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Tobias Teismann, Wolfram Dorrmann: Suizidalität

Rezensiert von Dr. Lorenz Grolig, 06.03.2023

Cover Tobias Teismann, Wolfram Dorrmann: Suizidalität ISBN 978-3-8017-3037-6

Tobias Teismann, Wolfram Dorrmann: Suizidalität. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2021. 2., aktualisierte Auflage. 95 Seiten. ISBN 978-3-8017-3037-6. 19,95 EUR. CH: 26,24 sFr.
Reihe: Fortschritte der Psychotherapie - Band 54.

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Thema

Auch wenn in Deutschland seit den 1980er Jahren die Zahl der Suizide um etwa 25 % gesunken ist, sterben jährlich hierzulande weiterhin etwa 10 000 Menschen durch Selbsttötung. Schätzungen gehen zudem davon aus, dass eine vielfache Zahl von Menschen Suizidgedanken, -fantasien oder auch -absichten erlebt, in den allermeisten Fällen im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen oder akuten Krisen (z.B. im Zusammenhang mit Verlusterfahrungen oder lebensbedrohlichen körperlichen Erkrankungen). In der psychosozialen und klinischen Praxis kommen Fachkräfte regelmäßig mit diesen verschiedenen Aspekten von Suizidalität in Berührung und sind herausgefordert, wichtige Informationen zu erfassen, sensibel und gezielt nachzufragen sowie angemessene Unterstützungsangebote zu entwickeln.

Dieses Buch vermittelt ein differenziertes, evidenzbasiertes Verständnis von Erscheinungsformen, Ursachen und Interventionsmöglichkeiten von Suizidalität und möchte damit den Leser*innen konkretes Handlungswissen insbesondere im psychotherapeutischen und psychiatrischen Setting zur Verfügung stellen. Darüber hinaus ist diese systematische, verdichtete Darstellung sicherlich auch für Fachkräfte hoch relevant, die in anderen Kontexten mit Menschen arbeiten, welche mit erhöhter Wahrscheinlichkeit von Suizidalität betroffen sein können (z.B. Beratungsstellen, Betreuungsunterkünfte, mobile Sozialarbeit).

Autoren

PD Dr. Tobias Teismann ist Psychotherapeut (VT), Dozent und Supervisor. Seit 2012 Geschäftsführender Leiter des Zentrums für Psychotherapie (ZPT) an der Ruhr-Universität Bochum.

Dr. Wolfram Dorrmann ist seit 1999 Leiter des staatlich anerkannten Ausbildungsinstituts für Verhaltenstherapie, Verhaltensmedizin und Sexuologie (IVS) in Nürnberg. Seit 1987 als Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut niedergelassen.

Aufbau und Inhalt

Das Buch besteht aus vier Hauptteilen:

  1. Beschreibung,
  2. Störungstheorien und -modelle,
  3. Diagnostik und Indikation sowie
  4. Behandlung.

Diese werden ergänzt durch ausführliche Literaturhinweise, Lernkontrollfragen zur Selbstüberprüfung, einen Anhang mit Fragen zur Risikoabschätzung und zur Analyse suizidaler Verhaltensketten sowie Karten mit Kurzzusammenfassungen für die praktische Arbeit mit akut suizidalen Klient*innen. Der Band folgt dem standardisierten Aufbau der Reihe „Fortschritte in der Psychotherapie“.

Das 1. Kapitel „Beschreibung“ beginnt mit grundlegenden Definitionen zu Formen von Suizidalität, epidemiologischen Befunden und Risiko- und protektiven Faktoren. Darauf aufbauend werden Verlaufsformen, Komorbidität sowie Diagnostische Verfahren und Dokumentationshilfen dargestellt.

Das 2. Kapitel „Störungstheorien und -modelle“ skizziert drei (kognitiv-verhaltenstherapeutische) Störungsmodelle, wobei der Schwerpunkt auf dem praktischen Nutzen für Fachkräfte liegt und weniger auf der Evaluation der empirischen Belege zu diesen Modellen. Für Risikoabschätzung, Krisenintervention und Behandlung chronischer Suizidalität besonders bedeutsam sind demnach: „Hoffnungslosigkeit, Unaushaltbarkeits-Überzeugungen, kognitive Einengung, soziale Isolation, das Gefühl, eine Last für andere zu sein, Furchtlosigkeit vor Schmerz, Sterben und Tod sowie der Eindruck, einer Situation hilflos ausgeliefert zu sein.“ (S. 30). Auch biologische Faktoren (genetische Vererbung, Neurotransmitter-Systeme) scheinen in Verbindung mit dem Auftreten von Suizidalität und Selbsttötungen zu stehen, sollten aus Sicht der Autoren jedoch immer im Zusammenhang von psychologischen und sozialen Faktoren betrachtet werden.

Das 3. Kapitel „Diagnostik und Indikation“ räumt zunächst mit dem Mythos auf, dass Fachkräfte durch das Ansprechen von Suizidalität im direkten Kontakt mit Klient*innen diese erst verursachen oder verstärken könnten. Tatsächlich führt ein offenes Ansprechen von möglicher Suizidalität in der Regel dazu, dass Isolation und gedankliche Einengung von Klient*innen reduziert werden und der ‚innere Blick‘ sich etwas weiten kann, wodurch neue Perspektiven entstehen und Suizidalität abnehmen kann. „Die offene Auseinandersetzung mit Suizidgedanken vermittelt dem Betroffenen überdies, dass das Problem ernst genommen wird, Suizidgedanken normaler Bestandteil menschlichen Erlebens sind und der Therapeut bereit und in der Lage ist, suizidale Krisen auszuhalten.“ (S. 32).

Zur Abklärung von Suizidalität und der Risikoabschätzung sollten Fachkräfte alle relevanten Risikofaktoren (siehe 1. Kapitel) beachten und ggf. Unklares erfragen, um das Potenzial für Suizidabsichten und Suizidhandlungen einschätzen zu können. Potenziell suizidgefährdete Klient*innen sollten bei jedem Kontakt offen auf lebensmüde Gedanken angesprochen werden – zum Beispiel: „Wenn Sie so still werden, könnte es sein, dass Sie ein Problem haben, bei dem es schwer ist, darüber zu reden?“ (S. 33). Neben diesen niedrigschwelligen Einstiegsfragen beschreiben die Autoren detailliert und praxisnah, wie das Suizidrisiko sorgfältig eingeschätzt werden kann. Zum Einsatz kommen hierbei auch spezielle Techniken der Gesprächsführung, die die Kommunikation über das oft schambesetzte Thema erleichtern können (z.B. Aussprechen von dezenten Vermutungen, Normalisieren des temporären Auftretens von Suizidalität bei schweren Belastungen oder Erkrankungen).

Zur Bestimmung des aktuellen Suizidrisikos ist eine umfangreiche Abklärung notwendig: Häufigkeit, Dauer und Intensität von Suizidgedanken, -plänen und -absichten sowie Symptombelastung, Fähigkeit zur Selbstkontrolle (u.a. Absprachefähigkeit), Vorliegen von Risiko- und protektiven Faktoren. Aufgrund dieser Abklärung im Gespräch mit Klient*innen wird der Schweregrad der suizidalen Krise bestimmt und darüber entschieden, ob eine ambulante Behandlung (weiter) angezeigt ist oder eine stationäre Aufnahme (Psychiatrie, ggf. auch Krisenintervention oder Psychosomatische Klinik) notwendig ist.

Das 4. Kapitel „Behandlung“ vermittelt zuerst Strategien im Umgang mit akuter Suizidalität in Form eines Prozessmodells zur Krisenintervention. Ziele sind u.a. die Einschätzung des Suizidrisikos und der Selbstkontrolle; letztere kann bei vielen Klient*innen u.a. durch einen Notfallplan und das gemeinsame Erarbeiten einer Non-Suizid-Abmachung gestärkt werden. Wiederkehrende Suizidalität wird in Fachdiskursen mittlerweile als eigenes psychopathologisches Syndrom betrachtet, welche entsprechend durch ein spezifisches therapeutisches Vorgehen behandelt werden sollte (z.B. „Kognitive Therapie suizidalen Verhaltens“ von Wenzel et al., 2009). Zum Abschluss werden der Forschungsstand zur Wirksamkeit pharmakologischer und psychotherapeutischer Behandlung sowie rechtliche Aspekte im Umgang mit suizidalen Klient*innen dargestellt.

Diskussion

Die größte Stärke dieses Buchs liegt darin, auf eine leicht zugängliche und dennoch vielschichtige Weise zahlreiche aktuelle Erkenntnisse zu Suizidalität vorzustellen, einige unzutreffende Mythen zu widerlegen und vor allem konkrete Vorgehensweisen an die Hand zu geben, die in verschiedenen klinischen, aber auch psychosozialen Settings genutzt werden können. Es bietet, entsprechend der Intention der Reihe, eine fundierte, praxisorientierte Einführung in das Thema Suizidalität aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer Perspektive. Zur Vertiefung und Erweiterung des Verständnisses von Suizidalität können bei entsprechender Neigung und Neugier auch psychodynamische, systemische oder schematherapeutische Modelle und Behandlungsansätze genutzt werden.

Fazit

Der Band überzeugt durch eine Fülle von praxisnahen, bewährten Vorgehensweisen und regt nicht zuletzt die Reflexion der Leser*innen zu eigenen Haltungen im Zusammenhang mit Suizidalität an – eine günstige Voraussetzung, um in schwierigen Situationen gute Entscheidungen treffen und wirksam handeln zu können. 

Rezension von
Dr. Lorenz Grolig
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Es gibt 14 Rezensionen von Lorenz Grolig.

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Zitiervorschlag
Lorenz Grolig. Rezension vom 06.03.2023 zu: Tobias Teismann, Wolfram Dorrmann: Suizidalität. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2021. 2., aktualisierte Auflage. ISBN 978-3-8017-3037-6. Reihe: Fortschritte der Psychotherapie - Band 54. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30014.php, Datum des Zugriffs 09.11.2024.


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