Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Edeltrud Freitag-Becker, Jan Lohl: Organisationsbeobachtung als diagnostische Methode

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 15.11.2022

Cover Edeltrud Freitag-Becker, Jan Lohl: Organisationsbeobachtung als diagnostische Methode ISBN 978-3-525-40798-1

Edeltrud Freitag-Becker, Jan Lohl: Organisationsbeobachtung als diagnostische Methode. Ein Werkstattbuch. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2022. 90 Seiten. ISBN 978-3-525-40798-1. D: 15,00 EUR, A: 16,00 EUR.
Reihe: Beraten in der Arbeitswelt.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Autor:innen

Edeltrud Freitag-Becker ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Supervision (DGSv). Die Diplom-Sozialpädagogin arbeitet als Autorin, Supervisorin und Coach sowie als Beraterin für Organisationsentwicklung.

Dr. Jan Lohl ist Diplom-Sozialwissenschaftler und Supervisor (DGSv). Er ist Professor an der Katholischen Hochschule in Mainz, wo er das Institut für Fort- und Weiterbildung leitet.

Thema

Wie „ticken“ Organisationen? Und wie gerade nicht? Wie unterscheiden sich die metaphorische Vor- und Hinterbühne? Was wird da gespielt? Was sehe wir, wenn wir Organisationen betrachten? Was sehen wir – und auch andere? – gerade nicht? Und was bedeutet das, was wir (nicht) sehen?

Mit solchen Fragen setzen sich Edeltrud Freitag-Becker & Jan Lohl auseinander. Sie stellen die Geschichte und Theorie der Organisationsbeobachtung dar und zeigen anhand branchenübergreifender Beispielen auf, welch großes Potenzial für Erkenntnisgewinn und Qualitätsentwicklung sich aus einer gelungenen Organisationsbeobachtung ergibt. Organisationen achtsam und systematisch zu beobachten hilft, Muster zu erkennen.

Es unterstützt dabei, organisationale Prozesse sowie Strukturen zu dechiffrieren, was beim Lösen etwaiger Probleme ebenso hilfreich sein kann wie bei deren prospektiver Verhinderung. Des Weiteren kann es bei der Umsetzung von Organisations- und Qualitätsentwicklungsinitiativen dienlich sein. Freilich ist das gekonnte Beobachten von Organisationen keine standardisierte Tätigkeit. Es erfordert Aufmerksamkeit und einen geschulten Blick. Es ist mithin eine Kunst, die anspruchsvoll ist, aber durchaus erlernt werden kann. Wie das geht, wird im Buch aufgezeigt.

Aufbau und Inhalt

Das 2022 bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienene Werk hat 90 Seiten und ist in 4 Kapitel unterteilt. In der Einleitung schildern die Autor:innen, dass die Methode der Organisationsbeobachtung aus der Säuglingsforschung abgeleitet sei. Dort sei mit Hilfe „des »Baby Watching« ein Zugang zu emotionalen Prozessen des noch nicht sprachfähigen Säuglings eröffnet“ worden, welche „sich nicht beobachten, aber mit geeigneten Methoden erschließen“ ließen, nämlich durch genaues Hinsehen und hinhören und erspüren (S. 9). Dieser Zugang sei dann auf die Beobachtung von Organisationen übertragen worden und werde einer deutschsprachigen Leserschaft heute u.a. in Weiterbildungsangeboten für Supervisor:innen, Coaches und Organisationsberater:innen zugänglich.

Durch Organisationsbeobachtung gewonnenen Einsichten seien, so sind Freitag-Becker & Lohl überzeugt, eine Hilfe für die Gestaltung von Organisationsberatungsprozessen. Ihr eigenes Vorgehen erläutern die Autor:innen so: „Wir wollten die Organisationen aktiver am Beobachtungsprozess beteiligen [und haben] ein Feedbackgespräch als Teil der Organisationsbeobachtung mit kontraktiert. Die Organisationen sollten unsere Diagnose als Erkenntnisgewinn und für einen möglicherweise angedachten Veränderungsprozesses nutzen können. Zudem arbeiteten wir die Methode theoretisch aus und begründeten das Vorgehen methodologisch“ (S 10). Was sehe ich, wenn ich neu, genau und mit anderen Augen hinschaue? – so lautet eine zentrale Frage der Organisationsbeobachtung, der sich die Autor:innen annehmen.

Im 1. Kapitel skizzieren Freitag-Becker & Lohl die Entwicklungshistorie der Organisationsbeobachtung und legen dar, wie sie zu der Methode kamen. Bezugnehmend auf das Wirken der Psychoanalytiker Robert D. Hinshelwood (1987) und Wilhelm Skogstadt, die in den 1980er und 1990er-Jahren medizinische Einrichtungen des britischen National Health Service aus einer psychoanalytischen Haltung heraus beobachtet hätten, erläutern die Autor:innen den Entstehungshintergrund der Methode der Organisationsbeobachtung.

Aus der methodischen und theoretischen Systematisierung dieser Beobachtungen heraus hätten die oben genannten Forscher dann ein Ausbildungsprojekt für Ärzt:innen entwickelt, das ermöglicht habe, mehr Sensibilität für den organisationalen Kontext der eigenen beruflichen Rolle zu entwickeln, schreiben Freitag-Becker & Lohl (S. 14). Die Idee, Organisationen mithilfe der Organisationsbeobachtung nicht nur in den Blick zu nehmen, sondern sie dadurch auch zu beraten, habe dann Burkard Sievers im Jahr 2006 aufgegriffen. Dieser habe hervorgehoben, „dass die Methode die Art und Weise, wie in Organisationen gedacht und gehandelt und vor allem die Realität wahrgenommen und gestaltet wird, nachhaltig verändern könnte“ (S. 17).

Wie das methodische Vorgehen der Organisationsbeobachtung ausgestaltet sein kann, thematisieren Freitag-Becker & Lohl im 2. Kapitel. Die ursprüngliche Vorgehensweise lasse sich unterteilen in die Schritte (1) Beobachten, (2) Protokollieren und (3) Auswerten. Sie selbst hätten für die Weiterbildung drei weitere Schritte hinzugefügt, nämlich die Kontaktaufnahme zur Organisation, das Zeichnen eines Organisationsbildes sowie die Rückmeldung an die Organisation. Wie diese Schritte aussehen, wird geschildert. Aus der Art und Weise, wie Organisationen mit »Eindringlingen« umgehen, ließe sich oftmals „Wesentliches über das Funktionieren von Organisationen erschließen“, schildern die Autor:innen (S. 19). Daher sei der erste Kontakt mit der Organisation von den Beobachter:innen zu protokollieren und in die Auswertung mit einzubeziehen.

Zusätzlich zur Reflexion der Kontaktaufnahme habe es sich bewährt, „dass die Beobachtenden vor der Kontaktaufnahme ein Organisationsbild anfertigen, d.h. die Gebäude- oder Raumstruktur der Organisation von außen auf sich wirken lassen und anschließend ein Bild davon malen“. Solche bildhaften Repräsentationen böten einen guten „ersten Zugang für die Auseinandersetzung mit der unbewussten Dimension einer Organisation“ (ebd.)

Die Beobachtung sollte stets vom selben »Sitzplatz« aus erfolgen, wobei an drei Terminen je 1. Stunde beobachtet werden könne. Das sei sinnvoll, da diese perspektivische Konstanz den Beobachtenden helfe, „die Rolle und Haltung des Beobachters einzunehmen und zu entwickeln“ (S. 20). Wesentlich sei dabei, dass „während der Beobachtung selbst nichts notiert wird“. Die Beobachtenden hätten nur die Aufgabe, „zu registrieren, was um sie herum in der Organisation, aber auch – und das ist wichtig – in ihr selbst geschieht“ (ebd.). Es gehe darum, Gedanken und Phantasien zu erfassen und zu eruieren, welche Gefühle die Beobachtenden verspüren. Kurzum gehe es darum, „eine Haltung gleichschwebender Aufmerksamkeit einzunehmen, in der jenseits von Deutung und Verstehen die äußere Organisationsrealität und die innere Erlebnisrealität der Beobachtenden bewusst wahrgenommen wird“ (ebd.). Nach den Beobachtungseinheiten werde mittels eines Protokolls dann alles notiert, an was die Beobachtenden sich erinnern. „Festgehalten werden hierbei äußere Ereignisse und innere Erlebnisse, wobei Interpretationen und Wertungen zu vermeiden sind“ (ebd.).

Vollständigkeit oder Genauigkeit seien dabei nicht das Ziel, es gehe schlicht um die Darlegung intuitiver Wahrnehmung. Das Protokoll vermittele „einen subjektiven Blick auf die Organisationsrealität“ und erhalte „vielleicht die besondere Betonung eines Ereignisses, während andere nur beiläufig geschildert werden und bestimmte Personen deutlicher hervortreten als andere“ (S. 21). Dadurch würden „Verbindungen geschaffen oder Akzentuierungen gesetzt, die nach der empirisch begründeten Annahme der Organisationsbeobachtung nicht allein auf die Subjektivität der Beobachtenden zurückzuführen sind, sondern gleichermaßen bedeutende Informationen über die Organisation und ihre Kultur enthalten und daher von unschätzbarem Wert für eine psychoanalytisch orientierte Auswertung“ seien (ebd.), welche daraufhin dann folge.

„So pendelt die Arbeit mit den Protokollen zwischen dem manifesten Text und der Selbstbeobachtung hin und her“, schreiben Freitag-Becker & Lohl (ebd.). An die Auswertung schlössen sich zwei weitere Beobachtungs- und Auswertungseinheiten an. Diese dienten „der Präzisierung, Ergänzung oder dem Verwerfen der gebildeten Hypothesen, aber auch der Entwicklung neuer Hypothesen“ (S. 22). Geboten sei es dann, eine Rückmeldung an die beobachtete Organisation zu geben, dem sozialen System also die gewonnenen Erkenntnisse zur Verfügung zu stellen. „Hierbei schlüpfen die Beobachtenden tendenziell in die Rolle von Supervisor:innen, die ihre Wahrnehmung nicht nur zur Verfügung stellen, sondern sich als Partner:innen anbieten, diese in ihrer Bedeutung für die Organisation auch verstehend zu vermitteln“, sind Freitag-Becker & Lohl überzeugt (ebd.).

Von großer Bedeutung sei dabei „eine hohe situative Sensibilität und kommunikative Kompetenz“. Hinsichtlich der Erkenntnisbildung habe „die Rückmeldung an die Organisation zudem die Funktion einer kommunikativen Validierung und dient somit der Evaluation der Ergebnisse und des Beobachtungsprozesses“, meinen die Autor:innen (ebd.). Was aber meint es konkret, zu beobachten? Was zeichnet das aus? Beobachtung sei, so spezifizieren Freitag-Becker & Lohl (S. 23), „eine zielgerichtete aufmerksame Wahrnehmung von Objekten, Situationen und Vorgängen durch eine Beobachter:in“. Kennzeichnend dafür sei die Teilnahme an der Praxis, über deren Handeln und Denken Daten erzeugt würden.

Dabei sei „die Annahme leitend, dass durch die Teilnahme an Face-to-Face-Interaktionen bzw. die unmittelbare Erfahrung von Situationen, Aspekte des Handelns und Denkens beobachtbar werden, die in Gesprächen und Dokumenten […] über diese Interaktionen bzw. Situationen nicht in dieser Weise zugänglich wären“, schildern die Autor:innen (ebd.) bezugnehmend auf Marotzki (2006, S. 151). Organisationsbeobachtung im Speziellen sei eine „offene, nicht aktiv teilnehmende Form der Beobachtung, die während eines vereinbarten Zeitrahmens in einer Organisation erfolgt“ (S. 24). Die Beobachtenden seien zwar in der Organisation anwesend, nähmen aber keine Rolle im Feld ein und interagierten nicht mit.

Bezugnehmend auf Darlegungen von Stefan Kühl schildern Freitag-Becker & Lohl, dass im Hinblick auf die Sicht auf Organisationen zwischen der formalen Seite einer Organisation (Aufbauorganisation), deren Binnensystem (Ablauforganisation) und dem Aufhübschen der Außenfassade (Was präsentiert werden soll) unterschieden werden könne. Eingehend auf Irving Goffmanns Bühnenmetapher heben die Autor:innen hervor, dass daran deutlich werde, „dass die Komplexität von Prozessen und Dynamiken in Organisationen sich leichter über poetische Muster beschreiben lassen und dadurch lebendiger werden“ (S. 25).

Oswald Neuberger schließlich beschreibe drei unterschiedliche Bühnen des Organisationstheaters, nämlich (1) die Vorderbühne, (2) die Hinterbühne und (3) die Unterbühne, über die sich das Handeln von und in Organisationen konstituiere. „Eingebunden in psychodynamische Theorien konzentriert sich die Organisationsbeobachtung als diagnostisches Instrument auf das Gewahrwerden der Dynamik zwischen den verschiedenen Bühnen“, schreiben Freitag-Becker & Lohl (S. 26). Zusammenfassend lasse sich als Ziel der Organisationsbeobachtung schließlich „das Gewinnen von Einsichten in »die Kultur einer Institution« beschreiben“ (S. 29), wobei diese Kultur immer ein System von Einstellungen, Gefühlen und Beziehungen sei, „das nicht allein auf individuelle psychische Dynamiken zurückzuführen ist, sondern auf eine kollektive Sinnstruktur hinweist, in der sich organisationales Geschehen ausdrückt“ (S. 30).

Wie diese Aspekte in einem sorgsam erstellen Protokoll niedergeschrieben, wie sie analytisch verarbeitet sowie interpretiert werden können und wie die Ergebnisse letztlich auch zu kommunizieren seien, wird detailliert erläutert (S. 31–44). Als besonders wirksames Werkzeug benennen Freitag-Becker & Lohl die Arbeit mit Metaphern.

„Ein Beispiel für eine konzeptuelle Metapher wäre etwa die Organisation als Maschine (Morgan, 1986). Hier wird die Vorstellung von der Organisation (bildempfangener Bereich) als Maschine (bildspendender Bereich) konzeptionalisiert. Wird diese Metapher in der Organisation wirksam, dann werden vielleicht die Mitarbeitenden als Rädchen im Getriebe bezeichnet, es wird festgestellt, dass ein Arbeitsprozess wie geschmiert funktioniert, der Betrieb nicht richtig rund läuft oder es im Getriebe stockt. Derartige konzeptuelle Metaphern können das Denken und Handeln der Mitarbeitenden einer Organisation auf eine kollektiv geteilte Weise strukturieren und finden auf einer Handlungsebene sprachlich und gestisch Ausdruck“ (S. 46).

Metaphern eigneten sich, um das, wovon man nicht sprechen kann, bildlich repräsentativ auszudrücken. Mit ihrer Hilfe sei es möglich, Dinge anzusprechen, ohne sie in Worten direkt anzusprechen (was Konflikte und Abwehr erzeugen könnte). „Die Arbeit mit und die Analyse von Metaphern eignet sich daher dazu, kreative Prozesse anzustoßen, indem Unbewusstes bewusst in neues Denken, Handeln und Fühlen eingebracht wird“, sind Freitag-Becker & Lohl überzeugt(S. 48).

Organisationsbeobachtungen in der Praxis sind Thema des 3. Kapitels. Hier wird anhand von 4 Organisationsbeobachtungen deutlich gemacht, wie man sich diese konkret vorstellen könne, was in ihnen wann von wem wie getan werde und wie die Datenauswertung vonstattengehen könne. Das, was in den vorherigen Kapiteln noch eher theoretisch präsentiert wurde, wird hier mit beispielhaftem Bezug deutlich gemacht. Bei den beobachteten Organisationen, die beschrieben werden, handelt es sich um einen inhabergeführten Bioladen, eine Stadtbibliothek, ein homöopathisches Labor und ein Architekturbüro. Die Organisationsbeschreibungen erfolgen von Personen, die bei den Autor:innen eine Weiterbildung absolviert hatten.

Geschildert wird in allen Fällen, um was für eine Organisation es sich handelt, was deren etwaige architektonischen, visuellen, technischen Besonderheiten usw. sind und welche Wirkungen diese bei den Beobachtenden erzielten. Die Beobachtenden, die sich selbstreferenziell auch beim Beobachten beobachten, legen nicht nur die eigenen Eindrücke und Empfindungen dar, sondern schildern auch die Resonanz der Mitglieder ihrer jeweiligen Supervisionsgruppen, in denen sie ihre Beobachtungen vorstellen. Die Bedeutung solcher Supervisionen als Resonanzraum, in dem reflektiert und inspiriert werden kann, was man selbst (nicht) sieht, was andere anhand der Schilderungen aber vielleicht sehen, wird hier deutlich. Jede der 4. Organisationsbeobachtungen schließt mit einer Hypothesenbildung im Hinblick auf die Organisationskultur sowie auf die Ziele und Probleme der Organisation, was den jeweiligen Organisationen im Rahmen eines Feedbacks dann auch zurückgemeldet worden sei.

Im 4. und letzten Kapitel schildern Freitag-Becker & Lohl nochmals, dass und warum die Organisationsbeobachtung für sie ein wichtiges Instrument in der Qualifizierung von Berater:innen wie auch in der eigenen Beratungspraxis geworden sei. „Sind die Sinne einmal geschärft und der Forscher:innengeist geweckt, finden sich genügend Objekte, Stimmungen, Dynamiken etc. die für die Vordiagnose und einen anschließenden Beratungsprozess dienlich sind“ (S. 84). Die heutige Welt bringe es mit sich, dass Organisationen sich nicht mehr hinter hohen Mauern versteckten und von außen kaum zugänglich seien. Vielmehr sei es so, dass ihre Strukturen, Abläufe und sogar Geschäftsberichte oftmals im Internet einsehbar seien und sich im Netz verfolgen ließen. Diese Art der Transparenz, die Schauseite, gewähre aber nur einen teilweisen Blick auf die jeweiligen Organisationskulturen und -strukturen. Denn „je attraktiver und glänzender die »Schauseite« von Organisationen gestaltet wird – dass, was man sehen soll – umso mehr entsteht die Vermutung, dass es etwas zu verdecken gibt“ (S. 84). Die Spannung zwischen Inszenierung und realem So-Sein werde „von den Mitarbeitenden seismografisch erfasst und manifestiert sich in entsprechenden Verhaltensweisen“ (ebd.)

Mittels Organisationsbeobachtung sei es möglich, sich Zeit zu nehmen, achtsam zu sein, genau hinzusehen und dadurch auch das zu beschreiben, was dem ersten Blick vielleicht entzogen sei und erst mit Abstand – von einem bestimmten Beobachtungspunkt raus – erfasst werden könne. Die Erkenntnisse systematisch aufzubereiten und zu spiegeln, die aus dem Beobachten des Verdeckten und Unbewussten der Organisation gezogen werden können, sei hilfreich für die Organisation. Es diene dazu, dortige Prozesse besser zu verstehen, sie im Bedarfsfall zu ändern oder auch zu erfassen, woran Änderungen in der Vergangenheit gescheitert seien. In jedem Fall sei es so, dass Organisationen davon profitieren können, wenn jemand kommt, der etwas sieht, was die Organisation selbst nicht sehen kann (oder nicht sehen will). Wie das gelingen kann, schildern Edeltrud Freitag-Becker und Jan Lohl in ihrem Buch.

Diskussion

Was lässt sich zum hier vorgestellten Werk nun festhalten? Zunächst einmal, dass das Buch gut geschrieben ist und aufgrund des geringen Umfangs eine kurzweilige Lektüre verspricht. Man kann es problemlos an einem Nachmittag durchlesen. Der Untertitel des Buches „Ein Werkstattbuch“ ist Programm, weil es tatsächlich als solcher daherkommt: Als Anleitung, wie man es machen kann, wie sich gekonnt vorgehen lässt, um Organisationen zu beobachten und das Maximum an relevanten Erkenntnissen aus dieser Beobachtung zu ziehen. Das Buch ist genuin anwendungsorientiert. Es basiert zwar auf wissenschaftlichen Grundlagen, liest sich – zum Glück – aber nicht wie ein wissenschaftliches Fachbuch. Das liegt neben der Tatsache, dass auf Schachtelsätze und komplizierte Formulierungen verzichtet wird, vor allem daran, dass die Beispiele für mögliche Organisationsbetrachtungen im Text so vielfältig sind.

Da wird ein Bioladen ebenso unter die sprichwörtliche Lupe genommen wie eine Stadtbibliothek. Ein homöopathisches Labor wird genauso betrachtet wie die Bedeutung und Wirkung der Toilette in der Mitte eines Architekturbüros. Ungewöhnlich ist das zweifellos, mit Sicherheit aber ist es lesenswert. Wer sich mit Organisationsentwicklung und Qualitätsmanagement befasst, dem kann die Lektüre daher empfohlen werden. Wer z.B. im Rahmen einer LQW-Begutachtung eine Organisationsbeschreibung vornehmen wollen, profitiert von den Anregungen im Text ebenso wie Sozialforscher:innen, die sich näher mit dem Agieren von und in Organisationen befassen.

Etwas verwundert hat den Rezensenten nur, dass diverse Klassiker der Organisationsforschung, die sich mit der Schauseite von Organisationen, mit der Beobachtung von Organisationskultur, mit organisationalen Paradoxien, Heucheleien und Tabus in Organisation befassen, seitens der Autor:innen gar nicht aufgegriffen werden. Verweise auf die Werke von James March, Karl Weick, Nils Brunsson, Herbert Simon und Edgar Schein fehlen im Text. Überdies ist die Zuordnung der Begrifflichkeit der „organisierten Anarchie“ zu Oswald Neuberger (S. 25) insofern fragwürdig, als das Konzept der »organized anarchy« bereits 1972 von Cohen, March & Olsen in ihrem wegweisenden Artikel „A garbage can model of organizational choice“ aufgegriffen wurden.

Auch wird es im Sensemaking-Konzept von Karl Weick (1995) reflektiert, das zu kennen für Menschen, die sich für Organisationsbeobachtungen interessieren, nur empfohlen werden kann. Dem Rezensenten ist allerdings bewusst, dass in einem Buch von gerade mal 90 Seiten nicht umfassend auf alle Quellen eingegangen werden kann, die zu zitieren (auch noch) erkenntnisreich hätte gewesen sein können. Von daher ist das Fehlen der oben genannten Verweise kein metaphorischer „Beinbruch“. Es mindert das Lesevergnügen nicht.

Fazit

Edeltrud Freitag-Becker und Jan Lohl haben mit Organisationsbeobachtung als diagnostische Methode ein kurzweiliges, informatives, gut zu lesendes und nie langweiliges kleines Werk vorgelegt. Das Buch hält manche Anregungen und Inspirationen dafür parat hält, was für vielfältige Erkenntnisse sich aus vermeintlichen Banalitäten ziehen lassen, wenn man diese achtsam beobachtet und sich irritierbar hält. Organisationsentwickler:innen, Berater:innen, Supervisor:innen und Qualitätsmanager:innen kann die Lektüre empfohlen werden.

Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
Website
Mailformular

Es gibt 43 Rezensionen von Christian Philipp Nixdorf.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Christian Philipp Nixdorf. Rezension vom 15.11.2022 zu: Edeltrud Freitag-Becker, Jan Lohl: Organisationsbeobachtung als diagnostische Methode. Ein Werkstattbuch. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2022. ISBN 978-3-525-40798-1. Reihe: Beraten in der Arbeitswelt. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30028.php, Datum des Zugriffs 05.10.2023.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht