschung und gesellschaftlicher Praxis ein und fordert „eine Beziehung zwischen Wissenschaft und Praxis herzustellen, die der überkommenen Wissenschaftsorganisation von ihren Voraussetzungen aus fremd ist“ (S. 121).

Ferber's Darlegungen münden offensichtlich in ein Plädoyer für die Überwindung der Trennung von Wissenschaft und Praxis, was wiederum die Übernahme politischer Verantwortlichkeit außerordentlich behindere. Um dies zu verhindern, schlägt er die Entwicklung neuer Methoden vor, um „wissenschaftliche Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit“ (S. 133 f.) bringen zu können.

Es folgen Darlegungen zu dem Thema 'Moderne Kunst und industrielle Arbeit', wobei Argumente für die gegenseitige Bezugnahme, für eine Kommentarbedürftigkeit aufgrund schwer verständlicher Sinnerklärung, oder aber der Rolle der Psychologie und deren Bedingungen im Bezug auf das Verhältnis von moderner Kunst und industrieller Arbeit angeführt werden.

Es folgt zunächst der Abdruck der Antrittsvorlesung anlässlich der Ernennung zum Honorarprofessor der Medizinischen Hochschule Hannover vom November 1969 zur Frage des Todes als unbewältigtem Problem für Mediziner und Soziologen. Danach setzt sich der Autor mit soziologischen Aspekten des Todes auseinander, fordert bezüglich des Aspekts der gesellschaftlichen Todeserfahrung die „weltanschauliche Sperre zu durchbrechen und einer Diskussion über die gesellschaftliche Bedeutung des Todes Raum zu geben“ (S. 184), beleuchtet anthropologische und sozialgeschichtliche Interpretationen hinsichtlich des Begegnens unserer Zivilisation mit dem Tod (S. 184 ff.) und gelangt dabei zu der Erkenntnis, dass „die soziale Bedeutung des Todes, seine kritische 'Funktion' in der Vergesellschaftung, […]ein wichtiges Problem der soziologischen Theorie und der Gesellschaftskritik [stellt]“ (S. 203). Ferber leitet aus seinen Darlegungen die Forderung ab, dass der Tod für die Soziologie die Bedeutung eines Kardinalthemas haben sollte, wenngleich er auch erkennt, dass sich eine gewisse Uferlosigkeit in der wissenschaftlichen Thematik ergeben könnte.

In den nachfolgenden Kapiteln werden zum einen Funktionen und Aufgabenstellungen der Soziologie, etwa bezüglich des Freiheitsbegriffs, oder der Aufklärungsfrage, aber auch zum anderen hinsichtlich der Interdisziplinarität und Praxisorientierung, – auf die vom Rezensenten nicht näher eingegangen wird – untersucht.

Wendet man sich dem 3. Teil des Werkes zu, so gelangt man zu von Ferber's ' Studien zur Medizinsoziologie.

Dem Abdruck eines Vortrags zur Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie anlässlich einer Fortbildungstagung der LVA Hannover vor Vertrauensärzten, folgt ein Kapitel über den Nutzen der Soziologie für die Medizin, auf das näher eingegangen werden soll. Der Autor fragt zum einen danach, worin der Nutzen für die Mediziner liegt, sich mit den Methoden und Begriffen der Soziologie zu beschäftigen und zum anderen welchen Erkenntnisgewinn sich der Arzt für seine Alltagsarbeit vom Soziologen erhofft? Als Antwort findet sich beispielsweise, dass 'soziale Faktoren' in die (medizinische) Ursachenforschung und Therapie einbezogen werden könnten. Es ließen sich soziologische Begründungen der die Gesundheit gefährdenden gesellschaftlichen Erscheinungen finden und mit einbeziehen. Zudem erweist sich nach Ansicht des Autors die Soziologie (zusammen mit der Sozialpsychiatrie und der Sozialpsychologie) als hilfreicher Erklärungsfaktor bezüglich psychosomatischer Konzepte.

Ferber sieht als weitere wichtige Nutzanwendung der Soziologie Problemstellungen u.a. im Arzt-Patienten-Verhältnis, bei Prävention und Rehabilitation, in der stationären und ambulanten Versorgung, im Verhältnis von Gesundheitspolitik zur Sozialversicherung und dem Arzt als freier Beruf (vgl. S. 284).

Es folgen der Abdruck eines weiteren Vortrags zu den gesellschaftlichen Grundlagen der Volksgesundheit (S. 295 ff.), Darlegungen zum epidemiologischen Doppelaspekt des Sozialverhaltens, die Frage nach der Partizipation der Volks- und Laienmedizin im Gesundheitswesen, oder aber die Frage danach, wie der Patient Beteiligter im Gesundheitswesen wird (vgl. S. 353 ff.)?

Die beiden abschließenden Kapitel beschäftigen sich einerseits (erneut) mit der Frage danach, was die Medizin der Soziologie verdankt, andrerseits inwieweit das kommunale Gesundheitswesen ein zukunftsfähiges Konzept besitzt? Bezüglich Ersterem lässt sich ein Plädoyer für das Bemühen um die Medizinsoziologie feststellen, indem diese dem Arzt eine durchaus kritische Begleitung durch den Soziologen hinsichtlich der Bewertung seines Handelns gewährleistet. Bei Letzterem geht es um die aus der historischen Entwicklung und Erfahrung resultierende Weiterentwicklung des Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung oder Neuorientierung der (gesundheitspolitischen) Strukturpolitik. Der Autor konstatiert zunächst ein Gesundheitswesen in Deutschland als „Geflecht organisierter Interessen, die sich gegenseitig begrenzen und in der Waage halten“ und listet dann auf, wie sich Wandlungen nur durch „hintergründige oder schleichende Prozesse“ (S. 407) vollziehen ließen. Dazu zählt er u.a. die Begrenzung des Leistungsrahmens der Gesetzlichen Krankenversicherung oder aber einen zunehmenden Einfluss der Patienten, Verbraucher oder Nutzer, wie auch der Bürger allgemein.

Diskussion

Es ist ein Sammelband verschiedener Studien, Aufsätze und Vorträge zu diversen Themensplittern, die einen Zusammenhang zu dem Kerntitel der Publikation 'Menschenbild und Gesellschaft' herzustellen versuchen. Daraus entwickelt sich eine gewisse Diskontinuität in der Abfolge, die das Verständnis dafür, was der Autor eigentlich dem Leser vermitteln möchte, erschwert.

Auch lässt die Aneinanderreihung der verschiedenen, durchaus höchst unterschiedlichen Untersuchungen und Darlegungen eine Stringenz der Konzentration bezüglich der im Untertitel ausgewiesenen drei Wissenschaftsbereiche vermissen. Es ist sicher der Teil 1 des Werkes, der sich – durch die ausschließliche Bezugnahme auf Leben und Werk von Helmuth Plessner – am ehesten positiv davon abhebt.

Fazit

Der Herausgeber Alexander Brandenburg weist in seiner Einleitung selbst darauf hin, dass all den versammelten Arbeiten ein wesentliches und die Soziologie als Anwendungswissenschaft überschreitendes Interesse an einer philosophischen Reflexion der conditio humana als Kriterium zugrundeliegt (vgl. S. 14). So verstanden bietet die Publikation all jenen, denen der Konnex zwischen dem Menschenbild und den gesellschaftlichen Gegebenheiten mehr oder weniger bewusst ist, eine Fülle an Erkenntnissen, an Erklärungsversuchen im Bezug auf die Problematik einer fachübergreifenden Verständigung hinsichtlich der Herbeiführung von Lösungsansätzen und der historischen und nicht immer ohne politische Verstrickungen auskommenden Entwicklung gerade der Soziologie in ihren verschiedenen Ausformungen.

Rezension von
Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann
Professor (em.) für Andragogik, Politikwissenschaft und Philosophie/Ethik an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt, Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften
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Es gibt 85 Rezensionen von Peter Eisenmann.

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Zitiervorschlag
Peter Eisenmann. Rezension vom 16.10.2023 zu: Christian von Ferber: Menschenbild und Gesellschaft. Studien zur Philosophischen Anthropologie, Soziologie und Medizinsoziologie. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2022. ISBN 978-3-495-99886-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29998.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.


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