Hannelore Bublitz: Die verborgenen Codes der Erben
Rezensiert von Dr. Dieter Korczak, 16.03.2023

Hannelore Bublitz: Die verborgenen Codes der Erben. Über die soziale Magie und das Spiel der Eliten.
transcript
(Bielefeld) 2022.
225 Seiten.
ISBN 978-3-8376-6356-3.
D: 25,00 EUR,
A: 25,00 EUR,
CH: 31,60 sFr.
Reihe: Sozialtheorie.
Thema
Es geht in diesem Buch um die Mechanismen des sozialen Aufstiegs. Es geht um die Praktiken zur Sicherung der Machtposition von gesellschaftlichen Eliten. Es geht um immaterielle, soziale und symbolische Übertragungsprozesse, die vererbt und zum psychischen Kapital werden. Hannelore Bublitz sieht in diesen Mechanismen eine Re-Feudalisierung der Gesellschaft und die Verhärtung sozialer Ungleichheit.
Autorin
Hannelore Bublitz ist emeritierte Professorin für Soziologie an der Universität Paderborn. In ihrer ersten Veröffentlichung 1980 hat sie sich mit Arbeitertöchtern an der Hochschule befasst und damit bereits am Anfang ihrer Karriere einen Einstieg in die Problematik vorgenommen.
Aufbau
Bublitz organisiert ihr Essay in Kapiteln, denen sie jeweils „Passagen“ voranstellt. Diese Bezeichnung ist als Text- oder Musikpassage bekannt, aber auch als Lektion beim Dressurreiten. Bei ihr weisen die Passagen als Lektionen in romanhaft-fiktiver Form auf die folgenden wissenschaftlichen Aussagen hin. In den Kapiteln erörtert sie soziale Unterschiede, Erben und Aufsteiger, symbolische Macht. Kapitel 5 ist „Fette Beute oder Reichtum to go“ tituliert, das sich intensiv mit dem Phänomen der Re-Feudalisierung, der Standes bezogenen Verfestigung von Herkunft, befasst. Die Schlusskapitel handeln vom Aufstiegsversprechen und der De-Mystifikation sozialer Ungleichheit.
Inhalt
Der erste Satz der Einleitung lautet: „Kann man sich neu erfinden?“ (9) Das ist in der Tat eine spannende Fragestellung, vor allem für Menschen, die sich nach einem sozialen Aufstieg sehnen. Der Weg zum Aufstieg wird geebnet durch Bildung – aber nein, dies ist nur scheinbar die Leiter zum Erfolg, sondern vielmehr durch „sorgsam gehütete Methoden zur Aufnahme in die Gemeinschaft der >Auserwählten<“ (11). Als solche kennzeichnete Bublitz schon 1992 die Gruppe der Erben. Die Fertigkeit, bestimmte Signale, Verhaltensweisen, Sprach- und Reaktionsmuster zu beherrschen und an Anderen de-codieren zu können, öffnet die Tür zur Rekrutierung als Elite. Die mediale Präsentation von „Überfliegern“ und „Selfmade-Millionären“ lenkt nur davon ab, dass die Schlüssel zum sozialen Aufstieg woanders verborgen sind.
Bublitz bezieht sich in ihren Ausführungen durchgehend auf Bourdieu. Sie greift seine Beschreibung des kulturellen Kapitals auf, das quasi beiläufig familiär vererbt wird. Dadurch werden alle Menschen zu Erben – die einen erben Vermögen, Status und Eleganz, die anderen Prekarität und (kulturelle) Mittellosigkeit. Im Zentrum der Betrachtung von Bublitz stehen daher die >magischen Operationen< der Reproduktion und Sicherung von Macht. Der ererbte Habitus, die Strategie, Abstände aufrechtzuerhalten, bremst den Traum von einem anderen Leben, den die Unterprivilegierten möglicherweise verfolgen, aus. Im Extremfall führt dies zur De-Realisierung des >Anderen<. (Judit Butler 2005)
„Nach Bourdieu sind die Haltung zur Welt und der Habitus… Teil einer Hinterlassenschaft, die, obwohl sozial vererbt und übertragen, natürlich wirken.“ (80) Das kulturelle und soziale Erbe wird den Erben als Vermächtnis quasi eingeflößt. Bourdieu greift immer wieder auf religiöse Metaphern zur Beschreibung der Auswahl der Eliten zurück, die für ihn in magisch-mythischen Formen der Konstitution sozialer Wirklichkeit erfolgt. Rationalität ist somit auch ein Mythos. Nicht die Rationalität sichert den Platz an der Macht, sondern das Beherrschen eines bestimmten Zeichensystems. Dieses Zeichensystem hat Bourdieu offenbar lange selbst nicht beherrscht oder sich bewusst dagegen gewendet, wie er in seinem „soziologischen Selbstversuch“ (2002), in der eigenen Entwicklung vom Provinzkind zum Wissenschaftsfürsten beschreibt.
Bourdieu „verortet das Subjekt und seinen Habitus auf einer Karte der gesellschaftlichen Macht, auf der nur jemand mit Distinktion und akkumuliertem Kapital ausgestattet ist und aufgrund seiner Machtposition autorisiert ist, sein Auftreten wirkungsvoll einzusetzen“ (161). Distinktionen beruhen auf der Inkorporierung derjenigen Verteilungsstrukturen des Kapitals, die anerkannt sind. Sie sind Ausdruck einer privilegierten Stellung im Raum. Die Distinktionstheorie bietet einen neuen Zugang zur Analyse der symbolischen Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit. In der Beschreibung des „Reichtums to go“ und der inhärenten Strategien der Privilegiensicherung zieht Bublitz dann auch exemplarisch Karl Marx (Kritik der Politischen Ökonomie) und Neckels These der Re-Feudalisierung heran. Bublitz erweitert die Reichweite der Re-Feudalisierung auf die Plattformen und (Clip-)Ästetiken der (Selbst)Repräsentation. Durch Medien wie Instagram inszenieren sich die Reichen mit einem ästhetischen Arrangement, das von ihrem Status und Habitus her erwartet wird. „Was zählt, ist, Teil der Kreise zu sein, die sich durch Distinktion, durch exklusiven Geschmack und Luxus oben halten.“(190)
Bublitz kommt zu dem Schluss, dass sich die soziale Magie der Erben vor allem auf die Dispositionen bezieht, die durch gesellschaftliche symbolische Macht quasi in den Körper implantiert wurden. Bildung und Schule werden selbst zum Mythos, denn sie verhelfen nicht zum sozialen Aufstiege (jedenfalls in den meisten Fällen nicht), sondern sind gegen die unteren Klassen gerichtet. Die Autorin beantwortet ihre eingangs gestellte Frage mit dem letzten Satz des Buches: „Du bist hier nicht erwünscht“ (215).
Diskussion
Der Band ist durch seine Verschränkung von theoretischem Hintergrund (vor allem Bourdieu, aber auch Butler und Habermas) mit Film- und Serienelementen sowie autobiografisch anmutenden fiktiven Textpassagen schön komponiert. Er ist facettenreich und vielschichtig und liefert zahlreiche anschauliche Beispiele, wie die Reichen und Etablierten ihren hohen gesellschaftlichen Status aufrechterhalten (können). Dahinter steckt im eigentlichen Sinne wenig Magie, sondern konsequente Durchsetzung der eigenen Interessenlage auf allen Ebenen. Vermisst wird daher der Bezug zu Klassen-, Schicht- und Milieutheorien. Marx wird nur kursorisch erwähnt. Auf gängige Schichtmodelle (Bolte, Scheuch etc.), die auf Einkommen, Bildung und Berufspositionen basieren, geht die Autorin überhaupt nicht ein. Ebenfalls völlig unerwähnt bleiben die Sinus-Milieu-Ansätze, die gegenwärtig sowohl in Wirtschaft und Industrie wie in Kommunen, Verwaltung und Ministerien Hochkonjunktur erleben. Insbesondere letztere versuchen Habitus- und Statussymbole als Wertorientierungen bei ihren Gesellschaftsmodellen zu berücksichtigen. Die errechneten gesellschaftlichen Gruppen führen jedoch eher zur Verschleierung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen als zur Aufklärung. Gerade die prägnante Beschreibung der Autorin von der (Un)möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs ist hervorragend für eine De-Konstruktion der Schicht- und Milieumodelle geeignet. Die Chance für eine De-Konstruktion der Aufstiegsphantasie durch Bildung deutet die Autorin an der Stelle an, an der sie darauf hinweist, dass seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die Sozialwissenschaftler voneinander abschreiben würden, was schichtenspezifische Sozialisation sei. Ein wunderbarer Aufschlag, dem leider in diesem Band keine weiteren Sätze folgen.
Fazit
Die Lektüre des Buches ist unbedingt ein Gewinn. Die verborgenen Codes und das Spiel von gesellschaftlichen Eliten werden theoretisch begründet (Bourdieu) und durch viele Beispiele veranschaulicht. Eine gewisse Vorkenntnis der wissenschaftlichen Literatur in diesem Bereich ist hilfreich, aber nicht zwingend notwendig. Der Band regt zum Nach- und Weiterdenken an.
Literatur
Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und Klassen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Bourdieu, Pierre (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA
Bourdieu, Pierre (2002): Ein soziologischer Selbstversuch. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Habermas, Jürgen (1968): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied: Luchterhand
Rezension von
Dr. Dieter Korczak
Soziologe, Präsident des European Consumer Debt Network, Mitglied der Financial Services User Group der Europäischen Union
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