Wolfgang Frindte: Quo Vadis, Humanismus?
Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 01.03.2023
Wolfgang Frindte: Quo Vadis, Humanismus? Wie wir unsere Menschlichkeit erhalten können - Historische Kontexte, Psychologische Reflexionen, Judenfeindliche Angriffe. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2022. ISBN 978-3-658-36638-4.
Thema
Behandelt wird die weitläufige Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Sie hat die menschliche Zivilisation seit jeher begleitet, wobei in unterschiedlichen historischen Epochen jeweils verschiedene Ideale entwickelt und gepflegt wurden. Diese spannende Konstellation ist für Herrn Frindte der Anlass, sich in einem weiten Wurf – beginnend mit der Schilderung der Ideale Petrarcas' im Jahre 1327 - mit humanistischen Ideen und Idealen sowie insbes. auch mit verschiedenen antihumanistischen Entwicklungen in einer etwa 700 Jahre langen Zeitspanne bis in die Gegenwart hinein zu beschäftigen.
Autor
Wolfgang Frindte, Prof. i. R. Dr. phil. habil., Diplompsychologe (Friedrich-Schiller-Universität Jena 1974), 1981 Promotion und 1986 Habilitation. Von 2008 bis März 2017 Leiter der Abteilung Kommunikationspsychologie am Institut für Kommunikationswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 1998–2005 Gastprofessur für Kommunikations- und Medienpsychologie bzw. Angewandte Sozialpsychologie am Institut für Psychologie der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Februar bis April 2004 Fellow am Bucerius Institut der Universität Haifa (Israel). Forschungsschwerpunkte: Makro-sozialer Stress und Terrorismusforschung, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Rechtsextremismus, Digitale Medien und Gewalt (dieser Text wurde dem Buch von Herrn Frindte, S. XV, entnommen). Geboren wurde Wolfgang Frindte in Mühlhausen/Thüringen im August 1951.
Entstehungshintergrund
Die Idee zu dem Buch entstand – so der Autor – in der Mitte der Altstadt der italienischen Stadt Arezzo im Jahre 2019. Dort kamen seine Frau und er mit einem Studenten aus Dresden ins Gespräch, der in Italien studierte, dort auch jobbte und ebenfalls ein großer Petrarca-Fan war. Der Verfasser: „Mit den Worten Humanismus und Errungenschaften hatte der junge Mann aus Dresden mehrere Saiten berührt, deren Nachklang zum Grundton des vorliegenden Buches wurde. Wie steht es mit den humanistischen Grundlagen unseres Lebens und Zusammenlebens? Müssen wir uns nicht gerade heute dieser Fundamente versichern? Wer greift diese Fundamente an?“ (S. 4).
Aufbau
In den Teilen I bis IV des Buches finden Leserinnen und Leser die Ergebnisse von Frindtes Recherchen über den Humanismus. Es handelt sich um historische Collagen aus Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und Kunst. Die Judenfeindlichkeit bzw. der Antisemitismus spielen dabei eine zentrale Rolle. Die humanistischen Ambitionen der sich entwickelnden Psychologie werden ebenfalls beleuchtet. Im Teil V des Buches werden aus einer psychologische Perspektive die Mittel und Methoden analysiert, mit denen die humanistischen Fundamente unseres Zusammenlebens gegenwärtig angegriffen werden. Im Epilog beschreibt der Verfasser seine Vorstellungen und Hoffnungen von einer humanen Zukunft.
Inhalt
Es fällt schwer bzw. ist nahezu unmöglich, die von Frindte zusammengetragene Materialfülle aus ganz verschiedenen Bereichen (Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst, Politik) zusammenfassend wiederzugeben. Da geht es beispielsweise auf einer einzigen Seite (S. 2) um Petrarcas' Aufstieg auf den Mont Ventoux, um platonische Gedichte, die Petrarca an die geheimnisvolle Laura schrieb, um einen weiblichen Petrarkismus, den Literaturhistoriker ausfindig gemacht haben wollen, sowie um die Spekulation, dass es sich bei der geheimnisvollen Laura um Laure de Sade, eine Ahnin des Marquis de Sade gehandelt haben könnte. Als Leser fragt man sich sehr schnell, was das alles mit dem eigentlichen Thema des Buches, dem humanistischen Gedankengut, zu tun hat. Letztlich wird dieser Kontext am Ende der Seite hergestellt. Es geht Frindte darum, dass Petrarca den Aufstieg nutzte, um im Angesicht der Berge die Dinge der Erde zu bestaunen sowie die Größe des menschlichen Geistes wahrzunehmen (alles auf S. 2).
Seine Vorgehensweise beschreibt Frindte auf S. 4 wie folgt:
„…ich (wende) in den nachfolgenden Kapiteln ein Konstruktionsprinzip an, mit dem die humanistischen Anstrengungen seit Petrarca in dreifacher Weise gerahmt werden: Zum einen werden diese Anstrengungen in die jeweiligen historischen Kontexte eingeordnet; zum zweiten greife ich auf psychologische Reflexionen zurück, die sich in der Vergangenheit explizit oder implizit auf humanistische Konzeptionen beziehen; drittens mache ich schließlich auf judenfeindliche und antisemitische Äußerungen, Vorurteile, Diskriminierungen und Vernichtungsexzesse aufmerksam, um die Ambivalenzen der verschiedenen humanistischen Anstrengungen zu verdeutlichen“.
Halten wir bis hierhin fest, dass Frindte in seinem Buch eine enorme Materialfülle zusammengetragen hat und dabei viele Thematiken berücksichtigt, die im Weiteren (und leider auch sehr viel Weiteren) Umfeld des Humanismus zu finden sind.
Machen wir nun einen großen Sprung. An verschiedenen Stellen des Buches beruft Frindte sich auf Erich Fromm, zu dessen Lehren er sich ausdrücklich bekennt. Er nennt sein Buch eine „Hommage“ an Erich Fromm und widmet diesem berühmten Mann ca. 20 Seiten. Im Epilog (der/die LeserIn wartet auf die angekündigten „Vorstellungen und Hoffnungen von einer humanen Zukunft“) geht es Frindte um Fromms Kritik an den kapitalistischen Heilsversprechen, die sich nicht erfüllt haben und um dessen Vorschläge für Alternativen, insbes. ausgearbeitet in dem Buch „Haben oder Sein“ (Fromm 1999, S. 393f). Dazu gehören:
- Die Produktion müsse auf einen „gesunden und vernünftigen Konsum“ ausgerichtet werden.
- Das Streben der Konzerne und Aktionäre nach Profit und Wachstum müsse drastisch eingeschränkt werden.
- Eine industrielle und politische Mitbestimmung aller Gesellschaftsmitglieder sei notwendig.
- Eine solche Mitbestimmung erfordere die maximale Dezentralisierung von Wirtschaft und Politik.
- Methoden der Gehirnwäsche in der kommerziellen und politischen Werbung gehören verboten.
- Die Kluft zwischen den reichen und armen Nationen muss geschlossen werden (Fromm 1999, zit. n. Frindte, S. 518).
Schließlich nennt Frindte eine eigene Befragung aus dem Jahre 2021, in der TeilnehmerInnen folgendes beantworten sollten: „1. Was assoziieren Sie mit dem Wort Humanismus? 2. „Was ist Ihrer Meinung nach nötig, um humanistische, menschenfreundliche Lebensbedingungen realisieren zu können?“ (S. 520).
Ergebnis dieser Befragung war, dass auf die erste Frage „Menschenwürde“ mit 53 % der Befragten deutlich am häufigsten genannt wurde und „Anti-Diskriminierung“ mit 33 % bei der zweiten Frage die am häufigsten genannte Antwort war. Frindte kommentiert die Ergebnisse wie folgt:
„Ich gebe aber zu, dass mir die humanistischen Vorstellungen, die die Befragten genannt haben, sowie die Bedingungen ihrer Erreichbarkeit nicht nur sehr sympathisch sind. Ich sehe darin auch meine Visionen über zukünftiges Miteinander ausgedrückt. Ein humanistisch-emanzipatorisches Programm muss antikapitalistisch sein; es kann sich nicht nur auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse im „Westen“ richten; es muss anti-rassistisch sein, in radikaler Weise, die Menschenrechte aller Menschen, ihre Freiheit, Würde, Selbstbestimmung, Solidarität, den Schutz der Umwelt und das friedvolle Miteinander zum Ziel haben“ (S. 523).
Das sind hehre Ziele, deren Nennung Erich Fromm sicherlich gefallen würde und die auch heute auf viel Anklang stoßen würden. Aber wie wollen wir dorthin kommen? Als Antwort auf die Frage danach, was konkret getan werden kann, zitiert Frindte drei Wissenschaftler, zwei, die sich für eine Stärkung des „dritten Sektors“ einsetzen: Jeremy Rifkin (2004) und Erik Olin Wright (2017) sowie den „radikaleren“ Ansatz von Paul Mason, der sich für einen Kampf gegen Monopole und Preisabsprachen, gegen das Horten von Information etc. ausspricht (S. 525). Auch hat er Ulrich Beck im Blick, der sich für Kosmopolismus (verstanden als „Anerkennung der Andersheit im Anderen“), einsetzte (Beck, 1997, 2002, zit. nach Frindte, S. 526). Aber noch einmal gefragt: Wie wollen wir dorthin kommen?
Diskussion
Mir hat das Buch von Frindte nicht gefallen. Es ist äußerst verwirrend, den Gedankengängen des Verfassers zu folgen und darauf zu warten, dass er einen „Punkt“ macht bzw. eine für das Thema wesentliche oder auch nur interessante Aussage trifft. Die von Frindte getroffene Auswahl humanistischer und antihumanistischer Tendenzen ist subjektiv, wird nicht begründet und ist deshalb nur wenig wissenschaftlich. Das Buch hält nicht, was es im zweiten Teil der Überschrift verspricht. Diese Überschrift ist sowieso rätselhaft. Dort steht „Wie wir unsere Menschlichkeit erhalten können – Historische Kontexte, Psychologische Reflexionen, Judenfeindliche Angriffe“.
Judenfeindliche Angriffe? Was haben judenfeindliche Angriffe mit dem Erhalt unserer Menschlichkeit zu tun? Hier ist wenig sorgfältig formuliert worden, denn deutlich wird an vielen Stellen des Buches, dass es sich bei Herrn Frindte um einen entschiedenen Gegner judenfeindlicher Angriffe handelt. Aber warum bezieht er sich ausschließlich auf Judenfeindliche Angriffe? Sind die Angriffe auf Menschen anderer Religionen, Kulturen, geographischer Gebiete weniger schlimm?
Psychologische Reflexionen? Frindte geht beispielsweise auf S. 189ff auf die Freud'sche Unterscheidung der drei Ebenen Unbewusstes, Vorbewusstes und Bewusstes ein. Er hält die Entdeckung des Einflusses des Unbewussten auf Körper und Geist für „epochal“ (S. 190). Aber anstatt diesen epochalen Einfluss näher zu ergründen und/oder seine Auswirkungen auf Theorien, Theoretiker und Praktiker sowie auf das humanistische Thema des Buches anzuwenden ist Frindte unmittelbar danach schon wieder beim nächsten Thema.
Historische Kontexte? Davon gibt es sehr viele in dem Buch. Es sind überwiegend Kontexte, die als Beispiel dafür dienen sollen, dass und wie der Humanismus bedroht wird. Ob dies nun die von Frindte als ,Medienzynismus‘ bezeichnete Kritik an den öffentlichen Medien ist, die Ausländerfeindlichkeit, rechtspopulistische Parteien und rechtsextreme Gruppierungen oder Gefühle relativer Deprivation. Ich möchte hier nicht missverstanden werden: An dieser Aufzählung ist wenig falsch – aber Sinn und Zweck einer solchen Aufzählung bleiben schleierhaft, wenn das Thema doch ein ganz anderes ist.
„Wie wir unsere Menschlichkeit erhalten können“ – so steht es im Titel. Zu diesem Thema hätte ich mir konstruktive Beispiele und praxisnahe, umsetzbare Theorien gewünscht, die auf das gewaltige Potenzial des Humanismus und der Menschheit verweisen oder die versuchen, einen Zusammenhang, das übergreifende Ganze, die ordnende Struktur herzustellen. Das alles ist leider nicht vorhanden. Warum beginnt der Epilog mit einer zweiseitigen Wiedergabe einer Studie zum Thema „Optimisten leben länger“? Weil dem Verfasser daran liegt, darauf hinzuweisen, dass optimistische „Zukunftsmenschen“ fleißig sind, planvoll sind, aktive Problemlöser sind, erfolgreich sind etc. Diese Menschen – so Frindte – „(müssen) nicht zum Arzt, sondern an die Macht“ (S. 514). Wenn es doch nur so einfach wäre!
Ich kann das Buch nicht empfehlen. Mir fehlt vor allem die Struktur und die Ausrichtung auf ein spezielles Thema. Es werden viele verschiedene Sachverhalte angesprochen, die mit dem Thema Humanismus nur sehr entfernt etwas zu tun haben. Wichtig wäre mir, dass ein Buch ein Thema erschöpfend und plausibel behandelt. Wer sich für das Thema Humanismus interessiert, sollte auf andere Quellen wie den von Gala Rebane, Katja Bendels und Nina Riedler herausgegebenen Band „Humanismus polyphon“ zurückgreifen, den ich im Jahre 2010 (ebenfalls für socialnet) besprochen habe. Wer sich dafür interessiert, wie humanistische Entwicklungen aktuell aufgefasst werden, wird z.B. im Internet auf dieser Seite fündig: https://www.innerdevelopmentgoals.org/
Fazit
Die Beschreibungen der Epochen/​Jahrhunderte hinterlassen den Eindruck, dass sie a) beliebig ausgewählt wurden und b) deren wesentliche Inhalte nur bruchstückhaft wiedergeben. Der Anspruch dieses Buches (vgl. erster Absatz dieser Rezension) wird nur ansatzweise erfüllt.
Literaturangaben
Beck, Ulrich (1997). Was ist Globalisierung? Suhrkamp Verlag
Beck, Ulrich (2002). Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Suhrkamp Verlag
Fromm, Erich (1998): Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft; dtv (Orig.: To Have or To Be, New York, Harper & Row 1976)
Mason, Paul (2019). Klare, lichte Zukunft. Eine radikale Verteidigung des Humanismus. Suhrkamp Verlag
Rebane, Gala/Bendels, Katja/​Riedler,Nina (Hg.) (2009): Humanismus polyphon. Menschlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, transcript Verlag
Rifkin, Jeremy (2004). Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft: Neue Konzepte fur das 21. Jahrhundert. Campus Verlag
Wright, Erik Olin (2017). Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus. Suhrkamp Verlag
Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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Zitiervorschlag
Joachim Thönnessen. Rezension vom 01.03.2023 zu:
Wolfgang Frindte: Quo Vadis, Humanismus? Wie wir unsere Menschlichkeit erhalten können - Historische Kontexte, Psychologische Reflexionen, Judenfeindliche Angriffe. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
(Wiesbaden) 2022.
ISBN 978-3-658-36638-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30042.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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