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Carmen Osten: Kindeswohlgefährdung

Rezensiert von Wolfgang Schneider, 02.03.2023

Cover Carmen Osten: Kindeswohlgefährdung ISBN 978-3-17-042112-7

Carmen Osten: Kindeswohlgefährdung. Therapiegeschichten zur Gewalt an Kindern und deren Prävention. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2022. 222 Seiten. ISBN 978-3-17-042112-7. D: 35,00 EUR, A: 36,00 EUR.

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Thema

Das Thema Kindeswohl ist präsent. Dafür sorgen vor allem medial verarbeitete Schicksale von Kindern oder Jugendlichen, denen schlimme Gewalt widerfahren ist. Wie diesen Opfern geholfen werden kann und wie sie trotz aller Schrecken häufig doch gesund in ein Leben nach den schlimmen Ereignissen leben können, davon erzählt dieses Buch.

Autor:in oder Herausgeber:in

Carmen Osten ist eine erfahrene Expertin im Kinderschutz. Die Psychologin und Psychotherapeutin arbeitet nicht nur in eigener Praxis, sondern ist auch langjährige Mitarbeiterin im Kinderschutz-Zentrum München. In diesem Kontext hat sie zahlreiche Familien in Ausnahmesituationen begleitet und kindliche Opfer nach seelischer, körperlicher oder sexueller Gewalt, die an ihnen verübt wurde, betreut.

Entstehungshintergrund

Die langjährige Arbeit der Autorin mit hoch belasteten Kindern, die teilweise Unbeschreibliches erfahren haben, ist der Grundstein für dieses Buch, mit dem der/die Leser:in mitgenommen wird auf eine Reise in die berufliche Welt der Therapeutin. Hier schreibt also eine Praktikerin, die weißt, wovon sie spricht.

Aufbau

Neben Einleitung und Anhang gliedert sich das Buch in vier Teile. Zunächst erhalten die Leser:innen grundlegende Informationen zum Thema Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung, bevor im mit Abstand längste Teil 25 Therapiegeschichten von Kindern und Jugendlichen Teil Platz finden, die in der Regel zwischen drei und fünf Seiten lang sind. Es folgen fünf weitere Therapiegeschichten von erwachsenen Klient:innen. Den letzten Teil bildet ein kurzer Erste-Hilfe-Koffer für den Kinderschutz. Im Anhang finden sich einige Kinderzeichnungen.

Inhalt

Der Hintergrundteil des Buches widmet sich Grundlagen zum Thema Kinderschutz, wenn auch in einem Werk, in dem die Therapiegeschichten im Vordergrund stehen, nur in stark geraffter Form. So gibt es zum Beispiel Ausführungen zum Thema „Gefährdungen früh erkennen und Ressourcen nutzen“ oder „Risikofaktoren kennen – Kindeswohl beurteilen“, wobei sich diese Unterabschnitte aufgrund ihrer Kürze nicht mit langen Erklärungen aufhalten, sondern überwiegend Schlagworte liefern und deswegen unscharf bleiben.

Es folgt der Hauptteil des Buches mit den Fallgeschichten: 25 über Kinder und Jugendliche, fünf über Erwachsene. Diese Geschichten umfassen nahezu alle Bereiche des Leides, das junge Menschen erfahren können. Die Autorin führt in der Regel in den Fallgeschichten den Hintergrund des/r jeweiligen Hauptakteur:in ein und beschreibt dann das therapeutische Vorgehen. Das gelingt dabei in einer auch für Laien verständlichen Sprache, so dass die Geschichten, die erzählt werden, einen guten Überblick über das Arbeitsfeld der Autorin geben.

Den Fallgeschichten folgen Handlungsempfehlungen für Erste Hilfe im Kinderschutz, was wie in der Einleitung eher oberflächlich bleibt.

Den Abschluss bilden 15 Kinderzeichnungen, die mit Minimal-Erklärungen versehen sind und teilweise beeindruckend das Leid zeigen, dem die Zeichner:innen ausgesetzt waren, aber auch Hoffnung präsentieren.

Diskussion

Die Therapiegeschichten geben einen durchaus lesenswerten Überblick über die Arbeit der erfahrenen Therapeutin und was mit guter Begleitung alles möglich ist. Aber zumindest für den fachkundigen Leser tut sich schnell ein Problem auf, das wie ein Damoklesschwert über dem ganzen Buch zu schweben scheint: Der Titel „Kindeswohlgefährdung“ will nicht so wirklich zu Therapiegeschichten passen, was beim Rezensenten während des Lesens immer wieder ein Fragezeichen hervorbrachte. Wenn Kinder und Jugendliche bereits in Therapie sind, fällt es schwer von einer Kindeswohlgefährdung zu sprechen. Denn wer Therapie bekommt, ist in der Regel nicht mehr „gefährdet“, sondern in diesem Kontext sogar eher schon geschädigt. So stellt sich die Frage, ob der Verlag den Titel so präsent aufs Cover drucken ließ, um Aufmerksamkeit mit diesem emotionalen Schlagwort zu generieren. Das wäre schade, denn darunter leidet die Darstellung der so unglaublich wichtigen Arbeit der Autorin. Wie oben beschrieben ist diese in einem Kinderschutzzentrum aktiv und hat viel mit Kindeswohlgefährdungen und deren Einschätzung oder Abklärung zu tun. Aber das gilt nicht für dieses Buch. Bis auf den allgemeinen Einstieg kommen Kindeswohlgefährdungen eben nicht vor. Es wäre entsprechend ehrlicher gewesen, den Untertitel des Buches zum Haupttitel zu machen. Zu viele Chancen, den Leser:innen weitergehende Handlungsmöglichkeiten mit auf den Weg zu geben – wie zum Beispiel die vertiefende Einordnung der Zeichnungen – werden nicht genutzt. Und das führt am Ende dazu, dass der fade Beigeschmack bleibt, dass der Verlag in dicken Buchstaben einen Begriff als Titel gewählt hat, der Reichweite verspricht. Das Wirken der Autorin und die Geschichten der Menschen hätten einen kompetenteren Rahmen verdient.

Nur an der Oberfläche kratzt auch das Einstiegskapitel, das Hintergrundinformationen will. Mag man damit aufgrund der Tatsache, dass dieses Kapitel eher nur Begleitung der Therapiegeschichten ist, noch leben können, sind einige der inhaltlichen Aussagen in diesem Bereich sehr befremdlich, wenn nicht sogar einfach falsch. So heißt es auf Seite 17 im Zusammenhang mit den Zahlen der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik über „tote und missbrauchte Kinder“: „Bestimmte gesellschaftliche Gruppen benötigen unbedingt früh einsetzenden staatliche und institutionelle Hilfen, um möglichen Schaden bereits präventiv abzuwenden“. Was soll das bedeuten? Natürlich ist ökonomische Armut ein Risikofaktor für kindeswohlgefährdendes Verhalten von Eltern, aber es ist hinlänglich bekannt, dass sich Gewalt und Missbrauch nicht an gesellschaftliche Schranken halten, sondern ein Phänomen in allen Schichten und Einkommensklassen sind. Warum dann nur „[b]estimmte gesellschaftliche Gruppen“ solche Angebote brauchen, erschließt sich nicht.

Der Erste-Hilfe-Koffer zum Ende des Buches wirkt für Fachkräfte sicherlich eher befremdend oberflächlich. Womit ein weiteres Problem angerissen ist: In der Einleitung ist eindeutig formuliert, dass es sich um eine „Pflichtlektüre für Fachkräfte im Kinderschutz“ handele. Aber welchen Nährwert ziehen diese aus einem Erste-Hilfe-Koffer, der auf anderthalb Seiten Dinge Vorgehensweisen für vier exemplarische Situationen beschrieben werden. Wer das als Fachkraft im Kinderschutz nicht weiß, sollte den Beruf wechseln! Offen bleibt auch, warum es für die Therapiegeschichten wichtig ist, Hintergrundwissen über Kinderschutz zu haben. Wären an dieser Stelle nicht Erklärungen von therapeutischen Interventionen oder eine Darstellung der Bedeutung von Beziehungsgestaltung zwischen Therapeutin und Kind?

Im Anhang finden sich teilweise bewegende Kinderzeichnungen, die aber nur mit Geschlecht, Alter und einer Minimal-Beschreibung aufwarten. Ob sie zu den Therapiegeschichten gehören, bleibt offen. Hier wäre eine fachliche Einordnung wünschenswert gewesen: Was genau sagen die Kinder mit ihren Bildern aus Sicht der Expertin mit diesen Zeichnungen? Wie werden diese Zeichnungen in die Therapie eingebunden? Das passiert leider nicht, die Leser:innen bleiben sich selbst überlassen.

Fazit

Das Buch ist wegen der teils anrührenden Therapiegeschichten lesenswert, die die Autorin in überzeugender Art und Weise darstellt. Als Gesamtpaket wirkt es aber leider eher unzusammenhängend zusammengestellt, was der Expertise und der sehr respektablen Arbeit der Autorin nicht gerecht wird.

Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 02.03.2023 zu: Carmen Osten: Kindeswohlgefährdung. Therapiegeschichten zur Gewalt an Kindern und deren Prävention. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2022. ISBN 978-3-17-042112-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30026.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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