Babette Renneberg, Sabine Herpertz: Persönlichkeitsstörungen
Rezensiert von Dr. Lorenz Grolig, 14.03.2023

Babette Renneberg, Sabine Herpertz: Persönlichkeitsstörungen.
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2021.
119 Seiten.
ISBN 978-3-8017-2508-2.
19,95 EUR.
CH: 26,90 sFr.
Reihe: Fortschritte der Psychotherapie - Band 79.
Thema
Die Arbeit mit Klient*innen mit Persönlichkeitsstörungen (PS) gilt als oft herausfordernd und anspruchsvoll. PS zeigen sich in der Regel als soziale Interaktionsstörungen, die meist auf Defizite in der sozialen Kognition (u.a. Mentalisierungsfähigkeiten) zurückgeführt werden können. Charakteristisch sind zudem wenig flexible bis rigide Verhaltens- und Denkmuster, durch welche die Entwicklungsmöglichkeiten und die Anpassung an sich verändernde Lebensumstände eingeschränkt werden.
Da die eigenen, maladaptiven Denk- und Verhaltensweisen in der Regel nicht als fremd oder störend wahrgenommen werden, kommen diese Klient*innen meist nicht wegen der Vermutung, unter einer PS zu leiden, in eine Psychotherapie. Anlass sind meist psychische Störungen wie Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen, die bei Vorliegen einer PS oft sekundär auftreten.
Die Beziehungsgestaltung in der Psychotherapie mit Menschen mit PS ist von großer Bedeutung. Aktuelle Verhaltenstherapieansätze der Dritten Welle (wie Schematherapie und Acceptance und Commitment-Therapie) legen vermehrt das Augenmerk auf eine motivorientierte Beziehungsgestaltung und dabei auch auf das Erleben von Therapeut*innen im Kontakt mit Klient*innen.
Dieses Buch fasst aus einer kognitiv-verhaltenstherapeutischen Perspektive wichtige Hintergründe zur Entstehung, Diagnostik und Behandlung von PS zusammen, und zwar hinsichtlich der folgenden, nach ICD-10 aktuell noch gültigen Störungskategorien: vermeidend-selbstunsichere PS, zwanghafte PS, narzisstische PS, dependente PS, paranoide PS, histrionische PS sowie schizoide und schizotype PS. Ein Schwerpunkt liegt zudem auf der Vorstellung des neuen Ansatzes der dimensionalen Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen (DSM-5 und insbesondere ICD-11) und seines Nutzens für Psychotherapie.
Autorinnen
Prof. Dr. Babette Renneberg ist seit 2008 Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Freien Universität Berlin, dort Leiterin der Hochschulambulanz für Psychotherapie und des ZGFU, einem Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (VT).
Prof. Dr. Sabine C. Herpertz ist seit 2009 Lehrstuhlinhaberin für Allgemeine Psychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg, Ärztliche Direktorin der gleichnamigen Klinik und geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Psychosoziale Medizin.
Aufbau und Inhalt
Das Buch besteht aus zwei einführenden Kapiteln sowie sieben Kapiteln, die sich auf die oben genannten, spezifischen PS beziehen.
Das erste Kapitel erläutert Störungsverständnis und Grundlagen der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung von PS. Als entscheidend für den Behandlungserfolg gilt das Herausarbeiten von kognitiven Schemata, die aufgrund biografischer Erfahrungen erworben wurden und sich als starke „Filter“ (Grundeinstellungen) zwischen Klient*innen und deren sozialer Welt umfassend auf Wahrnehmung, Denken, Emotionen und Handeln auswirken. Aufgrund dieser Erfahrungen und den dabei erworbenen kognitiven Schemata haben sich (ausgehend von psychologischen Grundbedürfnissen) bestimmte „handlungsleitende Kernmotive“ (S. 5) herausgebildet, die jedoch nicht ohne Weiteres aus dem (dysfunktionalen) Handeln der Klient*innen abgeleitet werden können. Die Motive hinter dysfunktionalem Handeln im Alltag, aber auch in der therapeutischen Beziehung, sollen in der Therapie reflektiert und validiert werden sowie funktionale Handlungsalternativen zur Bedürfnisbefriedigung gefunden werden. Hierbei spielen Defizite in sozial-kognitiven Funktionen und eine Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit bei allen PS eine entscheidende Rolle. Da die Motivation von Menschen mit PS, ihr eigenes Erleben und Verhalten zu hinterfragen und zu verändern, zu Therapiebeginn meist nicht sehr hoch ist, können Techniken der motivierenden Gesprächsführung eingesetzt werden, um Veränderungswünsche zu wecken und zu stärken.
Das zweite Kapitel erläutert das diagnostische Vorgehen nach der kategorialen Systematik (ICD-10) und nach der dimensionalen Systematik (ICD-11). Die kategoriale Systematik wird in der ICD-11 nicht weitergeführt, da unter anderem die Übereinstimmungen zwischen verschiedenen klinischen Diagnostiker*innen oft relativ niedrig waren, die diagnostischen Unterscheidungen zwischen den PS-Kategorien (und auch anderen psychischen Störungen) in der Praxis also nicht ausreichend gelangen. Zudem konnten aufgrund der zahlreichen und heterogenen Symptome, die einer bestimmten PS zugrunde liegen konnten, aber nicht mussten, Menschen mit stark abweichenden Störungsbildern dieselbe PS-Diagnose erhalten, was ebenfalls den klinischen Nutzen minderte.
Die dimensionale Klassifikation von PS ist ein recht grundlegender Neuanfang, da fast alle spezifischen PS-Kategorien aufgegeben werden (Ausnahme: Borderline-PS) und stattdessen Auffälligkeiten in fünf relevanten Persönlichkeitsmerkmalen als Grundlage für die übergreifende Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ dienen. Diese sind (bezugnehmend auf die Big Five-Persönlichkeitseigenschaften von Costa und McCrae): Negative Affektivität, Soziale Distanziertheit, Dissozialität, Enthemmung und Anankasmus. Abhängig vom mehr oder weniger starken Vorliegen dieser Persönlichkeitsmerkmale wird unterschieden zwischen leichtem, mittlerem und schwerem Ausprägungsgrad. Die Persönlichkeitsmerkmale und deren Ausprägungsgrad bieten direkte Ansatzpunkte für das Vorgehen in der Psychotherapie.
Die Kapitel drei bis neun führen ein in die sieben oben genannten PS, und zwar hinsichtlich Störungsbild, Diagnostik, Störungsmodell, Ätiologie (soweit bekannt), Psychotherapie und Studien zur Wirksamkeit (soweit vorhanden). Jeweils an einem Fallbeispiel werden typische Problembereiche und schwierige Situationen in der Therapie veranschaulicht und auch konkrete Hilfestellungen zur Vermittlung der Diagnose und therapeutischem Vorgehen gegeben.
Diskussion
Zur Behandlung der meisten hier vorgestellten PS liegen bislang nur wenige empirisch abgesicherte Behandlungskonzepte vor (u.a. kognitiv-verhaltenstherapeutische Konzepte von Beck und schematherapeutische Konzepte von Young und Arntz). Es bleibt zu hoffen, dass durch die Neukonzeptualisierung von PS eine höhere Trennschärfe und Intersubjektivität von PS-Diagnosen erreicht werden kann, was ein erster wichtiger Schritt wäre, um PS-spezifische Behandlungskonzepte aus der klinischen Praxis mit höherer Erfolgswahrscheinlichkeit auch in Interventionsstudien überprüfen zu können.
Fazit
Dieses Buch bietet eine komprimierte, leicht zugängliche Einführung in die aktuelle, dimensionale Konzeptualisierung von PS gemäß ICD-11. Es enthält zudem zahlreiche hilfreiche Ansatzpunkte für eine zeitgemäße verhaltenstherapeutische Behandlung, die Auffälligkeiten in der Interaktion, der Persönlichkeit und des Selbst frühzeitig erkennt und auf diese im Rahmen einer motivorientierten Beziehungsgestaltung wertschätzend und für Veränderung motivierend eingeht.
Rezension von
Dr. Lorenz Grolig
Mailformular
Es gibt 14 Rezensionen von Lorenz Grolig.