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Dieter Röh, Elisabeth Schreieder et al. (Hrsg.): Sozialpsychiatrie als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit

Rezensiert von Karsten Giertz, 15.06.2023

Cover Dieter Röh, Elisabeth Schreieder et al. (Hrsg.): Sozialpsychiatrie als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit ISBN 978-3-17-036897-2

Dieter Röh, Elisabeth Schreieder, Rudolf Bieker (Hrsg.): Sozialpsychiatrie als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2022. 234 Seiten. ISBN 978-3-17-036897-2. D: 29,00 EUR, A: 29,90 EUR.
Reihe: Grundwissen Soziale Arbeit - 44.

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Thema

Die Sozialpsychiatrie ist ein wichtiges Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit. Im Zuge antipsychiatrischer Impulse in den 1960er Jahren und der Psychiatrie Enquête 1975 hat sich die Sozialpsychiatrie als sozialer Zweig der Psychiatrie herausgebildet, welche die biopsychosozialen Zusammenhänge bei der Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung von psychischen Erkrankungen betont sowie als sozialpolitische Bewegung wichtige Impulse zur Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen setzt. Sozialarbeitende gehören zu einer wichtigen Berufsgruppe in der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Auch die Soziale Arbeit als Profession hat viele Fachdiskurse innerhalb der Sozialpsychiatrie beeinflusst. Dabei sind die sozialpsychiatrisch geprägten Arbeitsfelder sehr komplex. Spezielles Fachwissen und umfangreiche Handlungskompetenzen werden bei den dort tätigen Fachkräften vorausgesetzt. In vielen Studiengängen der Sozialen Arbeit ist die Sozialpsychiatrie sowie allgemein die psychiatrische und psychosoziale Versorgung von psychisch erkrankten Menschen als spezifisches Arbeitsfeld eher unterrepräsentiert. Gerade im Zusammenhang mit dem sogenannten „Bologna-Prozess“ kam es im Studium der Sozialen Arbeit zu einer Verkürzung der Studienzeit und Verdichtung von Lerninhalten und Themen. Ebenso richtet sich die Fachliteratur zu psychischen Erkrankungen sowie deren Unterstützung und Behandlung oftmals an psychiatrische, pflegerische und psychotherapeutische Professionen oder an Mitarbeitende, welche in der stationären Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen tätig sind. Von daher besteht ein Bedarf an Fachliteratur, welche sich ausgehend von der Sozialen Arbeit als eigenständige Profession mit spezifischen Konzepten, Methoden und Diskursen im Bereich der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und im Arbeitsfeld der Sozialpsychiatrie beschäftigt.

AutorIn

Die AutorIn des Fachbuches „Sozialpsychiatrie als Handlungsfeld der Sozialer Arbeit“ sind Prof. Dr. Dieter Röh und Prof. Dr. Elisabeth Schreieder. Prof. Dr. Dieter Röh ist seit 2005 Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Themen Rehabilitation und Teilhabe sowie Klinische Sozialarbeit und Sozialraumorientierung. Prof. Dr. Elisabeth Schreieder ist seit 2019 als Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg tätig und lehrt zudem an der Fachhochschule Kiel. Neben Gesundheitsbezogener Sozialer Arbeit beschäftigt sie sich mit dem Theorie-Praxis-Transfer, empirische Sozialforschung und Spiel- und Theaterpädagogik.

Entstehungshintergrund

Das Fachbuch „Sozialpsychiatrie als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit“ erschien 2022 in der Buchreihe des Kohlhammer Verlages „Soziale Arbeit Grundwissen“, die herausgegeben wird von Prof. Dr. Rudolf Bieker. Ziel der Buchreihe ist es insbesondere vor dem Hintergrund des „Bologna-Prozesses“ das gesamte Grundwissen der Sozialen Arbeit theoretisch fundiert aufzuarbeiten, zu bündeln und immer mit dem Blick auf die Praxis verständlich darzustellen sowie lernfreundlich zu gestalten. Die Reihe richtet sich in erster Linie an Studierende der Sozialen Arbeit.

Aufbau

Das Fachbuch umfasst insgesamt 234 Seiten und 7 Kapitel, die sich auf die Grundlagen, Rahmenbedingungen und Versorgungsstrukturen der Sozialen Arbeit in der Sozialpsychiatrie beziehen. Eine Besonderheit ist das dritte Kapitel, das drei ausführliche Fallbeispiele enthält, welche als Lehrbeispiele der im Buch dargestellten Positionen und Konzepte fungieren. Zudem enthält das Buch in Kapitel 6 einen Gastbeitrag von Ayca Polat zum Thema Migration und psychische Gesundheit. Jedes Kapitel wird mit einer kurzen Zusammenfassung der Lerninhalte eingeführt. Zudem enthalten alle Kapitel am Ende eine Übersicht mit den wichtigsten Schlussfolgerungen aus dem Kapitel sowie eine Übersicht mit Vertiefungsmöglichkeiten durch weitergehende Fachliteratur oder Internetquellen.

Inhalt

Mittlerweile lassen sich in der Fachliteratur zahlreiche Definitionen und Begriffsbestimmungen zur Sozialpsychiatrie finden (Übersicht unter anderem in Schöny 2018). Allgemein wird unter Sozialpsychiatrie eine spezifische Sicht- und Arbeitsweise verstanden, die die biopsychosozialen Ursachen und Bedingungen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung sowie bei den Behandlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten von psychischer Erkrankung und Gesundheit in den Fokus nimmt. Damit distanziert sich die Sozialpsychiatrie von ausschließlich individual-psychologischen oder bio-medizinisch orientierten Krankheits- und Behandlungskonzepten.

In der Einleitung nehmen auch die Autorin und der Autor eine genaue Begriffsbestimmung der Sozialpsychiatrie vor. Demnach lässt sich der Begriff „Sozialpsychiatrie“ auf drei Ebenen näher bestimmen. So meint der Terminus „eine theoretische und empirische Wissenschaft, welche im Gegenstandsfeld psychische Gesundheit und Krankheit, die soziale Dimension bzw. die Bedeutung sozialer Faktoren erforscht und die damit einhergehende Wissensbestände sichert (ebd. 6).“ Weiterhin wird unter dem Begriff „Sozialpsychiatrie“ „eine sozialtherapeutische Praxis [verstanden], die psychisch erkrankte Menschen in und mit ihrer sozialen Umwelt zu verstehen versucht und behandelt (ebd.).“ Ferner „charakterisiert der Begriff eine soziale Bewegung, welche einerseits den Einbezug von Krankheit in die Lebenswelt und den Alltag der Betroffenen fordert und andererseits deren Ressourcen und Genesungschancen in das Krankheits- bzw. Gesundheitsverständnis und die Behandlungs- und Unterstützungsarrangements einbezieht (ebd.).“

Das erste Kapitel Grundlagen, Entwicklungslinien, Trends gibt einen Einblick über die allgemeinen Grundlagen der Sozialen Arbeit in der Sozialpsychiatrie. So wird die jüngere Geschichte der Sozialpsychiatrie in Deutschland aufgegriffen und wichtige Entwicklungslinien zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert nachgezeichnet. Einen besonderen Schwerpunkt nimmt dabei die Psychiatrie-Enquête ein, die 1975 erstmals nach dem zweiten Weltkrieg die ursprüngliche „menschenunwürdige“ Unterbringung von psychisch erkrankten Menschen in den damaligen Großanstalten kritisierte und maßgeblich in Deutschland zur Entwicklung des heutigen differenzierten gemeindepsychiatrischen Versorgungssystems beitrug. In diesem Kontext hat sich auch die Sozialpsychiatrie als sozialer Zweig der Psychiatrie mit wichtigen Leitprinzipien wie Personenzentrierung, Empowerment, Gemeindepsychiatrie und Sozialraumorientierung entwickelt. Auch die Soziale Arbeit verfolgt als Wissenschaft und Praxis diese Prinzipien. Als soziale Profession deckt sie wesentliche Teile des Sozialen innerhalb der Sozialpsychiatrie ab. So unterscheiden die Autorin und der Autor in Anlehnung an Füssenhäuer innerhalb der Sozialen Arbeit zwischen bildungstheoretische und diskursanalytische Positionen sowie lebenswelt- und bewältigungsorientierte Positionen, die mit den Prinzipien und Zielen des sozialpsychiatrischen Sektors kompatibel sind. Im Anschluss werden die Gesundheits- und Krankheitsmodelle der Sozialpsychiatrie vorgestellt. Hierzu zählen die deskriptiven kategorialen Klassifikationssysteme ICD, DSM und ICF, das Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungsmodell, das Salutogenese- und Recovery-Konzept sowie Erklärungsansätze aus der anthropologischen Psychiatrie. Zum Abschluss des Kapitels gehen die Autorin und der Autor auf besondere soziale Problemlagen von Menschen mit psychischen Erkrankungen wie gesellschaftliche Stigmatisierung, soziale Exklusion, Armut und Wohnungslosigkeit ein.

Im zweiten Kapitel Ethische Fragestellungen gehen die Autorin und der Autor zu Beginn auf die wichtigsten ethischen Konflikte in der Unterstützung und Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen ein. Gerade in akuten Krisensituationen mit Fremd- oder Selbstgefährdung kommt es immer wieder zu konflikthaften ethischen Fragestellungen zwischen Autonomie und Fremdbestimmung. Zur Bearbeitung dieser Konflikte schlagen die Autorin und der Autor vor, ethische Fragestellung zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung nicht als zwei entgegensetzte Pole, sondern im Rahmen eines Kontinuum-Modells multiprofessionell zu diskutieren. Um paternalistischen oder auch menschenverachtenden gesellschaftlichen Tendenzen oder auch Praktiken in der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung entgegenzuwirken, werden die Autonomie und Selbstbestimmung sowie Fremdbestimmung und Verantwortungsübernahme in Zwangskontexten diskutiert. Im Anschluss daran wird die Care-Ethik nach Tronto und die menschenrechtsorientierte Perspektive der Sozialen Arbeit vorgestellt, welche in der Praxis eine Orientierung bieten kann, um ethische Dilemmata auszuhandeln und entgegenzuwirken.

Als Lehrbeispiele für die Entwicklung und das Erleben von psychischen Erkrankungen wurden in Kapitel Fallvignetten mit Menschen aus dem sozialpsychiatrischen Feld drei Fallbeispiele aufgeführt, ausgewertet und kommentiert. Hierbei handelt es sich um Interviews mit Menschen und wichtigen unterstützende Personen (rechtliche Betreuung, Peer-Recovery-Gruppe und Sozialer Dienst in einer Werkstatt). In den Interviews geben die Betroffenen Einblick in ihre biografische Entwicklung, die Gestaltung von Freundschaften und Beziehungen, ihre Interessen, Wünsche und Lebensziele, auf ihre Sicht zu psychiatrischen Diagnosen und vergangenen Behandlungs- und Unterstützungserfahrungen. Die Interviews werden im Anschluss multiperspektivisch gedeutet und kommentiert. Dazu wird im ersten Schritt die medizinisch-fachliche Diagnose vorgestellt, im zweiten Schritt die subjektive Perspektive der Betroffenen sowie die Ressourcen und Potenziale ermittelt sowie im dritten Schritt die Beziehungsqualität zu ihren unterstützenden Personen und das Erarbeiten von neuen Entwicklungs- und Lösungsschritten im Rahmen des Unterstützungsprozesses ausgewertet. Durch diese multiperspektivische Auswertung werden die theoretischen Grundlagen aus den ersten Kapiteln praxisnah dargestellt sowie der Unterschied zwischen Sozialpsychiatrie und klassischer Psychiatrie deutlich gemacht. Zudem enthält die Gesamtauswertung zum Abschluss des Kapitels wichtige Empfehlungen für die Soziale Arbeit zur Gestaltung erfolgreicher Unterstützungsprozesse wie die Gestaltung positiv besetzter sozialer Beziehungen, das Überwinden von Selbst- und Fremdstigmatisierung, die Umsetzung von Hilfen, welche die Auseinandersetzung mit und die Bewältigung der eigenen Erkrankungen fördern, das Vorhandensein von Selbsthilfe, die Förderung von Potenzialen, Selbstbestimmung und Autonomie sowie die Vermittlung von Hoffnung und Zuversicht.

Im Kapitel Koproduktion und professionelles Handeln werden spezifische Methoden und Konzepte in der Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen aus der Sozialen Arbeit vorgestellt sowie deren Anwendung in Zusammenarbeit mit anderen Professionen und AkteurInnen aus der Selbsthilfe in der Praxis beschrieben. Hierzu gehören psychosoziale Beratung, Netzwerkarbeit, psychosoziale Diagnostik, soziale Gruppenarbeit, Sozialtherapie, Beziehungsarbeit und Case Management. Darüber hinaus enthält das Kapitel auch Unterstützungsformen aus der Selbsthilfe und Recovery-Bewegung.

Das Kapitel Rahmenbedingungen und Versorgungsstrukturen gibt einen allgemeinen Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Versorgungsstrukturen der Sozialpsychiatrie in Deutschland. Nach einer allgemeinen Einführung in die Versorgungsstrukturen orientiert nach den Sozialgesetzbüchern werden folgende Leistungsangebote näher beschrieben: Medizinisch-psychiatrische bzw. psychotherapeutische Krankenbehandlung, medizinische bzw. berufliche Rehabilitation, soziale Teilhabe und Assistenz im Bereich Wohnen, Teilhabe am Arbeitsleben, Sozialpsychiatrischer Dienst, Rechtliche Betreuung, Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung.

Aufgrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklung, die vor allem durch Migration, Zuwanderung und Flüchtlingsbewegungen geprägt sind, gibt im vorletzten Kapitel Ayca Polat einen Einblick in das Thema Migration und Gesellschaft. Migrationsgesellschaftliche Veränderungen nehmen zunehmend Einfluss auf die Sozialpsychiatrie und werden jedoch bisher zu selten in den sozialpsychiatrischen Diskursen thematisiert. Nach einer kurzen Darstellung der weltweiten Migrations- und Fluchtbewegungen, zeigt die Autorin die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland auf. Darüber hinaus werden Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund mit zahlreichen psychosozialen Belastungen konfrontiert, welche sich nachteilig auf die psychische Gesundheit auswirken und auch zu einer höheren Prävalenz von psychischen Erkrankungen führen. Trotz des hohen Risikos und der erhöhten Häufigkeit von psychischen Erkrankungen werden Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund in Deutschland bei der Inanspruchnahme von psychiatrischen und psychosozialen Hilfen mit zahlreichen strukturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen konfrontiert, die sich benachteiligend und diskriminierend auswirken. Die Autorin plädiert dafür, Menschen mit Migrations- und Fluchtstatus als wichtige Zielgruppe der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung anzuerkennen und durch gezielte Strategien der Gleichberechtigung Zugangsbarrieren zu entsprechenden Behandlungs- und Unterstützungsangeboten abzubauen. Zudem wird durch die migrationsgesellschaftliche Entwicklung deutlich, dass sich auch die Sozialpsychiatrie mit der Umsetzung einer diversitätssensiblen und -bewussten Versorgung in Zukunft auseinandersetzen muss. Als Beispiele für eine gelungene diversitätsbewusste Versorgung stellt sie das AMIF-Teilprojekt „Strukturverbesserung der psychotherapeutischen und psychiatrischen Versorgung von traumatisierten Fluchtlinien“, das Kinder- und Jugendhilfe-Projekt „Grenzgänger“ sowie das Wiedereingliederungsprojekt „Elele – Hand ins Leben zurück“ vor.

Das letzte Kapitel Professionelle Selbstklärung und Forschungbeschäftigt sich mit wichtigen Elementen einer professionellen Sozial Arbeit in der Sozialpsychiatrie. Hierzu zählen die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbsterfahrungen sowie die damit verbundene Selbstklärung, die Inanspruchnahme und Umsetzung von Supervision, Intervision und kollegialer Beratung. Hierzu stellen die Autorin und der Autor die verschiedenen Interventionen und deren Methoden im Einzelnen vor und beschreiben deren Umsetzung anhand von konkreten Fallbeispielen. Im zweiten Teil des Kapitels wird die Sozialpsychiatrie als ein wichtiges Forschungsgebiet vorgestellt. Neben einem allgemeinen Überblick über die verschiedenen Forschungszugänge innerhalb der Sozialpsychiatrie geben die Autorin und der Autor einen Einblick in die medizinische Forschungssystematik sowie in die Versorgungsforschung, welche die Forschung in der Sozialpsychiatrie bis heute sehr stark prägen. Zudem wird zum Abschluss die Hamburger RCT-Peer-Studie als ein spezifisches Beispiel in der sozialpsychiatrischen Forschung beschrieben. 

Diskussion

Das Fachbuch Sozialpsychiatrie als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit ist eine hervorragende, kompakte und verständliche Einführung für Studierende der Sozialen Arbeit, welche sich mit dem Handlungsfeld Sozialpsychiatrie auseinandersetzen möchten. Mit den aufgeführten Fallbeispielen im dritten Kapitel, ist es gut gelungen die theoretischen Grundlagen, Methoden und Konzepte auch für Studierende ohne Praxiserfahrungen anschaulich darzustellen. Zudem haben die Autorin und der Autor die spezifische Rolle der Sozialen Arbeit als eigenständige und wichtige Profession im Handlungsfeld der Sozialpsychiatrie fundiert herausgearbeitet und nachvollziehbar dargestellt.

Darüber hinaus berücksichtigt das Buch alle aktuellen relevanten sozialpolitischen Entwicklungen wie die gesetzlichen Reformprozesse durch das Bundesteilhabegesetz oder die stationsäquivalente Behandlung. Außerdem werden aktuelle Versorgungsbedarfe in Hinblick auf die Behandlung- und Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen aufgezeigt. Hierzu zählen unter anderem die gesellschaftliche Stigmatisierung, soziale Isolation, Armut und Wohnungslosigkeit von Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie die Unterversorgung von psychisch erkrankten Menschen mit Migrations- oder Fluchthintergrund, wodurch das Fachbuch neben einer allgemeinen Einführung auch wichtige Weiterentwicklungsbedarfe innerhalb der Sozialpsychiatrie aufzeigt.

Ein Aspekt, der in diesem Kontext jedoch wenig Beachtung gefunden hat, ist die erhöhte Mortalität und Morbidität von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung häufiger komorbiden behandlungsbedürftigen somatischen und chronischen Erkrankungen ausgesetzt sind (vgl. De Hert et al. 2011; Leucht et al. 2007). Zudem weisen sie sogar ein höheres Risiko für eine frühere Sterblichkeit aufgrund sekundärer Erkrankungsfolgen und somatischer Beeinträchtigungen auf (vgl. Dickerson et al. 2018; Tanskanen et al. 2018). Bundesweite Befragungen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen, welche die Unterstützungsangebote der Eingliederungshilfe in Anspruch nehmen, legen außerdem nahe, dass die somatische Gesundheit erheblich mit der sozialen Teilhabe, mit Selbststigmatisierungsprozessen, mit der allgemeinen Lebensqualität und mit dem Erleben von emotionaler Unterstützung korreliert (vgl. Heim & Walther 2020, LSP M-V e.V. et al. 2018). Je schlechter die somatische Gesundheit bewertet wurde, desto geringer wurde die soziale Teilhabe und die allgemeine Lebenszufriedenheit von den Befragten eingeschätzt. Angesicht der erhöhten Morbidität und Mortalität sowie den Auswirkungen einer beeinträchtigten somatischen Gesundheit auf die soziale Teilhabe bei Menschen mit psychischen Erkrankungen ist es notwendig, dass sich auch die Soziale Arbeit als wichtige Profession im Handlungsfeld der Sozialpsychiatrie als Lotse für die somatischen Aspekte psychischer Gesundheit versteht (vgl. Giertz et al. 2022; Steinhart 2018). Studierende sollten auf diesen wichtigen Aspekt aufmerksam gemacht und sensibilisiert werden, um im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten in der Praxis gezielt KlientInnen auch in diesem Bereich zu unterstützen. 

Fazit

Das Fachbuch Sozialpsychiatrie als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit ist eine hervorragende, kompakte und verständliche Einführung für Studierende der Sozialen Arbeit, welche sich mit dem Handlungsfeld Sozialpsychiatrie auseinandersetzen möchten. Durch Fallbeispiele ist es der Autorin und dem Autor gelungen die theoretischen Grundlagen, Methoden und Konzepte auch für Studierende ohne Praxiserfahrungen anschaulich darzustellen. Zudem haben die Autorin und der Autor die spezifische Rolle der Sozialen Arbeit als eigenständige und wichtige Profession im Handlungsfeld der Sozialpsychiatrie fundiert herausgearbeitet und nachvollziehbar dargestellt. Neben einer allgemeinen Einführung zeigt das Buch außerdem wichtige Weiterentwicklungsbedarfe innerhalb der Sozialpsychiatrie auf.

Literatur

De Hert, M., Correl, C. U., Bobes, J., Cetkovich-Bakmas, M., Cohen, D., Asai, I., Detraux, J., Gautmam, S., Möller, H.-J., Ndetei, D. M., Newcomer, J. W., Uwakwe, R. & Leucht, S. (2011). Physical illness in patients with severe mental disorders. I. Prevalence, impact of medications and disparities in health care. In: World Psychiatry, 10, pp. 52–77.

Dickerson, F., Origoni, A., Schroeder, J., Adamos, M., Katsafanas, E., Khushalani, S., Savage, C. L. G., Schweinfurth, L. A. B., Stallings, C., Sweeney, K. & Yolken, R. (2018). Natural cause mortality in persons with serious mental illness. In: Acta Psychiatrica Scandinavica, 137, pp. 371–379.

Giertz, K., Speck, A. & Steinhart, I. (2022). Soziale Teilhabe schwer psychisch kranker Menschen – Daten und Fakten. In: Giertz, K., Große, L. & Röh, D. (Hrsg.). Soziale Teilhabe professionell fördern – Grundlagen und Methoden der qualifizierten Assistenz. Köln, Psychiatrie Verlag, S. 32–46.

Heim, L. & Walther, C. (2020). Soziale Teilhabe. Ergebnisse einer Replikation der BAESCAP-Studie. In: Sozialpsychiatrische Informationen, 50 (1), S. 44–49.

LSP M-V e.V. – Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V., Speck, A. & Steinhart, I. (Hrsg.) (2018). Abgehängt und chancenlos: Teilhabechancen und -risiken von Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen. Köln, Psychiatrie Verlag.

Schöny, W. (Hrsg.) (2018). Sozialpsychiatrie – theoretische Grundlagen und praktische Einblicke. Berlin, Springer Verlag.

Steinhart, I. (2018). Gesundheit, Komorbidität und medizinische Versorgung aus Sicht von Klientinnen und Klienten der Eingliederungshilfe. In: Sozialpsychiatrische Informationen, 48 (4), S. 20–24.

Tanskanen, A., Tiihonen, J. & Taiplae, H. (2018): Mortality in schizophrenia: 30-year nationwide follow-up study. In: Acta Psychiatrica Scandinavica, 138, pp. 492–499.

Rezension von
Karsten Giertz
M. A., ist Geschäftsführer des Landesverbandes Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e. V., Vorstandsvorsitzende des European Centre of Clinical Social Work e.V., Mitglied im Institut für Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. sowie in den Fachgruppen Sektion Klinische Sozialarbeit und Case Management der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit. Er promoviert an der Universitätsmedizin Greifswald zur psychosozialen Versorgung von Borderline-Patientinnen und -Patienten und hat mehrere Lehraufträge und hat mehrere Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen und Institutionen für Klinische Sozialarbeit, psychosoziale Beratung und Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie Sozialpsychiatrie und Psychotherapieforschung.
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ISSN 2190-9245