Hedda Lausberg: Der Körper in der Psychotherapie
Rezensiert von Prof. Dr. Margret Dörr, 29.03.2023
Hedda Lausberg: Der Körper in der Psychotherapie.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2022.
127 Seiten.
ISBN 978-3-17-030147-4.
D: 24,00 EUR,
A: 24,70 EUR.
Reihe: Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik. Herausgegeben von Michael Ehrmann und Dorothea Huber.
Thema
Der menschliche Körperausdruck – Mimik, Gestik, Haltung, Gang, Stimme – ist allgegenwärtig. Doch obgleich der Zusammenhang zwischen Bewegungsverhalten und psychischen sowie interaktiven Prozesse seit jeher von wissenschaftlichem Interesse ist, hat sich bisher keine eigenständige Wissenschaft des expliziten und impliziten Bewegungsverhaltens herausgebildet. Stattdessen beforschen unterschiedliche Disziplinen diese Phänomene, ohne hinreichend in einem wissenschaftlichen Austausch miteinander zu stehen, wodurch das Potenzial interdisziplinärer Forschung nicht ausgeschöpft wird. Der vorliegende Band unternimmt die Anstrengung, Wissensbestände aus dem Bereich der Psychotherapie, Psychosomatik und Psychiatrie zusammenzutragen und zugleich durch Befunde aus anderen Fachdisziplinen zu bereichern.
Autorin
Hedda Lausberg (Dr. med.) ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und seit 2009 als Professorin für Neurologie, Psychosomatische Medizin und Psychiatrie an der Deutschen Sporthochschule Köln tätig. Sie forscht zur Neuropsychologie expressiven Bewegungsverhaltens.
Aufbau
Das Buch ist in fünf Vorlesungen gegliedert, die 2015 auf den Lindauer Psychotherapiewochen als Vorlesungsseminar vorgetragen wurden und vermittelt der Leserschaft „einerseits empirisch fundiertes Wissen über Körperausdruck als auch andererseits Anregungen für [die] therapeutische Praxis.“ (S. 10)
Die Vorlesungen behandeln folgende Themen
- Körperausdruck: Historischer Überblick und Grundlagen
- Die Unbewusstheit nonverbalen Verhaltens und die therapeutische Relevanz
- Gesten und ihre Relation zu Sprache und zu nichtsprachlichen, kognitiven Funktionen
- Gesten in der Psychotherapie und
- Selbstberührung und andere Handbewegungen in der Psychotherapie.
Inhalt
Die 1. Vorlesung vermittelt einen knappen historischen Überblick über bisherige Ergebnisse zu den Forschungsgegenständen „Mimik, Gestik und Haltung“ und erläutert, dass „die einzelnen Ausdruckskategorien mit spezifischen psychischen Prozessen assoziiert sind“ (16), die durch die Neuropsychologie bestätigt werden konnten. Während emotionale Mimik durch das Hypothalamus/​emotionales Netzwerk und Basalganglien gelenkt wird, werden „gestische Ausdrucksbewegungen der Hände fast ausschließlich von der motorischen Hirnrinde Kortex) des Großhirn“ (17) gesteuert, diese repräsentieren primär kognitive Prozesse. Dagegen reflektiert eine Haltung eher „die überdauernde affektiv getönte Einstellung einer Person, die aber situativ variieren kann.“ (19) Mit ihren Ausführungen bezüglich spezifischer Schwierigkeiten bei der Deutung expressiven Bewegungsverhaltens verweist die Verfasserin auf die Notwendigkeit für Psychotherapeut:innen, sowohl mittels Selbsterfahrungen ihre impliziten Wahrnehmungen und Reaktionen differenziert und explizit zu identifizieren als auch sich objektives empirisches Wissen zu nonverbalem Verhalten anzueignen. Da das expressive Bewegungsverhalten von universellen, kulturellen und individuellen Faktoren gleichermaßen beeinflusst wird, ist es für eine psychotherapeutische Praxis erforderlich, kulturelle Ausdruckskomponenten insbesondere dann zu lernen, wenn Patient:in und Therapeut:in aus unterschiedlichen Kulturen kommen. Individuelle Ausdruckskomponenten von Patient:innen können bei längerem und wiederholtem Kontakt identifiziert und ihre Bedeutung durch die Analyse des Kontextes erschlossen werden.
Die 2. Vorlesung widmet sich der Unbewusstheit nonverbalen Verhaltens und der therapeutischen Relevanz. Verdeutlicht wird in diesem Kapitel, dass nonverbales Ausdrucksverhalten in der Regel implizit, d.h. jenseits bewusster Kontrolle ausgeführt wird, und implizite Reaktionen schneller als explizite erfolgen, was auf neuropsychologische Gegebenheiten basiert. Diese Differenzen führen dazu, dass Interaktionspartner:innen (eben auch Patient:innen) sehr gut zwischen willentlichen Signalen und impliziten Ausdrucksverhalten unterscheiden können. Zudem können – wie Hedda Lausberg darlegt – zahlreiche Studien darauf verweisen, dass Interaktionspartner:innen nicht nur eine formale, sondern auch eine temporale Abstimmung ihres nonverbalen Verhaltens zeigen. Während die unbewusste Synchronisation erwartbar ein Gefühl der Gemeinsamkeit entstehen lässt, kann eine bewusst initiierte Synchronisation aufgrund der zeitlichen Verzögerung zu Irritationen führen. Ebenso aber können unbewusste interaktive kineso-psychische Muster destruktive oder unproduktive Beziehungen konsolidieren. Mit dem Vergleich der nonverbalen Interaktion mit einer Tanzimprovisation wird die hohe Relevanz einer Sensitivität – sowohl bezüglich des Gegenübers als auch der eigenen Person – (Passungskompetenz) in psychotherapeutischen Beziehungen anschaulich.
In der 3. Vorlesung werden Gesten und ihre Relation zu Sprache und zu nichtsprachlichen kognitiven Funktionen beleuchtet, deren Bedeutung für die praktische Arbeit empirisch umfassend erforscht sind. Wie die Autorin entlang zahlreicher neuropsychologischer Studien zeigt, scheinen spontane Gesten, die ebenfalls überwiegend implizit generiert werden – neben Sprache –, „inhärenter Teil des gedanklichen Ausdrucks bei Menschen zu sein.“ (55) Dabei ist es experimentell gut belegt, dass Sachverhalte in Gesten, die überwiegend in der rechten Hemisphäre generiert werden, sprachunabhängig korrekt dargestellt werden. Dagegen wird Sprache primär in der linken Hemisphäre produziert, sodass aufgrund dieser neuronalen Organisation Widersprüche – auch bei emotionalen Problemen – zwischen gestischen und verbalen Aussagen auftreten können. Wesentliche Forschungsergebnisse zusammenfassend resümiert die Autorin, dass die „Produktion von Gesten mit nichtsprachlichen Prozessen wie räumlichem Denken, metaphorischem Denken, bildlichem Vorstellen sowie emotionalem Erleben assoziiert sein“ (66) können.
Die 4. Vorlesung erläutert den hohen Bedeutungsrang von Gesten in der Psychotherapie. Hedda Lausberg kann darin überzeugend verdeutlichen, welch „wertvolle Einsichten in die bildlichen Vorstellungen und das emotionale und sinnliche Erleben des Patienten“ (68) den Psychotherapeut:innen bieten, und diese implizite (unbewusste) Ausdrucksweise, in Ergänzung zu den verbal vermittelten Informationen, ein tieferes Verständnis der Patient:innen ermöglicht, auch dann, wenn sich diese beiden Weisen widersprechen. Dabei sei es von besonderem Interesse, dass eine bildliche Vorstellung zunächst gestisch – also unbewusst - und erst zu einem späteren Zeitpunkt verbal ausgedrückt werden kann. Anschließend werden spezifische Gestentypen (u.a. Betonungsgesten, Präsentationsgesten, egozentrische Zeigegesten, Raumpräsentationsgesten) und ihre jeweilige Bedeutung für die Psychotherapie bildhaft illustriert. Auch diese Vorlesung endet mit dem Hinweis auf die Wichtigkeit von Videoaufzeichnungen für die (Selbst)Supervision, damit Psychotherapeut:innen ihre eigenen, eher nicht bewussten, bildlichen Vorstellungen im therapeutischen Prozess identifizieren lernen.
In der 5. Vorlesung thematisiert die Autorin Selbstberührungen und andere Handbewegungen in der Psychotherapie, die ebenfalls bereits seit geraumer Zeit (bereits bei Freud) Gegenstand empirischer (experimenteller) Untersuchungen sind. Hierbei unterscheidet sie zwischen psychisch und körperlich motivierten Selbstberührungen und macht ebenso auf signifikante kultur- und geschlechtsspezifische Berührungspraktiken aufmerksam. Differenziert bezieht sie sich auf das NEUROGES® – Analysesystem für nonverbales Verhalten und Gesten und erläutert anschaulich die verschiedenen Fokuskategorien. Die psychischen selbstregulierenden Funktionen von phasischen, repetitiven und irregulären Selbstberührungen werden detailliert aufgezeigt sowie das psychotherapeutische Potenzial ausgelotet, wenn Selbstberührungen als Gegenstand psychotherapeutischer Diagnostik genutzt werden. So treten zwar alle Formen der Selbstberührung bei als psychisch gesund bezeichneten Menschen auf, bei als psychisch krank diagnostizierten Menschen nehmen – so zeigen Forschungsergebnisse – irreguläre Selbstberührungen zu und bei Besserung wieder ab.
Diskussion
Die Autorin Lausberg beantwortet in ihrem Buch zentrale Fragen einer psychotherapeutischen Praxis und weist dazu dem Körper, mithin den (impliziten) nonverbalen Gesten, einen hohen Rang zu. Damit nimmt sie eine Perspektive ein, die in Deutschland von den mehrheitlich verbalorientierten Psychotherapieschulen noch immer viel zu wenig Beachtung geschenkt wird. In fünf Vorlesungen informiert Lausberg kompakt und in einer klaren Sprache über neuropsychologische Forschungsergebnisse. Sie erläutert gut nachvollziehbar, mit welchen spezifischen psychischen Prozessen Mimik, Gestik und Haltung assoziiert sind, stellt universelle, kulturelle und individuelle Komponenten expressiven Bewegungsverhaltens dar und gibt anschauliche Beispiele über die Zuverlässigkeit intuitiver Deutungen von Körperausdruck. Indem Hedda Lausberg die – auch neuropsychologisch nachgewiesenen – Differenzen zwischen unbewusster und bewusster nonverbaler Interaktion charakterisiert, vermag sie auf zentrale oft irritierende Dynamiken in Interaktionen aufmerksam zu machen, da Interaktionspartner:innen absichtsvoll eingesetzte nonverbale Interaktion mindestens intuitiv bemerken, was den Aufbau vertrauensvoller Beziehungen behindert. Erhellend sind zudem sowohl ihre Informationen zur Produktion von Gesten in Relation zu nichtsprachlichen kognitiven sowie emotionalen Prozessen und in Abgrenzung zu Sprache als auch die instruktiven Erläuterungen zu den psychischen Funktionen differenter Typen von Selbstberührungen. Sehr eindringlich plausibilisiert die Autorin die unabdingbare Notwendigkeit von auf den eigenen Körperausdruck bezogener Selbsterfahrung, um eigene, nicht bewusste Mimik, Gestik und Haltung besser kennenzulernen. Für die Leserschaft wird das Verständnis bezüglich der Bedeutung von Körperausdruck in der Psychotherapie dadurch erleichtert, da prägnante Zusammenfassungen die jeweiligen Inhalt der Vorlesungen bündeln und bildliche Darstellungen und kurze Sequenzen aus der Behandlungspraxis den jeweiligen Themenbereiche konkretisieren.
Fazit
Das Buch ist für Psychotherapeut:innen unabhängig ihrer spezifischen Ausrichtung – nicht nur in der Ausbildung – ein enormer Gewinn. Empfehlenswert sind die prägnanten und sprachlich anschaulichen Vorlesungen von Hedda Lausberg aber ebenso für Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die davon überzeugt sind, dass eine hinreichend gelingende emotionale Abstimmung – die der Körperausdruck signalisiert – die Basis ihrer Praxis ist. Folglich ist dem Buch eine breite Leserschaft zu wünschen.
Rezension von
Prof. Dr. Margret Dörr
Professorin (i. R.) für Theorien Sozialer Arbeit, Gesundheitsförderung an der Katholischen Hochschule in Mainz, Fachbereich Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften.
Arbeitsschwerpunkte: Affektabstimmungsprozesse in der Sozialpsychiatrie (BMBF-Projekt)‚ Psychoanalytische (Sozial)Pädagogik, Gesundheitsförderung.
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Zitiervorschlag
Margret Dörr. Rezension vom 29.03.2023 zu:
Hedda Lausberg: Der Körper in der Psychotherapie. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2022.
ISBN 978-3-17-030147-4.
Reihe: Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik. Herausgegeben von Michael Ehrmann und Dorothea Huber.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30033.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
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