Iris Grabowski: Der erschwerte Abschied
Rezensiert von Dr. Hermann Müller, 04.07.2023

Iris Grabowski: Der erschwerte Abschied. Wie Pflegende mit Sterbesituationen gut umgehen können. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2022. 175 Seiten. ISBN 978-3-497-03094-1. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.
Thema
Wenige Menschen sterben plötzlich und unerwartet. Häufiger ist der Tod zu erwarten oder wahrscheinlich, auch wenn der genaue Zeitpunkt noch nicht prognostizierbar ist. Zu diesen Sterbenden gehören nicht nur Palliativpatienten, die eine unheilbare Krankheit haben, die tödlich enden wird. Auch bei alten und multi-morbiden Patientinnen und Patienten oder mit schweren Krankheiten (z.B. nach schweren Schlaganfällen) wird ein Tod in der nächsten Zeit wahrscheinlicher. Die durchschnittliche Verweildauer in Pflegeheimen ist relativ kurz[i]. In diesen Fällen stellt sich die Frage, an welchen Orten und unter welchen Bedingungen man stirbt. Gestorben wird zuhause, auf Normalstationen von Krankenhäusern, auf Intensivstationen, auf Palliativstationen, in stationären Hospizen oder in Pflegeheimen. Pflegende müssen mit solchen Krankheitsverläufen umgeben. Stationäre Hospize und die Palliativstationen haben sich in den letzten Jahrzehnten etabliert. Aber nicht alle Betroffenen können diese Angebote in Anspruch nehmen. Die Hospizbewegung (z.B. Müller 2018) und die Palliativmedizin (zum Beispiel Borasio 2016) befassen sich mit Sterben und Trauer.
Die Autorin
Iris Grabowski ist Kinderkrankenschwester, Lehrerin für Pflegeberufe, Gestaltpädagogin und systemische Beraterin
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in sechs Abschnitte mit jeweils mehreren Kapiteln gegliedert.
Der Abschnitt 1 zum „ Abschiedlich Leben“ beginnt mit entwicklungspsychologisch bedingten Abschieden (1.1.). Eingegangen wird unter anderem auf die Geburt, die Trotzphase und die Krisen in der Adoleszenz. Die Autorin erwähnt das Stufenmodell nach Erikson zur Entwicklung während der ganzen Lebenspanne.
Das Kapitel 1.2. handelt dann von autobiographischen Abschieden im Erwachsenenalter. Exemplarisch wird auf drei Beispiele eingegangen: Abschied von Lebensträumen, Abschied von den Eltern und Abschied vom Partner. Ein Beispiel für den Abschied von Lebensträumen ist der Abschied vom Kinderwunsch. Eine weitreichende Erschütterung sei häufig der Abschied vom Partner. Eingehen könnte man hier vielleicht noch auf die Bedeutung der individuellen Vorgeschichte solcher Abschiede und gesamtgesellschaftliche und andere soziale Einflüsse nach Schicht, sozialem Milieu und Religion.[ii]
In Kapitel 1.3. geht es dann allgemein um Abschied nehmen. Die kleinen und großen Abschiede seien „letztlich ein Einüben und Erinnern und Erinnern des einen unausweichlichen letzten Abschieds, nämlich der eigenen Sterblichkeit.“ (S. 15/16) Eingegangen wird auf ein Modell von Ina Schmidt zu vier Ebenen des Abschiedsprozesses. Auf andere Modelle könnte man hier noch eingehen.[iii]
In Kapitel 1.4. geht es um das Verhältnis von Anfang und Ende. Die Autorin zitiert eine Zeile aus einem Gedicht von Hermann Hesse „In jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“[iv] Sie stellt fest „Jedem Anfang wohnt ein Ende inne“. Es geht um auch ein In-Frage -Stellen eines rein linearen Zeitverständnisses, wobei u.a. Augustinus zitiert wird.
Es folgt ein kurzer Exkurs über Krisen und Katastrophen. Beim Begriff Krise wird auf die medizinische Sichtweise eingegangen. Gemeint ist ein gesundheitlicher Zustand, der sich zum Guten oder Schlechten wenden kann. Der Lebensweg sei nicht frei von solchen Krisen. Auch der Begriff Katastrophe hat im Griechischen ursprüngliche „Wendung“ bedeutet. Im heutigen Sprachgebrauch hat er dagegen eine negative Bedeutung.
In Abschnitt 2 geht es um schwierige Formen der Abschiede.
Diese werden abgegrenzt vom „guten Tod“ oder Sterben in Würde (2.1.). Kriterien hierfür seien unter anderem wenig Leiden und Schmerzen, Einverständnis vom Sterbenden und seinen Angehörigen nach einem erfüllten Leben, emotionale Verbundenheit und die Möglichkeit des Abschiednehmens. Die Autorin weist darauf hin, dass diese Bedingungen eher selten gegeben sind (S. 23)[v].
In Kapitel 2.2. geht langes qualvolles Sterben. Die Autorin verweist auf die Fortschritte bei der Bekämpfung von Krankheiten und Schmerzen die zu einer radikalen Veränderung des Sterbens geführt hätten[vi]. Der Fortschritt führe, so die Autorin, aber auch zu längeren Zeiten der Gebrechlichkeit und Hilfebedürftigkeit. Eingegangen wird unter anderem auf das Leid von Angehörigen, die einen Sterbenden, der nicht mehr bei Bewusstsein ist, begleiten und auf hinausgezögertes Sterben einiger Patienten auf Intensivstationen[vii].
Das Kapitel 2.3. zum „unversöhnten Abschied“ besteht aus zwei Teilen. Zunächst geht es um den Abschied im Streit. Dabei kann es sich um Konflikte zwischen den Sterbenden und Angehörigen aber auch zwischen Geschwister, zum Erbe oder um die Pflege, handeln. Sterbebegleiterinnen und Pflegekräfte versuchen in solchen Fällen, eine Versöhnung herbeizuführen. Im zweiten Teil geht es um den Tod des eigenen Kindes. Hier geht es um den Schmerz der Eltern. Eingegangen wird auf den Tod des Kindes nach einem Unfall und den Tod des Kindes nach einer onkologischen Erkrankung.
In Kapitel 2.4. geht es um den plötzlichen Tod durch Suizid, Die Autorin spricht von versäumtem Abschied[viii]. Eingegangen wird auf die Begriffe Suizid, Suizidalität, Suizidgedanken, Parasuizid und Suizidhandlung und Sonderformen des Suizids. Häufige Ursachen des Suizids werden genannt. Eingegangen wird auf die ethische Bewertung des Suizids durch den abwertenden Begriff „Selbstmord“ und positiven Begriff „Freitod“. Erwähnt wird ein Buch von Jean Amery zum Freitod[ix]. Näher eingegangen wird auf die Sonderform des Bilanzsuizids, die differenzierter betrachtet werden müsse. Seneca wird zitiert, der aus dem Leben scheiden würde, um Leiden ohne Aussicht auf Besserung zu beenden.
Kapitel 2.5 mit drei Unterkapiteln handelt von erschwerten Abschieden im Kontext von Therapie und Pflege. Begonnen wird mit dem gebilligten Tod durch Therapieabbruch oder Therapieverzicht. Behandelt wird die Patientenverfügung, die aber häufig, zum Beispiel aufgrund von Fehlern und Ungenauigkeiten nicht wirksam seien[x]. Danach wird auf die, häufig schwierige, Entscheidungsfindung von Angehörigen, Ärzten und Pflegepersonal über einen Therapieabbruch oder Therapieverzicht[xi]. Vorgeschlagen werden hierzu „ethische Fallbesprechungen oder Konzile“ (S. 34) für das Klinikpersonal. Die Problematik von Angehörigen bei einer solchen Entscheidungsfindung und ihre biographischen Folgen werden anhand eines Interviewausschnitts mit einem Vater eines Kindes, bei dem auf eine Therapie verzichtet wurde, veranschaulicht. Es folgt ein kurzes Unterkapitel zu Organspenden. Mit der Überschrift „Der „verzögerte Tod“ bei Organspende“ verweist die Autorin auf eine Paradoxie. Medizinisch-wissenschaftlich gesehen sind die Spender klinisch tot. Aber aus lebensweltlicher Perspektive können sie von Angehörigen und Pflegepersonal emotional als lebend wahrgenommen werden, weil einige Organfunktionen künstlich aufrechterhalten werden. Im nächsten Unterkapitel geht es um die palliative Sedierung. Die Autorin ordnet die palliative Sedierung der „indirekten Sterbehilfe“ (S. 40) zu. Dem kann der Rezensent nicht zustimmen[xii]. Eingegangen wird auf verschiedene Formen palliativer Sedierung. Es folgt ein Exkurs über Verantwortungsübernahme und schützende Abgrenzung.
Der Abschnitt 3 mit 3 Kapiteln handelt vom Sterben in Zeit der Pandemie. In Kapitel 3.1. werden allgemein gesellschaftliche Veränderungen während der Pandemie behandelt. Nach Ansicht der Autorin hat die Pandemie „unser“ Weltbild erschüttert. Die Exekutive habe sich als mächtig und einflussreich erwiesen[xiii]. Eingegangen wird u.a. auf menschliche Nähe als Bedrohung während der Pandemie, auf die negativen psycho-sozialen Folgen von Einsamkeit und Überforderungen von Eltern durch Kinderbetreuung und Home-office.
In Kapitel 3.2. wird dann die Pflegesituation unter den Coronabedingungen behandelt. Die Autorin weist daraufhin, dass bereits vor der Pandemie ein erheblicher Pflegefachkräftemangel bestanden habe. Der habe sich durch die Pandemie verschärft. Eingegangen wird u.a. auf den Organisationsaufwand in der Gesundheitsbranche, um sich an die Regeln und Bedingungen des RKI und anderer übergeordneter Organisationen anzupassen[xiv] auf die erschwerten Arbeitsbedingungen infolge der besonderen Hygieneregeln und die Besuchsverbote für Angehörige. Auch unterstützende Maßnahmen wie Supervision und Teambesprechungen seien ausgefallen oder konnten nur digital stattfinden. Behandelt werden die Situation einiger Pflegeheime und andere Gesundheitseinrichtungen, von denen sich einige zu „Hotspots“ entwickelten, auf Personalmangel durch Quarantäne für Personalangehörige, Krankheitsausfälle, Berufsausstiege durch Überlastungen und die Angst beim Personal vor Infektionen. Danach wird näher die Situation in verschiedenen Arbeitsfeldern eingegangen. Begonnen wird mit den Intensivstationen[xv]. Hier wird auf besondere körperliche Belastungen des Personals, unter anderem durch besondere Schutzkleidung, und auf seelische Belastungen eingegangen. Schätzungsweise starb jeder zweite Corona-Patient, der künstlich beatmet wurde. Das Personal musste das miterleben. Es folgt ein Abschnitt zur Situation in Pflegeheimen. Die Heime waren ohnehin schon von einer knappen Personaldecke betroffen[xvi], nun kam vielfältige Mehrarbeit durch die Hygieneregeln und Ausfälle durch Erkrankungen oder Quarantäne von Personalangehörigen dazu. Bewohnerinnen und Bewohner durften ihre Zimmer nicht verlassen, keine anderen Bewohnerinnen besuchen oder von Angehörigen besucht werden. Die Situation wird veranschaulicht anhand eines Interviews mit der Pflegedienstleitung eines Altenheims. Kurz eingegangen wird auf die ambulante Pflege. Sie sei scheinbar von der Pandemie weniger betroffen gewesen. Die Autorin hat jedoch einige Interviews durchgeführt, in denen von Belastungen berichtet wird. Abgeschlossen werden dieser Abschnitt und das ganze Kapitel 3.2. mit den Auswirkungen auf die stationären Hospize. Im Unterschied zu Heimen und Kliniken durfte hier ein Angehöriger einen „Gast“ des Hospizes unter Auflagen empfangen. Aber Ehrenamtliche durften nicht eingesetzt werden und gemeinsame Aktivitäten mit Gästen und/oder Angehörigen waren nicht möglich.
Es folgt das Kapitel 3.3. zum einsamen Sterben mit Beispielen aus Interviews und der ehrenamtlichen Hospizarbeit der Autorin. Zunächst geht es um die Bedürfnisse Sterbender, wobei auf die Bedürfnispyramide von Maslow eingegangen wird[xvii]. Eingegangen wird danach auf die Perspektive des Personals, wobei gezeigt wird, dass die Grundsätze der Charta zur Betreuung schwerkranker und sterbender Menschen während der Pandemie nicht umsetzbar waren. Es folgt ein Abschnitt zum einsamen Sterben aus der Perspektive von Angehörigen mit einem längeren Ausschnitt aus einem Interview mit einer Angehörigen als Beispiel. Anschließend wird auf die Trauer der Angehörigen eingegangen[xviii] und mögliche Folgen eines einsamen Sterbens werden skizziert. Dieses einsame Sterben könne einer von mehreren Risikofaktoren sein für eine „komplizierte Trauer“ mit „ungewöhnlicher Intensität und Dauer“ (S. 71) sein. Die Diagnose „anhaltende Trauerstörung“ sei jedoch umstritten[xix] Abgeschlossen wird dieser Abschnitt mit einem Beispiel zu einer Trauerfeier während des Lockdowns. Auf Konsequenzen aus den Erfahrungen während der Pandemie wird kurz eingegangen. Auf Empfehlungen eines Projektes zur Palliativversorgung in der Pandemie wird hingewiesen. Hierzu gehört die Empfehlung, dass Angehörigen der Besuch sterbender Menschen nicht mehr verweigert werden darf. Abgeschlossen wird das Kapitel 3 mit einem Exkurs zur Menschenwürde.
Es folgt der vierte Anschnitt zu Auswirkungen auf das Personal mit den Kapiteln Überforderung, Schuld und Schuldgefühle und moralischer Stress und seine Folgen.
Im Kapitel zu Überforderungen (4.1.) wird u.a. eingegangen auf das Verhältnis von objektiv gegebener und subjektiv empfundener Überforderung, auf Überforderung als allgemeines gesellschaftliches Phänomen und die Überforderung von Pflegekräften. Deutlich wird, dass der hohe ganzheitliche Anspruch an die Pflege im Pflegeberufegesetz in der Realität kaum erfüllbar ist. Die Personalknappheit und die Arbeitsbedingungen in der Pflege verhindern die Umsetzung[xx]. Hingewiesen wird auch auf das „Helfersyndrom“ nach Schmidbauer.
In Kapitel 4.2. wird zunächst allgemein auf Schuld, Schuldgefühle, Scham und Dilemmata eingegangen. Dann geht es um Schuld und Schuldgefühle in der Sterbebegleitung, um ungünstige Rahmenbedingungen und individuelle Risikofaktoren sowie um die Entlastung von Pflegenden durch Gespräche zur Entlastung und Reflexion.
In Kapitel 4.3. zum moralischen Stress und seine Folgen wird zunächst auf die Begriffe Ethik und Moral und auf Stress eingegangen. Dann geht es um die Sonderform des moralischen Stresses, der entstehen kann, wenn zum Beispiel institutionelle Zwänge Menschen daran hindern wollen, was man für richtig hält, zu tun. Das geschehe öfters in der Pflege. Beispiele hierfür werden dargestellt. Moralischer Stress könne zur inneren Distanzierung und Arbeit nach Plan führen. Danach wird kurz auf moralischen Stress in der Begleitung im Kontext erschwerter Abschiede eingegangen. Dieser kann zum Beispiel entstehen, wenn Patienten mit hoffnungsloser Prognose durch organersetzende Maschinen am Leben gehalten und ihr Sterben verlängert wird. Die Autorin empfiehlt hier interprofessionelle Zusammenarbeit und kollegiale ethische Abwägungs- Reflexions- und Begründungsprozesse. Abgeschlossen wird das Kapitel mit einem Exkurs über Wertschätzung und der Bedeutung von Wertschätzung für Personen. Das wird an Beispiel veranschaulicht.
Der Abschnitt 5 hat den Titel „Selbstpflege als Voraussetzung der professionellen Pflege“. Es geht um „Individuen zentrierte Interventionen“, die es Pflegenden erleichtert, den dargestellten Belastungen im Kontext von Sterbebegleitung standzuhalten. Die Autorin möchte aber den Eindruck vermeiden, dass die Pflegekräfte für ihr Wohlergehen alleine verantwortlich sind und verweist auf den Fachkräftemangel. Dem kann der Rezensent zustimmen. Dennoch wäre zu prüfen, in welchen Einrichtungen der Pflege und des Gesundheitswesens die einzelnen Maßnahmen realistisch umsetzbar sind[xxi].
Begonnen wird mit Strukturalisierungen und Ritualisierung im Alltag und im Beruf (5.1.). Auf Definitionen von Struktur und Ritual werden eingegangen. Psychisch-emotionale Funktionen, soziokulturelle Funktionen und religiös-spirituelle Funktionen werden skizziert und auf Arten von Strukturen und Rituale, zum Beispiel Übergangsrituale oder periodische Rituale, wird eingegangen. Es folgt ein Abschnitt über die Bedeutung von Struktur und Ritual im Kontext von erschwerten Abschieden. Einige Beispiele werden kurz aufgeführt. Ausführlich wird auf die christliche Aussegnung mit drei Phasen als Beispiel eingegangen. Auf die Bedeutung dieser Strukturen und Rituale im privaten Bereich wird eingegangen.
In Kapitel 5.2. geht es um Entspannungstechniken. Sinn und Funktion von Entspannungstechniken werden skizziert. Eingegangen wird dann auf Sport und Bewegung, Muskelentspannung nach Jacobson, Atemübungen und Meditation. Als Beispiel beschreibt die Autorin ihre Morgenmeditation.
Das Kapitel 5.3. von achtsamkeitsbasierter Stressreduktion. Das Konzept nach Kabat-Zinn mit den Bausteinen Achtsamkeitsübungen, Bodyscann, Sitzmeditation, Gehmeditation, Yogaübungen und Achtsamkeit im Alltag wird vorgestellt. Dann wird auf den Ansatz in der Sterbebegleitung eingegangen. An einem Beispiel wird dies veranschaulicht.
Humor wird dann im nächsten Kapitel behandelt (5.4.). Auf Humortheorien und auf Humor als Ressource wird eingegangen. An einigen Beispielen wird das veranschaulicht. Humor kann unter anderem helfen, schwierige Situationen zu bewältigen, und auch schmerzlindernd wirken. Eingegangen wird auch den Einsatz von Humor in der Psychotherapie und auf Lachyoga. Anschließend wird Humor in der Pflege und Sterbebegleitung behandelt. Humor bietet einige Möglichkeiten. Die Autorin weist aber auch auf die Gefahr hin, dass dabei Gefühle anderer Menschen, zum Beispiel von Sterbenden oder Angehörigen, verletzt werden können.
Das Kapitel 5.5. zum Umgang mit schwierigen Gefühlen beginnt mit einer allgemeinen Darstellung zur Funktion von Gefühlen. Danach wird auf schwierige Gefühle im Kontext von Sterbebegleitzungen eingegangen. Es geht um Angst, Hilflosigkeit und Ohnmachtsgefühle und Ekel sowie um den Umgang der Sterbebegleiterinnen mit ihren Gefühlen. Abgeschlossen wird das Kapitel mit einem Exkurs über das Konzept der Resilienz. Eingegangen wird auf sieben „Resilienzfaktoren“.
Der Abschnitt 6 mit 7 Kapiteln handelt von psycho-sozialen Interventionen in der Begleitung Schwerstkranker und Sterbender.
Begonnen wird in Kapitel 6.1. mit Trost und Trösten. Zunächst geht es um eine semantische Skizze zu Begriffen wie Trost, Trostlosigkeit, untröstlich sein, nicht ganz bei Trost sein und Vertrösten. Dann auf die Art und Weisen des Tröstens, unter anderem Sinn sehen oder Transzendenz, eingegangen. Der Rezensent fragt sich, mit was ein Sterbender sich trösten kann oder getröstet werden kann, ohne dass es als billiges Vertrösten empfunden werden kann[xxii]
Kapitel 6.2. handelt vom Schweigen angesichts von Leid, Tod und Trauer. Eingegangen wird auf eine „Phänomenologie“ des Schweigens, auf die Schwierigkeit des Schweigens und Chancen des Schweigens. Welches Verhalten der Begleiterin wichtig ist, sollte nach Ansicht des Rezensenten abhängig gemacht werden von der jeweiligen Situation des Sterbenden oder Trauernden[xxiii]. Was zum Beispiel in der Situation des Zustimmens richtig ist, kann in der Situation des Verhandelns falsch sein (vgl. Trauerphasen des Sterbenden nach Kübler-Ross, vgl. Student u.a. 2007,57).
In Kapitel 6.3. geht es dann um den Ansatz des aktiven Zuhörens nach Carl Rogers. Eingegangen wird allgemein auf die Grundhaltung und auf sieben Gesprächsregeln. Dies wird dann bezogen auf aktives Zuhören bei erschwerten Abschieden.
Berühren und berührt-sein ist das Thema von Kapitel 6.4. Auf die Bedeutung von Berührungen, u.a. bei Paaren, auf Berührungen in der Pflege und auf das Pflegkonzeptes des basalen Berührens bzw. basaler Stimulation wird eingegangen. Unterschieden wird Berufsberührung und Beziehungsberührung[xxiv]
Um spirituelle Begleitung geht es dann in Kapitel 6.5. Eingegangen wird auf Begriffe und Konzepte zu Spiritualität, Transtendenz und Religiosität, auf Spiritualität als Ressource und „Spiritual Care“ nach Traugott Roser[xxv] und Grundfunktionen spiritueller Unterstützung nach Weiher.
In Kapitel 6.6. handelt vom Einsatz der Kunst in der Sterbebegleitung. Dies wird mit zwei Beispielen veranschaulicht. Speziell geht es um den Einsatz von Bildern und Literatur.
Diskussion
Das Buch ermöglicht einen ganz guten ersten Einblick für Pflegekräfte und für Menschen, die sich für ehrenamtliche Hospizarbeit interessieren. Das reicht natürlich für die Praxis der Pflege oder der ehrenamtlichen Hospizarbeit nicht aus. Für zukünftige ehrenamtliche Hospizler gibt es eine relativ umfangreiche Weiterbildung mit Theorieanteilen, Elementen der Selbstreflexion zum Sterben, Übungen und Praktika unter Supervision. Dazu gehört auch die spirituelle Begleitung unter Berücksichtigung ethnischer und religiöser Unterschiede. Zu prüfen wäre, ob es in der Pflegeausbildung etwas gibt, was damit vergleichbar ist. Antizierende Trauer und Ängste beginnen ja häufiger schon mit der Diagnose von Krankheiten wie Krebs, wenn eine Heilung noch möglich erscheint, aber nicht sicher ist. Daher sollte eine entsprechende Ausbildung fester Bestandteil der Pflegeausbildung sein.
Wichtig ist auch die Frage nach den Rahmenbedingungen für eine gute Sterbebegleitung und Palliativarbeit. Stationäre Hospize, die Palliativstationen und die ambulante Palliativversorgung sind sicherlich ein großer Fortschritt. Aber nicht alle Betroffenen können davon profitieren. Patientenschützer beklagten ein Zwei-Klassen-Sterben (vgl. Ärzte-Zeitung 2015). Für sterbende Pflegeheimbewohner ist es schwierig, in ein Hospiz aufgenommen zu werden. Das Personal in Pflegeheimen ist in der Regel überlastet. Die ambulanten Hospizvereine können dies nicht ausgleichen. Dafür gibt es zu viele Pflegeheime, in denen gestorben wird, und zu wenig Hospizvereine (vgl. Domdey 2018, S. 29). Auch auf Normalstationen in Krankenhäusern und auf Intensivstationen ist für eine gute Begleitung meist zu wenig Zeit. Einsames Sterben gab es daher bereits vor der Pandemie.
Fazit
Das Buch ermöglicht einen ganz guten Einblick für Pflegekräfte und für Menschen, die sich für ehrenamtliche Hospizarbeit interessieren.
Literatur
Ärzte Zeitung (2015), Patientenschützer beklagen „Zwei-Klassen-Sterben“. 12.6.2015, online verfügbar
Borasio, G. D. (2014) selbst bestimmt sterben. Was es bedeutet, was uns daran hindert. Wie wir es erreichen können, München, Verlag C.H.Beck. socialnet Rezensionen: Selbstbestimmt sterben. Was es bedeutet. Was uns daran hindert. Wie wir es erreichen können | socialnet.de
Brathuhn, Sylvia, Adelt, Thorsten (2015) Vom Wachsen und Werden im Prozess der Trauer, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht
BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 -, Rn. 1–343,
Erikson, Erik H. (1980) Identität und Lebenszyklus (1980) Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 6. Auflage
De Ridder, Michael (2017) Abschied vom Leben. Von der Patientenverfügung bis zur Palliativmedizin, Ein Leitfaden, München: Pantheon Verlag
Domdey, Ulrich (2018), Wie steht es um die Hospizarbeit in Niedersachsen? in: Monika C.M. Müller (Hrsg.) (2018) Gut gemeint – gut gemacht? Professionalisierung der Sterbebegleitung und Zukunft der Hospizarbeit. 21. Loccumer Hospiztagung 2018, Loccumer Protokolle 25/2018, Rehburg-Loccum, S. 21 - 32
Freud, S. (1938) Abriss der Psychoanalyse, GW Band 17
Giger- Bütler, Josef (2018) Wenn Menschen sterben wollen. Mehr Verständnis für einen selbstbestimmten Weg aus dem Leben, Stuttgart: Klett-Cotta
Jaspers, Karl (1963) Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München
Jungbauer, Johannes (2013) Trauer und Trauerbewältigung aus psychologischer Perspektive, in: Jungbauer, Johannes, Krockauer, Rainer (Hrsg.) (2013) Wegbegleitung, Trost und Hoffnung. Interdisziplinäre Beiträge zum Umgang mit Sterben, Tod und Trauer, Opladen u.a. O., Verlag Barbara Budrich S. 49 - 70
Müller, M. (Hrsg.) (2018) Gut gemeint – gut gemacht? Professionalisierung der Sterbebegleitung und Zukunft der Hospizarbeit, Rehburg-Loccum
Ohlerth, Eva und Wittig Frank (2019), Albtraum Pflegeheim. Eine Altenpflegerin gibt Einblick in skandalöse Zustände, München, Riva Verlag socialnet Rezensionen: Albtraum Pflegeheim. Eine Altenpflegerin gibt Einblick in skandalöse Zustände | socialnet.de
Piaget, Jean (1984), Theorien und Methoden der modernen Erziehung, zuerst veröffentlicht 1974, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag GmbH
Rieger, Armin (2017) Der Pflegeaufstand. Ein Heimleiter entlarvt unser krankes System, München, Ludwig Verlag
Roser, Traugott (20212) Spirituelle Begleitung, in Wasner, Maria; Pankofer, Sabine (Hrsg.) (20212) Soziale Arbeit in Palliativ Care. Ein Handbuch für Studium und Praxis, Stuttgart: Kohlhammer, S. 160 - 166
Samuel, Julia (2018) Trauert. Geschichten über das Leben, den Tod und die Kraft zum Weiterleben., Weinheim, Basel: Beltz englischer Originaltitel: „Grief Works. Stories of Life, Death and Surviving.“
Student, J. C.; Mühlum, Albert; Student, Ute (2007) Soziale Arbeit in Hospiz und Palliative Care, München und Basel Reinhardt UTB
Techtmann, Gero (2015): Die Verweildauern sinken. Statistische Analysen zur zeitlichen Entwicklung der Verweildauer in stationären Pflegeeinrichtungen. Verfügbar unter: https://docplayer.org/26493263-Die-verweildauern-sinken.html
Thöns, Matthias, (2016 6), Patient ohne Verfügung. Das Geschäft mit dem Lebensende, München, Berlin, Piper
Wasner, Maria; Pankofer, Sabine (Hrsg.) (20212) Soziale Arbeit in Palliativ Care. Ein Handbuch für Studium und Praxis, Stuttgart: Kohlhammer
Xyländer, M.; Sauer, P. (2019) Zwischen Gestalten und Aushalten. Sterbebegleitung in stationären Pflegeeinrichtungen im urbanen Raum, Opladen: Verlag Barbara Budrich
[i] Vgl. Techtmann 2015
[ii] Das gilt bereits in der Kindheit, vgl. Freud 1938, S. 69 zitiert nach Erikson 1980, S. 14
[iii] Zum Beispiel das Modell von Kübler-Ross vgl. Student u.a. 2007,57), von Brathuhn und Adelt (2015) oder von Kast (vgl. Student u.a. 2007,57)
[iv] Auch in dem Gedicht „Stufen“ von Heine geht es um den Abschied: „Es muss Herz bei jedem Lebensrufe, bereit zum Abschied sein und Neubeginne.“ Wer zum Beispiel heiratet, muss sich vom Junggesellendasein verabschieden. Ansonsten kann die Ehe problematisch werden.
[v] Man könnte von einem Idealtypus sprechen. Wenn man genau hinschaut gibt es in jeder Biographie ungelöste Probleme, Versäumnisse und Ereignisse, die man bedauert. Auch die ideale Familie ist eher selten.
[vi] Das ist sicher richtig, setzt aber eine gute palliativmedizinische Versorgung voraus, die nach den Erfahrungen des Rezensenten als Sterbebegleiter in Pflegeheimen nicht immer gegeben ist.
[vii] Vgl. hierzu auch Thöns 2016, der sogar von einem Geschäft mit dem Lebensende spricht. Manche OP, Strahlentherapie oder Chemotherapie nutzt nicht mehr, aber vergrößert das Leiden. Man muss jedoch auch berücksichtigen, dass es auch medizinische Meinungsunterschiede zur Indikation und Prognose in Einzelfällen gibt.
[viii] Nach Giger-Bütler (2018) könnte eine Ursache sein, das suizidale Menschen häufig ihre Absicht verheimlichen, weil der Suizid gesellschaftlich geächtet ist und versucht wird, den Suizidalen von seiner Absicht abzubringen. Das führe dann zum einsamen Sterben, was für die Suizidalen und die Angehörigen problematisch sei.
[ix] Bestimmte Formen des Suizids werden auch von Jaspers positiv bewertet. „Dass der Mensch, nur der Mensch sich das Leben nehmen kann in hellem, reinen Entschluß, ohne Trübung durch Affekt, vielmehr sich selber treu, darin liegt seine Würde.“ (Karl Jaspers 1963, 474) Hinweisen kann man auch auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum assistierten Suizid vom 26. Februar 2020, das Menschen das Recht zuspricht, ihr Leben zu beenden und sich dabei helfen zu lassen.
[x] Zu Vorlagen vgl. auch de Ridder 2017. Eine weitere Möglichkeit ist die Patientenvollmacht, die eine andere Person mit der Entscheidung beauftragt. Rechtlich und moralisch müsste die Entscheidungsbefugnis allein beim Patienten liegen, wenn es eine Patientenverfügung gibt oder der mutmaßliche Wille des Patienten feststellbar ist.
[xi] Entscheidungen können auch deshalb schwierig sein, weil finanzielle Interessen der Krankenhäuser nicht auszuschließen sind (vgl. Thöns 2016). Auch gibt es unterschiedliche religiös-moralische Einstellungen zu diesen Fragen. Zuständig wären auch Betreuungsgerichte.
[xii] Der Palliativmediziner Borasio (2014, S. 47 – 69) setzt diesen Begriff in Anführungsstriche. Er bezweifelt, dass die Schmerztherapie und die palliative Sedierung zu einer Lebensverkürzung führen. Mehrere Studien ergäben keinerlei Hinweise auf eine lebensverkürzende Wirkung (Borasio 2014, S. 54) Schmerzen können Stress verursachen, was auch das Leben verkürzen kann.
[xiii] Nach Ansicht des Rezensenten zeigten der Staat und die Medien auch autoritäre Züge, zum Beispiel im Umgang mit Andersdenkenden und abweichenden wissenschaftlichen Einschätzungen.
[xiv] Hinzukommen könnte, dass sich diese Regeln und Empfehlungen mehrfach veränderten.
[xv] Allgemein zur Pflege auf Intensivstationen vgl. Ohlerth/Wittig 2019, S. 223 -232
[xvi] Zur Situation in den Heimen vor der Pandemie vgl. Rieger 2017 und Ohlerth/Wittig 2019
[xvii] Zu den Dimensionen des Sterbens vgl. Student u.a. 2007, S. 25/26
[xviii] Zur Trauer vgl. auch zur Vertiefung Brathuhn und Adelt (2015) Jungbauer (2013) oder Samuel (2018)
[xix] Zu komplizierter Trauer vgl. auch Jungbauer (2013. S. 54 und 55) Es besteht die Gefahr eine Pathologisierung und Stigmatisierung bei der Diagnose „anhaltende Trauerstörung“. Was ist nicht mehr „normal“?
[xx] Nach Meinung des Rezensenten könnte man auch von einer systembedingten Überlastung sprechen. Über viele Jahre hinweg wurde von der Gesellschaft ein System von finanziellen Anreizen geschaffen, das ganzheitliche Pflege im Krankenhaus oder Pflegeheim kaum noch zulässt.
[xxi] Zu Pflegebegleitungen in der stationären Pflege vgl. Xyländer und Sauer (2019)
[xxii] Religiöse und andere spirituelle Themen könnten dazugehören. Aus buddhistischer Perspektive kann das Sterben zum Beispiel ein Entwicklungsprozess sein. Einige Christen glauben, dann verstorbene Angehörige wieder zu sehen. Aber solche Perspektiven setzen den Glauben an eine Existenz nach dem Tod voraus.
[xxiii] Hier kann es auch Unterschiede geben. Während zum Beispiel die Ehefrau den bevorstehenden Tod des Mannes noch nicht wahrhaben will, kann der Mann dem bereits zustimmen.
[xxiv] Dies könnte auch wichtig sein, um eine mögliche sexuelle Bedeutung auszuschließen. Berührungen von Pflegekräften, Ärzten und Frisören werden anders wahrgenommen.
[xxv] Vgl. auch Roser (2021)
Rezension von
Dr. Hermann Müller
Universität Hildesheim, Institut für Sozial- und Organisationspädagogik
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Zitiervorschlag
Hermann Müller. Rezension vom 04.07.2023 zu:
Iris Grabowski: Der erschwerte Abschied. Wie Pflegende mit Sterbesituationen gut umgehen können. Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2022.
ISBN 978-3-497-03094-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30041.php, Datum des Zugriffs 08.12.2023.
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