Michael Weber: Werkstätten für behinderte Menschen
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 15.03.2023

Michael Weber: Werkstätten für behinderte Menschen - Inklusionshemmnis oder Weg zur Teilhabe?
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. - DV
(Berlin) 2022.
59 Seiten.
ISBN 978-3-7841-3537-3.
Reihe: Soziale Arbeit kontrovers - 27.
Entstehungshintergrund und Thema
Die als „Auseinandersetzung“ titulierte Replik auf den von Prof. Dr. Heinrich Greving und Ulrich Scheibner 2021 herausgegebenen Sammelband mit dem provokanten Untertitel „Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion“ erscheint als Band 27 in der Schriftenreihe „Soziale Arbeit kontrovers“. Die vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. und dem Lambertus Verlag (Dienstleister der Caritas) konzipierte Reihe greift Fragen Sozialer Arbeit auf, indem sie „scheinbare Selbstverständlichkeiten“ kritisch hinterfrägt, neue Perspektiven aufzeigt und Komplexitäten benennt, ohne sofort Lösungen parat zu haben. Das vorliegende Bändchen präsentiert Aspekte einer „Antwort“ auf die Etikettierung der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) als „Sonderwelt und Subkultur“.
Autor
Dr. Michael Weber ist Diplom-Verwaltungswissenschaftler und Geschäftsführer des Heilpädagogischen Zentrums Krefeld – Kreis Viersen gGmbH. Bei der 50. Delegiertenversammlung der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V. (BAG WfbM) im Juni 2021 wurde er als einer von vier Stellvertreter:innen des Vorstandsvorsitzenden der BAG WfbM gewählt. Damit ist der Autor seit knapp zwei Jahren in verantwortlicher Position des Vereins BAG WfbM, dessen Geschäftsführer Ulrich Scheibner seit 1984 mehr als 20 Jahre war.
Aufbau und Inhalt
Die Replik umfasst mit Literaturverzeichnis und Darstellung der Reihe (Seite 3) 58 Seiten. Sie wird dem Anspruch der Reihe gerecht, pointiert, aber verständlich geschrieben zu sein. Den Reihenherausgebern zufolge gibt die Meinung des Verfassers nicht unbedingt die Position des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge und des Deutschen Caritasverbandes wieder. Beide verweisen auf ihre je eigenen Positionspapiere.
In der „Einleitung“ (S. 7–8) greift Weber die im Untertitel des Herausgeberbandes von Greving/​Scheibner genannte Implikation „Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion“ auf und weist die überspitzte Behauptung zurück, WfbM würden ausnahmslos ihr Ziel verfehlen, eine Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. Der Autor rekurriert auf die vier Merkmale einer „umstrittenen Organisation“, ein Begriff des Verwaltungswissenschaftlers Prof. Dr. Wolfgang Seibel, die in einem Aufsatz 2020 erläutert wurden.
Die Schrift gliedert sich in drei Abschnitte:
I. Merkmale umstrittener Organisationen (S. 9–25)
Das Merkmal „chronische Leistungsschwäche“ lasse sich nach Weber an der „geringen Übergangsquote“ von ca. 0,5 Prozent (S. 9) in den ersten Arbeitsmarkt abarbeiten: Rein quantitativ gesehen sei die Quote niedrig, angesichts des Personenkreises mit dauerhafter Erwerbsminderung in den WfbM und anderer, den Werkstätten aufgegebenen Zielen, sei aber eine abweichende Messlatte nötig. Der „funktionale Dilettantismus“ sei ökonomisch begründet, gelinge es doch weder dem Staat noch dem Markt Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt zu integrieren und dieser Dysfunktionalität gemäß die „betriebswirtschaftliche Effizienz“ (S. 12) angesichts der gegebenen Bedingungen zu regulieren, wozu u.a. das Entgeltsystem für die in Werkstätten beschäftigten Menschen gehöre. Letzteres sei Gegenstand einer in Auftrag gegebenen Studie durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).
Das Merkmal „Normverstöße“ exemplifiziert Weber insbesondere an verschiedenen Formen von Gewalt, die in Einrichtungen in den letzten Jahren nachgewiesen wurden. Ohne die Brisanz und das Gefährdungspotenzial von institutionell auftretender Gewalt zu verharmlosen, kritisiert der Autor eine unkoordinierte administrative Kontrolle, die zu wenig im Blick habe, ob den Menschen, die von Gewalt bedroht oder betroffen seien, tatsächlich geholfen werde.
Das Merkmal „Interessendivergenzen“ lasse sich, angesichts des geringen Machtpotenzials, welches den WfbM zukomme, weitgehend vernachlässigen und komme lediglich ansatzweise am Umsatzsteuervorteil der WfbM in gewissen Zweigen wie etwa dem Garten- und Landschaftsbau zum Vorschein.
Dagegen sei das Merkmal „Affektbesetzung“ sehr virulent, da die heil(pädagogische) Diskussion entlang des Begriffspaares Inklusion und Exklusion bisweilen emotional persönlich und schnell moralisierend geführt werde, ohne die „Logik des Rechts und der Ökonomie“ (S. 21) zu berücksichtigen. In diesem Kontext verweist der Autor darauf, dass ein Recht auf die Möglichkeit, „auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu werden“ (S. 23) noch keinen Anspruch auf einen „konkreten Arbeitsplatz“ (S. 23) beinhalte, was auch nicht mit der freien Auswahl des Personals durch die Unternehmen zu vereinbaren sei. Im Übrigen sieht Weber die rechtliche Basis für die WfbM in Artikel 27 Abs. 2 Satz 2 Buchstabe k UN-BRK in Zusammenhang mit Artikel 26 gegeben. Im vorliegenden Zwischenbericht zur Entgeltstudie des BMAS werde aus juristischer Sicht darauf hingewiesen, dass eine Abschaffung von WfbM unter den gegebenen Arbeitsmarktbedingungen zur Totalexklusion führen würde. Unabhängig davon, so der Autor, sei am Vorwurf der Diskriminierung, der sich an der unvollständigen Geltung des Arbeitsrechts („arbeitnehmerähnliches Rechtsverhältnis“) entzünde, anzusetzen.
II. Mögliche Antworten der Werkstätten (S. 26–52)
Einleitend stellt Weber klar, dass er vor dem Hintergrund des Axioms von Seibel, dass kein zwingender Zusammenhang zwischen den Merkmalen der Umstrittenheit und den Antworten einer Organisation bestehe, eine normative Position einnehmen werde, die zu fünf Punkten zusammengefasst sind.
- Leistungssteigernde Initiativen von WfbM können von „etablierten Managementkonzepten“ ausgehen. Eingebettet in das Tripelmandat aus Wirtschafts-, Rehabilitations- und Inklusionshandeln haben sich die WfbM in der Aufbau- und Ablauforganisation beraten lassen und sich Reformprozessen zur Bearbeitung der Zieldivergenzen infolge der verschiedenen Rationalitäten unterzogen.
- WfbM können sich in die Diskussion um das Thema „inklusiver Arbeitsmarkt“ einbringen, indem sie sich auf die gegenwärtige Arbeitsmarktordnung und die sozialpolitisch initiierten Maßnahmen mit ihrer „rehabilitativen Programmatik“ (S. 35) beziehen und ihr Inklusionsverständnis offenlegen. Dabei greift Weber auf den Stuttgarter Philosophen Hauke Behrendt zurück und schlussfolgert, dass Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf und ohne die erforderte „Werkstattfähigkeit“ (S. 36) weitgehend in der Debatte (auch im Kontext der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes) ausgeblendet werden, wobei gerade sie es sind, für die WfbM auch Lebensqualität und Zufriedenheit herstellen können.
- Mit Bezug auf die den WfbM vorgehaltene Leistungsschwäche „Entgeltsystem“ verweist der Autor auf die mit dem Zwischenbericht des BMAS vorgelegte Rechtsanalyse und drei Aspekte, die bei der Entgeltdiskussion eine Rolle spielen: a) der juristische Ansatz könnte einen Arbeitnehmerstatus für Werkstattbeschäftigte erwirken und damit wegfallende Schutzrechte kompensieren. Politisch müsste die Finanzierung des Mindestlohnes geregelt werden; b) mit dem ökonomischen Ansatz wären die verschiedenen Finanzierungsströme für die Werkstattbeschäftigten zu eruieren und möglichst in einer Hand zu behalten und an die Lohnempfänger:innen auszubezahlen, wobei damit Subventionen des Entgelts noch nicht überflüssig wären; c) im rehabilitativen Ansatz werden flexible Strategien vereint, die dazu dienen, die Schutzrechte der Beschäftigten (im Falle des tatsächlichen Arbeitnehmerstatus) aufrecht zu erhalten und Inhalte des Teilhabeanspruchs individualisiert umzusetzen.
- Normverstößen ist – wie in allen Organisationen – mit äußerster Konsequenz zu begegnen bzw. ist alles daran zu setzen, präventiv tätig zu werden z.B. entsprechende Gewaltschutz- und Präventionskonzepte zu implementieren.
- Mehr (international vergleichbare) Studien könnten Aufschluss darüber geben, welche anderen Institutions- und Organisationsformen und Zugänge in der Eingliederungshilfe funktionieren.
III. Ausblick (S. 53–54)
Im Ausblick plädiert der Autor für eine realistische Sichtweise auf das, was unter den gegebenen Anstrengungen einer Reform des Entlohnungssystems, des Rechts- und auch Wirtschaftssystems und des politischen Willens realisierbar erscheint. Viele Interessensverbände, wie die BAG WfbM, seien beteiligt, haben sich in der Vergangenheit und gegenwärtig einbringen können.
Diskussion
Mit einer kurzen Kontroverse auf einen mächtigen Sammelband zu antworten, ist eine herausfordernde Aufgabe, zudem mit der Zuspitzung im Untertitel „Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion“ eine gewisse Emotionalität bereits enthalten ist. In Verantwortung für einen wichtigen Akteur in dieser Debatte stehend, führt der Autor Argumente anwendungsnaher, rechtlich und ökonomisch realisierbarer und pragmatischer Art ins Feld, wie Diskriminierung für Menschen mit Behinderung, wenn sie beschäftigt sind, verhindert werden kann. Insofern liefert Weber eine Auseinandersetzung mit dem Sammelband und lässt sich nicht in eine fundamentaloppositionelle Ecke drängen, sondern nimmt die Kritikpunkte auf und zeigt Wege von Veränderung und weiteres Potenzial auf, vorwiegend mit Bezug auf die Referenzsysteme Recht und Wirtschaft.
Der Rückgriff auf Seibels aus den 1990er Jahre stammenden Merkmale einer „umstrittenen Organisation“ gibt der Auseinandersetzung eine gelungene Struktur. Besonders bemerkenswert ist dies, da Seibel damals die WfbM als Beispiel nahm, er sich in seinem Aufsatz 2020 jedoch eine andere Institution auswählte. Weber ist zuzustimmen, dass Seibels Merkmale keine Reformideen beförderten, als analytisches Instrument, anhand dessen Schwachstellen eruiert werden können, haben sie jedoch einen Erkenntniswert. Ob diese umgesetzt werden, hängt jedoch von Entscheidungsträgern ab.
An der einen oder anderen Stelle lässt sich Weber zu ideologisierenden Bemerkungen hinreißen, die bisweilen etwas pauschal daherkommen (z.B. gegen die epistemische Gewalt), die eine Debatte in diesem Format aber aushalten muss, auch unter dem Vorzeichen, dass beide Seiten „normativ“ aufgeladen sind. Dass langjährige Akteure, wie die Autoren in dem Sammelband von Greving/​Scheibner selbstkritisch auf ihre eigene Arbeit zurückblicken und Kritik am System üben (siehe die Rezension zum Sammelband von Prof. Dr. Albrecht Rohrmann: https://www.socialnet.de/rezensionen/​28633.php), ist begrüßenswert. Ebenso ist die Position derer zu verstehen, die sich an einer Reformierung der „Werkstätten-Sonderwelt“ beteiligen, sich jedoch in den Grenzen des Machbaren bewegen (müssen).
Fazit
Das Bändchen ist eine Bereicherung für die Reihe. Inhaltlich positioniert es sich in der Debatte, stemmt sich gegen eine z.T. erhitzte Diskussion, verschafft sich Gehör im Chor einflussreicher Protagonist:innen. Es kann zahlreiche Impulse für eine lebhafte Debatte, auch in der Lehre, geben.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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