Hardy Bouillon (Hrsg.): Der Kapitalismus und die Historiker
Rezensiert von Dr. phil. Manfred Krapf, 06.03.2023

Hardy Bouillon (Hrsg.): Der Kapitalismus und die Historiker. Mit Beiträgen von Friedrich August von Hayek, Thomas Southcliffe Ashton, Louis Morton Hacker, Bertrand de Jouvenel, William Harold Hutt.
Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2022.
130 Seiten.
ISBN 978-3-428-18778-2.
D: 34,90 EUR,
A: 35,90 EUR.
Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus.
Thema
Die Aufsätze des zu besprechenden Sammelbandes beschäftigen sich mit der Haltung der Historiker zum Kapitalismus vor dem Hintergrund der grundsätzlich und nachhaltig artikulierten These, dass der Kapitalismus in der Industriellen Revolution eben nicht zur Verelendung geführt habe, sondern unabhängig von gesetzgeberischen Eingriffen das Leben des von ihm geschaffenen Proletariats kontinuierlich verbessert habe. Da jedoch auch in unserer Gegenwart eine kapitalismusskeptische Haltung vieler Historiker und Intellektueller „nach wie vor virulent“ sei, soll die vorliegende Publikation „hochaktuell“ der Frage nachgehen, wieso der Antikapitalismus so „stark Fuß fassen konnte“.
Autoren, Herausgeber und Entstehungshintergrund
Das Buch erscheint in der Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus als Band 6. Diese Schriftenreihe möchte einschlägige Texte in der Tradition des Klassischen Liberalismus und einer Nähe zu Friedrich August von Hayek für eine deutschsprachige Leserschaft bereitstellen. Es handelt sich hier um eine neue Herausgabe von Aufsätzen, die Friedrich August Hayek 1954 im Anschluss an eine Tagung in Beauvallon in Frankreich im Herbst 1951 bereits herausgegeben hatte. Die Autoren des Bandes lehrten u.a. an der London School of Economics, an der Columbia University in New York oder in Zürich.
Aufbau und Inhalt
Zunächst sollen einige kurze Hinweise die Thematik des zu besprechenden Bandes skizzieren, um ein besseres Verständnis der Schrift aus den frühen 1950er Jahren zu erreichen. Der Namensgeber der Schriftenreihe Friedrich August von Hayek (1899-1992) war ein Nationalökonom, der an der London School of Economics lehrte und 1974 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt. Vereinfacht formuliert, ist er zu den Neoliberalen zu zählen. Der Neoliberalismus propagiert die klassische liberale Forderung nach einer freien Entfaltung der Menschen und deren produktiven Kräfte bei einer weitestgehenden Zurückhaltung des Staates im Sinne eines Laissez-faire-Prinzips. Dieses Gedankengebäude bezog sich nicht nur auf die Wirtschaft, sondern auch auf die politische Sphäre. Wirtschaftlich verfochten seine Denker eine Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb ohne staatliche oder private Monopole. Für Hayek verhinderte der Neoliberalismus mit den Kernelementen Privateigentum und Wettbewerb auch eine totalitäre Herrschaft. Für die Bundesrepublik Deutschland sind diese Ideen insofern relevant, da sie in das Konzept der sog. Sozialen Marktwirtschaft, die vor allem von Alfred Müller-Armack als Begriff und Leitbild geprägt wurde, einfließen. Für Hayek war eine Bestimmung von sozialer Gerechtigkeit nicht zu erreichen, diese sei letztendlich eine Ideologie der Linken. Bis in unsere unmittelbare Gegenwart strahlten Auswirkungen dieses Neoliberalismus im Bereich der Wirtschaftsordnungen aus, wenn wir an die marktradikale Politik unter Thatcher in Großbritannien seit Ende der 1970er Jahre oder an Reagan in den USA denken. Diese kritisierten grundsätzlich ein lenkendes Eingreifen des Staates in die Wirtschaft mittels einer forcierten Nachfrage und forderten optimale Bedingungen für Unternehmen und eine unabhängige Zentralbank.
Der Sammelband gliedert sich in zwei Teile: Teil 1 widmet sich mit drei Beiträgen den Haltungen der Historiker bzw. Intellektuellen (Ashton, Hacker, Jouvenel), während Teil 2 den Lebensstandard und das Fabrikwesen in England behandelt. Den Band eröffnet mit einer neuen Einleitung der Herausgeber und Übersetzer Hardy Bouillon, dem die ursprüngliche Einleitung von Friedrich von Hayek unter dem Titel „Geschichte und Politik“ und die fünf Hauptaufsätze folgen:
- Thomas Southcliffe Ashton, Der Umgang der Historiker mit dem Kapitalismus,
- Louis Morton Hacker, Die antikapitalistische Voreingenommenheit unter amerikanischen Historikern
- Bertrand de Jouvenel, Europas Intellektuelle und ihr Umgang mit dem Kapitalismus
Und in einem zweiten Teil:
- Thomas Southcliffe Ashton, Der Lebensstandard der Arbeiter in England zwischen 1790 und 1830
- William Harold Hutt, Das Fabrikwesen im frühen 19. Jahrhundert
Nach einer Einleitung des neuen Herausgebers Bouillon folgt die ursprüngliche Einleitung von Friedrich August von Hayek, in der dieser kritisch den Einfluss der Geschichtsschreibung, die ohne theoretische Kenntnisse arbeite, auf die öffentliche Meinung beklagt. Er bezweifelt, „ob man über eine zusammenhängende Epoche oder eine Folge von Ereignissen überhaupt schreiben kann, ohne sie im Lichte der Theorien bezüglich der miteinander verwobenen gesellschaftlichen Prozesse oder gar im Lichte bestimmter Werte zu betrachten“. Zum Thema des Kapitalismus bestünden viele Mythen und „Legenden“ über eine angebliche „Lageverschlechterung der Arbeiter im Zuge des aufkommenden „Kapitalismus“ bzw. des Fabrikwesens oder industriellen Systems“. Tatsächlich sei ein „Fortschritt der Arbeiterklasse“ zu konstatieren. Gründe für die verzerrte Rezeption des Kapitalismus unter den Historikern verortet Hayek in der „historischen Methode“ und in dem Bemühen, „die Tatsachen ohne theoretische Vorbelastung zu untersuchen“. Die komplexen gesellschaftlichen Ereignisse benötigen hingegen „Analysewerkzeuge, die eine systematische Theorie bereitstellt“.
Den ersten Teil des Bandes eröffnet Ashton mit seiner Analyse der britischen (Wirtschafts)Historiker und deren Ergebnissen zu unterschiedlichen Themen. Diese hätten sich aber lange Zeit kaum mit wirtschaftlichen Fragen beschäftigt. Des Weiteren setzt sich der Autor kritisch mit Friedrich Engels oder Werner Sombart und dessen Einteilung des Kapitalismus in Stufen auseinander. Derartige Vorbestimmtheiten werden abgelehnt, vielmehr lasse sich der Fortschritt auf „spontane(n) Handlungen und Entscheidungen“ der Menschen und nicht „einer unpersönlichen Kraft namens Kapitalismus“ zurückführen.
Eine antikapitalistische Voreingenommenheit unter den amerikanischen Historikern stellt Hacker fest und greift zunächst einige allgemeine Thesen kritisch auf: So dürfe man das 19. Jahrhundert nicht abqualifizieren mit u.a. dem Vorwurf, es sei diesem nur um Geld verdienen gegangen. In Anschluss an Asthon lehnt er die „gegenwärtigen Bestrebungen, die vorindustrielle Welt zu romantisieren“, ab, wie auch die These, das vorindustrielle Europa habe „eine moralische Vorliebe für die arbeitende Bevölkerung“ geäußert. Vielmehr formuliert Hacker geradezu drastisch, das Leben vor dem 19. Jahrhundert sei „tierisch, ekelhaft und kurz“ gewesen. Das 19. Jahrhundert sei nicht inhuman gewesen, sondern erfolgreich (siehe: Gesundheitspolitik, Schulpolitik, steigende Reallöhne). Aber auch Marx' Stufenmodell oder Sombarts Stufen der kapitalistischen Entwicklung seien unzutreffend. Jedenfalls müsse Wirtschaftsgeschichte auch politische Theorie und Fiskalpolitik berücksichtigen. Schließlich diskutiert der Autor die Haltung amerikanischer Historiker zum Kapitalismus, die nur marginal auf Marx zurückzuführen sei. Amerikanische Historiker hätten sich kaum mit Ökonomie befasst, sondern rückten die politische und militärische Geschichte in den Vordergrund. Insbesondere Charles A. Beard war „eine treibende Kraft der antikapitalistischen Grundlage“. Tatsächlich resultiert der antikapitalistische Hang der amerikanischen Historiker zu einem großen Teil aus der politischen Diskussion über den Gegensatz von Hamiltonianismus und Jeffersonianismus, vereinfacht gesagt, eine schwache oder eine starke Zentralregierung. Und hier würden die meisten Historiker für Jefferson eintreten, also für „Natur- bzw. Menschenrechte“.
Den ersten Teil des Bandes schließt ein Aufsatz von Jouvenel ab, der den Umgang der Intellektuellen Europas mit dem Kapitalismus thematisiert, den diese ablehnend gegenüberstehen, weil „selbstsüchtige Menschen auf der Suche nach persönlicher Bereicherung“ seien. Nach Jouvenel zeichneten viele westliche Intellektuelle ein „verzerrtes Bild unserer wirtschaftlichen Institutionen“ und da die Historiker sich auf die westliche Intelligentsia beziehen, skizziert der Autor deren Geschichte seit dem Mittelalter. Kritisch wird dabei deren Haltung zu ökonomischen Prozessen gesehen, wobei alle möglichen Schattenseiten dem Kapitalismus zugeschoben werden.
Den zweiten Teil des Sammelbandes leitet ein weiterer Beitrag von Ashton ein, der den Lebensstandard der Arbeiter in England von 1790 bis 1830 zum Gegenstand hat. Als leitende Fragestellung fungiert, ob sich die Einführung des Fabrikwesens zum Nachteil für die Arbeiter erwiesen habe. Freimütig gibt der Autor gleich zu Beginn seine Ausgangsthese vor, er glaube, „dass die Bedingungen alles in allem besser wurden, spätestens ab 1820, und dass die Ausbreitung der Fabriken keinen unbeträchtlichen Anteil an dieser Verbesserung trug“. Dazu legt er Tabellen zu den Kosten der Grundnahrungsmittel vor speziell aus Gebieten, die „vielen als die Wiege des Fabrikwesens gilt“. Als Ergebnis formuliert Ashton abwägend, demnach es unterschiedliche Gruppen von Arbeitern gab, solche wie etwa Saisonarbeiter auf dem Land und an den Handwebstühlen, deren Einkommen gerade noch für das Nötigste im Leben reichte, während aber andere Fabrikarbeiter, und zwar die Mehrheit, von den Vorteilen des Fortschritts in den Fabriken profitierten. Der abschließende Beitrag von Hutt rückt das britische Fabrikwesen in den Mittelpunkt, weil dessen System prägend für die gesamte industrielle Revolution gewesen sei. Ein Hauptthema war die tatsächliche körperliche und moralische Verfassung der Fabrikkinder (moralisch, Fehlbildungen, Wachstumsstörungen). Im Vergleich zu den Fabrikarbeitern lebten die Landarbeiter „in erbärmlicher Armut“ und die Kinder mussten weit strapaziösere Arbeit leisten. Gerade die Lage in der Heimarbeit etwa sei noch viel dramatischer gewesen. Hutt kommt zu einer Schlussfolgerung, dass zum einen die Übel des Fabrikwesens übertrieben worden seien und zum anderen die Fabrikschutzgesetzgebung für deren Verschwinden nicht entscheidend waren. Demnach brachte die Gesetzgebung „nicht nur neue Nachteile mit sich, sondern erschwerte und behinderte Formen der Erleichterung, die natürlicher und wünschenswerter gewesen wären“.
Diskussion
Für den Historiker ist eine Publikation eher seltener Texte immer ein Positivum. Der vorliegende, vor rund siebzig Jahren veröffentlichte Sammelband, untersucht die Haltung der Historiker zum Kapitalismus aus einer streng liberalen Perspektive mit der zentralen Figur Friedrich August von Hayek. Ohne ein gewisses Maß an Vorwissen sind die vor allem zeitgenössisch aufschlussreichen Beiträge aber schwierig einzuordnen. Eine ausführlichere neue Einleitung wäre hier für den größeren Kontext einschließlich der Forschungslage zur Thematik „Kapitalismus“ hilfreich gewesen. Zentrale Fragen zu den Folgewirkungen des „Kapitalismus“ für die Betroffenen wie vor allem die Frage einer Verschlechterung oder eine Verbesserung der Lebenslagen entgegen den bekannten Verelendungsthesen werden im Sammelband aufgegriffen. Auch der zeitgenössische Hintergrund des aufkommenden Kalten Krieges in den späten 1940er Jahren ist zu vernehmen. Wer sich näher mit der Thematik der sozialen Lage der Unterschichten beim Eintritt der Industriellen Revolution beschäftigen will, dem sei ein erster Blick in Werke von Historikern wie etwa Langewiesche (Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849 ) sowie zur Situation in Deutschland Nipperdey (Deutsche Geschichte 1800–1866) und Wehler (Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1815-1848/49) zu empfehlen.
Ein Positivum ist das zusammenfassende Literaturverzeichnis am Ende des Sammelbandes. Inwieweit die behandelte Thematik des Antikapitalismus derzeit „hoch aktuell“ sei, ist angesichts der aktuellen neuen, möglicherweise weltgeschichtlich relevanten Neugruppierungen der großen Mächte mit massiven staatlichen Interventionen durchaus in Frage zu stellen.
Fazit
Der auch optisch ansprechende Sammelband mit Texten aus der Feder von Vertretern des klassischen Liberalismus ist ein anspruchsvolles Zeitdokument, das insbesondere mit der verhandelten Materie des Kapitalismus und seinen – hier durchwegs positiv konnotierten Folgen – für Interessierte und Fachleute eine bereichernde Lektüre bietet. Als Zeitdokument bringt er auch die Fachdiskussion in den USA und Großbritannien in den 1940er und 1950er Jahren näher, wobei man sich der damaligen zeitgenössischen Umstände – Aufkommen des Kalten Krieges, Totalitarismus im sog. Ostblock bewusst sein muss.
Rezension von
Dr. phil. Manfred Krapf
M.A. (Geschichte/Politikwissenschaft), Dipl. Sozialpädagoge (FH), selbstständig tätig in der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung, sozialpolitische Veröffentlichungen
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Es gibt 11 Rezensionen von Manfred Krapf.
Zitiervorschlag
Manfred Krapf. Rezension vom 06.03.2023 zu:
Hardy Bouillon (Hrsg.): Der Kapitalismus und die Historiker. Mit Beiträgen von Friedrich August von Hayek, Thomas Southcliffe Ashton, Louis Morton Hacker, Bertrand de Jouvenel, William Harold Hutt. Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2022.
ISBN 978-3-428-18778-2.
Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30017.php, Datum des Zugriffs 28.03.2023.
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