Michael Simons: Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter
Rezensiert von Dr. Alexander Tewes, 21.11.2023

Michael Simons: Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2022.
174 Seiten.
ISBN 978-3-17-038420-0.
D: 29,00 EUR,
A: 29,90 EUR.
Reihe: Klinische Psychologie und Psychotherapie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Hrsg: Tina In-Albon, Hanna Christiansen, Christina Schwenck).
Thema und Entstehungshintergrund
Das rezensierte Buch erscheint in der Reihe „Klinische Psychologie und Psychotherapie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen“ des Kohlhammer-Verlags. Herausgerberinnen der Reihe sind Tina In-Albon, Hanna Christiansen und Christina Schwenck. Ziel dieser Buchreihe ist es, Themen der Klinischen Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie in ihrer Gesamtheit darzustellen. Zielgruppe ist vor allem der psychotherapeutische Nachwuchs. Daher werden in den Bänden besonders relevante und praxisorientierte Themen wie zum Beispiel Antragstellung, Fallbeispiele oder konkrete Gesprächsführung aufgenommen. Zum Zeitpunkt der Rezension waren sieben Bücher in der Reihe veröffentlicht und zwei weitere Veröffentlichungen geplant.
Autor
Dr. Michael Simons ist Diplom-Psychologe und Leitender Psychologe der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Universitätsklinikum Aachen. Er hat über das Thema Metakognitive Therapie (MCT) bei Kindern und Jugendlichen promoviert und hierbei in einer Studie 2006 erste Hinweise dafür geliefert, dass MCT in dieser Altersgruppe bei Zwangsstörungen erfolgreich angewendet werden könnte. Ab 2009 nahm er dann als erster und einziger deutscher Teilnehmer an einer dreijährigen „MCT-Masterclass“ unter der Leitung von Adrian Wells, dem Entwickler der MCT und Hans Nordahl in Norwegen teil.
Aufbau und Inhalt
Neben Geleitwort, Literatur und Stichwortverzeichnis ist das Buch in neun Kapitel aufgeteilt:
1. Erscheinungsbild, Entwicklungspsychopathologie und Klassifikation
Hier wird, ähnlich zu anderen Lehrbüchern, das Störungsbild der Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter umfassend dargestellt. Dabei wird auf die Diagnosestellung nach ICD und DSM eingegangen und hierbei auch die neuen Klassifikationssysteme ICD-11 und DSM-5 berücksichtigt. Des Weiteren wird das Erscheinungsbild der Störung im Entwicklungsverlauf – also über die unterschiedlichen Altersgruppen hinweg – dargestellt.
2. Epidemiologie, Verlauf und Folgen
Es werden die Prävalenzraten in verschiedenen Altersstufen und in Geschlechtsabhängigkeit erläutert. Dann werden Verlauf, Prognose, soziale und familiäre Folgen, Ziele und Behandlungserwartungen der Betroffenen und ihre Eltern skizziert.
3. Komorbidität und Differenzialdiagnostik
Wie bei vielen anderen psychiatrischen Diagnosen gilt auch hier: Komorbidität ist eher die Regel als die Ausnahme: Besonders häufig träten parallel Tic-Störungen, Angststörungen, Depressionen, PANS, Anorexia nervosa, Autismus, Psychose und Störungen des Sozialverhaltens auf.
4. Diagnostik und Indikationsstellung
Nachdem zunächst auf Ziele und Struktur des diagnostischen Prozesses eingegangen wird, stellt der Autor vor, wie Erstgespräch und Anamnese zu erfolgen haben und geht dann auf die gängigen Diagnoseinstrumente (Interviews, Fragebögen, Tagebücher) ein. Nach einer Gesamtbeurteilung der Verfahren wird dargestellt, wie die Rückmeldung der Diagnostikergebnisse und die anschließende Auswahl des Behandlungssettings (ambulant vs. stationär) zu erfolgen hat.
5. Störungstheorien und -modelle
Hier werden schulenübergreifend neurobiologische und psychologische Störungsmodelle dargestellt und bewertet. Bei den psychologischen Modellen stellt der Autor neben dem (meta)kognitiven Modell auch psychodynamische und systemische Erklärungsmodelle vor. In einer abschließenden Bewertung stellt er klar, dass aktuell lediglich für das verhaltenstherapeutische Vorgehen wissenschaftliche Evidenz vorliege.
6. Psychotherapie
Folgerichtig umfasst dieses Kapitel vor allem eine Darstellung der verhaltenstherapeutischen Methodik. Hierwerden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in einem kognitiv-verhaltenstherapeutischen und metakognitivem Vorgehen erläutert. Ein Beispielantrag für den Begutachtungsprozess im Rahmen eines Richtlinienpsychotherapieantrags soll Auszubildenden Hilfe bieten.
7. Behandlungsmodule
Im umfangreichsten Kapitel des Buches stellt Michael Simon schulenübergreifend die folgenden relevanten Behandlungsmodule vor:
a) Behandlungsaufklärung, Psychoedukation und Störungsmodell [obligatorisch]
b) Metakognitiver Umgang mit Zwangsgedanken [nur bei einem (meta)kognitiven Vorgehen]
c) Metakognitive Umstrukturierung der Überzeugungen zu den Zwangsgedanken [nur bei einem (meta)kognitiven Vorgehen]
d) Modifikationen von „einfachen“ Kognitionen [nur bei einem kognitiv-verhaltenstherapeutischen Vorgehen]
e) Exposition und Reaktionsverhinderung [obligatorisch]
f) Metakognitive Umstrukturierung der Überzeugungen zu den Ritualen [nur bei einem (meta)kognitiven Vorgehen]
g) Familienorientierte Interventionen [obligatorisch]
h) Systemische und psychodynamische Interventionen [i.d.R. unnötig]
i) Beendigung der Therapie und Rückfallprävention [obligatorisch]
Des Weiteren stellt er hier noch Möglichkeiten phamakotherapeutischer Behandlung, weitere flankierende Maßnahmen (z.B. ambulante Erziehungshilfe und Selbsthilfegruppen) und gängige Bücher und Manuale vor (z.B. Wewetzer & Wewetzer, 2019; Goletz et al. 2018 & Simons, 2019). Das Kapitel schließt mit Tipps zum Umgang mit typischen schwierigen Therapiesituationen.
8. Psychotherapieforschung
Hier stellt der Autor den aktuellen Stand der Forschung dar. So gibt er direkt an, dass „(…) empirische Belege allein für die Kognitive Verhaltenstherapie und ihre Weiterentwicklungen (Metakognitive Therapie und Akzeptanz- und Committmenttherapie)“ vorliegen (S. 149). Die meisten Patient:innen in Deutschland befänden sich jedoch in tiefenpsychologischer oder systemischer Behandlung. Neben der VT habe sich auch die pharmakotherapeutische Behandlung mit einem SSRI bewährt. Michael Simons stellt zunächst die deutschen (AWMF, 2021) und die internationalen Leitlinien (ACAAP, 2021 & NICE, 2005) vor. Alle empfehlen die KVT mit oder ohne ergänzende Pharmakotherapie als Methode der ersten Wahl. Auf methodenkritische Einlassungen geht der Autor ebenfalls ein. Abschließend geht er den Fragen nach, was Prädiktoren für einen positiven Therapieverlauf sind, wer wie schnell und in welchem Ausmaß auf die Behandlung anspricht, welche Interventionen der KVT wirksam und welche potenziell ineffektiv oder schädlich sind.
9. Zusammenfassung und Ausblick
Im abschließenden Kapitel fasst Michael Simons die zentralen Inhalte des Buchs zunächst einmal zusammen, bevor mit einem Ausblick schließt: Ursprünglich sei unter Psychoanalytiker:innen die „halb-ernst gemeinte Empfehlung“ kursiert, Menschen mit Zwangsstörungen „an Kolleg*innen zu überweisen, die man nicht mag“, da sie als besonders schwer zu behandeln gälten (S. 160). Mittlerweile gebe es jedoch genügend vielversprechende evidenzbasierte Vorgehensweisen, sodass dies nicht mehr der Fall sein müsse.
Diskussion
Wie einleitend schon erwähnt, richtet sich die Buchreihe insbesondere an Auszubildende der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Der vorliegende Band besticht durch eine klare Gliederung und eine Darstellungsweise, die sowohl den theoretischen Hintergrund als auch das praktische Vorgehen anhand vieler praktischer Fallbeispiele anschaulich darstellt. Besonders positiv hervorzuheben ist die wiederkehrende Nutzung von Humor als therapeutisch hilfreiche Methode. Diese ist nicht nur allgemeingültig wirksam, sondern insbesondere bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen eminent wichtig, da diese nicht selten ausschließlich fremdmotiviert in die Behandlung kommen. Michael Simons verdeutlicht dies immer wieder – so beispielsweise auf Seite 132, wo er einen Jugendlichen zitiert: „Ich will doch nicht, dass meine Eltern jubeln: „Toll, er ist einfach so vom Klo aufgestanden!“ – und ergänzte: „Das können Sie für Ihr Buch verwenden!“.
Auch wenn der Autor als Verhaltenstherapeut vor allem diesen Ansatz erläutert, so ist besonders positiv hervorzuheben, dass er auch vermeintlich „konkurrierende“ Ansätze, zum Beispiel die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, anschaulich skizziert, sie nicht abwertet und entsprechende Quellenangaben liefert. Auf die entsprechend fehlende Evidenz weist er vollkommen zurecht hin und erläutert, dass die (kognitive) Verhaltenstherapie laut Leitlinien die Methode der Wahl ist (vgl. AWMF, 2021). Er legt seinen Schwerpunkt in der Darstellung umfassend auf den metakognitiven Ansatz, den er selbst auch lehrt. Dies ist absolut berechtigt und innovativ, jedoch in den Leitlinien in diesem Ausmaß (noch) nicht entsprechend empfohlen.
Ich persönlich habe direkt viele hilfreiche Anregungen für eine aktuelle Therapie übernehmen können. Wer die Methode der Metakognitiven Therapie für Kinder und Jugendliche störungsübergreifend näher kennen lernen möchte, dem bzw. der sei das Buch „Metakognitive Therapie mit Kindern und Jugendlichen“ von Michael Simons (2018) empfohlen.
Fazit
Das hier vorgestellte Vorgehen ist nicht nur evidenzbasiert, sondern auch plausibel. Es wird von Michael Simons in beispielhafter Art und Weise anschaulich dargestellt, sodass es vor allem Berufseinsteiger:innen dringend ans Herz gelegt werden kann. Da auch erfahrene Therapeut:innen häufig Zwangsstörungen noch nicht leitlinienkonform behandeln, ist es auch ihnen sehr zu empfehlen.
Rezension von
Dr. Alexander Tewes
Instituts- und Ausbildungsleiter LAKIJU-VT (Lüneburger Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie), Psychiatrische Klinik Lüneburg gemeinnützige GmbH im Verbund der Gesundheitsholding Lüneburg
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