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Lisa Herzog: Das System zurückerobern

Rezensiert von Allison Jebsen, 22.02.2023

Cover Lisa Herzog: Das System zurückerobern ISBN 978-3-534-74708-5

Lisa Herzog: Das System zurückerobern. Moralische Verantwortung, Arbeitsteilung und die Rolle von Organisationen in der Gesellschaft. wbg Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Darmstadt) 2021. 424 Seiten. ISBN 978-3-534-74708-5.

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Thema

Das Buch der Philosophin Lisa Herzog behandelt die moralische Verantwortung von Organisationen und ihre Rolle in der Gesellschaft. Ihre Studie basiert auf qualitativen Interviews mit Menschen aus verschiedenen Branchen. Lisa Herzog legt den Fokus auf die Gemeinsamkeiten von moralischen Dimensionen in privaten und staatlichen Organisationen. Die Autorin versucht, eine Neubewertung der „moralischen Arbeitsteilung“ vorzunehmen und Organisationen zu befähigen, den Fokus auf grundlegende moralische Normen zu legen. Es ist das Ziel der Autorin, moralische Herausforderungen von Organisationen zu untersuchen und Strategien zur „Zurückeroberung“ von moralischen Überlegungen in Bezug auf Arbeitsteilung, Hierarchien und Verantwortung zu entwickeln.

Die Autorin

Lisa Maria Herzog ist eine deutsche Philosophin, die hauptsächlich im Bereich der Ethik und politischen Philosophie arbeitet. Sie ist seit 2019 Professorin am Centre for Philosophy, Politics and Economics der Universität Groningen (Niederlande) und hat zahlreiche Bücher und Artikel veröffentlicht, in denen sie sich mit Themen wie moralischer Verantwortung, Gerechtigkeit und politischer Theorie beschäftigt. Zuletzt hat Lisa Herzog 2022 den Schader-Preis gewonnen. Sie ist auch als öffentliche Intellektuelle und Mitglied in verschiedenen ethischen und politischen Gremien tätig.

Entstehungshintergrund

Das Buch von Lisa Herzog beschäftigt sich mit der moralischen Verantwortung von Organisationen in unserer Gesellschaft, im Kontext der zunehmenden Bedeutung von moralischem und ethischem Handeln in gesellschaftlichen Diskursen, insbesondere im Hinblick auf den Klimawandel sowie den Herausforderungen, die der Fachkräftemangel und die Corona-Pandemie nach wie vor mit sich bringen.

Aufbau

Die qualitative Studie, basierend auf 32 Interviews, wird im Buch in drei Teilen vorgestellt. Der erste Teil umfasst die Einführung in die zugrundeliegenden Theorien und Begriffe wie Moral, Normen und Verantwortung im Kontext Subjekte und Systeme. Im zweiten Teil werden die Begriffe Regeln, Wissensmanagement, Verantwortung in Organisationen, das Selbst und seine berufliche Rolle in diesen, eingeführt. Der dritte Teil beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Rolle von Organisationen, den Chancen und Risiken durch solche und ihre Relevanz für sinnvolle Arbeit in der Zukunft.

Inhalt

Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit der moralischen Verantwortung in schwierigen Kontexten und betont, dass menschliches Handeln von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird. Es wird argumentiert, dass der Kontext eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung moralischen Verhaltens spielt und dass die Annahme, dass Individuen konsistente und stabile Charakterstrukturen haben, oft falsch ist. Die Autorin stellt auch die Theorie vor, dass moralische Normen einen minimalen Konsens in einer pluralistischen Gesellschaft darstellen, und dass Organisationen einen moralisch herausfordernde Kontexte schaffen können. Insgesamt findet eine gründliche und kleinteilige Analyse der moralischen Verantwortung in schwierigen Kontexten statt und liefert wertvolle Einsichten in die Rolle des Kontexts und der Organisation bei der Bestimmung moralischen Verhaltens.

Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit den moralischen Herausforderungen im Organisationsleben. Es werden die Probleme untersucht, die durch regelbasierte Strukturen entstehen können, sowie die Notwendigkeit eines gerechten Wissensmanagements und die Rolle der Organisationskultur als informeller sozialer Raum. Es wird betont, dass Regeln Prozesse zur Hinterfragung benötigen und dass die Organisationskultur ein wichtiger Faktor ist, der das moralische Verhalten von Individuen beeinflussen kann. Um Fehlverhalten zu vermeiden und moralische Fragen zu erkennen, werden Standards in der Organisationskultur vorgeschlagen. Es wird auch darauf hingewiesen, dass Veränderungen der Organisationskultur durch einen Prinzipien-basierten Ansatz und eine offene Kommunikation erreicht werden können, und es werden praktische Lösungsansätze für die Verbesserung der moralischen Integrität in Unternehmen angeführt.

Der dritte Teil des Buches beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Rolle von Organisationen und bezieht sich auf den institutionellen Rahmen, innerhalb dessen sie operieren. Organisationen sind in die Gesellschaft eingebettet und liegen somit in einer Grundstruktur des jeweiligen Nationalstaates, betrieben und gebildet aus Marktwirtschaft und Politik. Nationale Gesetzgebung hat einen großen Einfluss auf sozialen Wandel in einer Gesellschaft und ihre Organisationen. Um moralische Fehler zu vermeiden, müssen Veränderungen in den institutionellen Strukturen vorgenommen werden:

  • ein Beispiel hierfür sind einklagbare, sichere Rechte zum Schutz der Individuen vor Diskriminierung und stärkere Rechte für Einzelne
  • Ein sicherer Arbeitsvertrag, Spielräume für Mitbestimmung
  • und Versicherungen für den Ausstieg aus Missbrauchs- und Gewissensgründen können ebenfalls helfen, Druck auf Organisationen auszuüben

Der Druck von außen ist oft zu viel und ungerecht verteilt, was zu einer hohen Diskrepanz führen kann. Visionen und Hebel, um das System zurückzuerobern, beinhalten die Belohnung moralischer Verantwortung innerhalb der Märkte, zum Beispiel durch neue, rechtlich geregelte Wettbewerbskriterien anhand von Qualität und Preis, und die Förderung von zukünftigen neuen Organisationen und das Lernen von ihnen. Ein politisches Einwirken aus Arbeitsplatzsituationen und rechtliche Verankerung von Versicherungsmöglichkeiten können einen Kulturwandel in Organisationen ermöglichen:

  • Die Beschränkte Haftung durch die rechtliche Form bei Aktiengesellschaften bei Missbrauch aberkennen/​Vergabekriterien verbindlich neu regeln mit Gewicht auf Gemeinwohl und weniger auf die Privilegien der Aktienanleger heute
  • Lizenzen zur Unternehmensführung widerrufen bei massiven Fehlverhalten und höhere Haftung sicherstellen damit vorsichtigere Geschäftspraktiken zu weniger moralischen Verletzungen der Normen führen
  • Verteilung von Wissen neu denken: Organisationen sollen der Gesellschaft dienen und nicht umgekehrt

Diskussion

Die Autorin Lisa Herzog argumentiert, dass der Mensch in Organisationen eine moralische Verantwortung hat, da er moralische Dilemmata spürt und somit einen Wissensvorsprung gegenüber der Organisation hat. Sie betont, dass der Mensch in seiner beruflichen Rolle selbstkritisch reflektieren sollte, bevor er in die Organisation eintritt und die Deutungshoheit über seine moralische Rolle selbst in die Hand nimmt. Herzog zeigt durch die Auswertung der qualitativen Interviews, dass sich die moralische Verantwortung des Menschen bereits in einer täglichen Umsetzung findet und sich beispielsweise durch das Kündigungsverhalten oder verschiedene Verweigerungstaktiken im Arbeitsleben abzeichnen kann.

Sie fordert, dass Organisationen wieder zurück zum Gemeinschaftszweck finden sollen und dass aktienbasierte Organisationsformen deutlich mehr hinterfragt, kontrolliert und entmachtet werden sollen. Sie gibt an, dass viele Organisationen sich zu lange einer moral- und rechtsfreien Wahrnehmung in der Öffentlichkeit sicher sein konnten, sich dies jedoch durch neue Organisationsformen und Anforderungen an Organisationen durch Globalisierung, gesellschaftlichen sowie kulturellen Wandel ändert.

Es kann kritisch gesehen werden, dass die Autorin dem Menschen selbst die Verantwortung für das Anmerken von moralischen Dilemmata in der Organisation gibt, da er meist die Folgen wie Kündigung, Repressalien usw. alleine tragen muss. Auch Whistleblower werden aktuell nicht als Helden, sondern eher als Terroristen oder Staatsfeinde in der Öffentlichkeit angeprangert.

Das Buch strebt auch an, die Lücke zwischen Marktversagen und politischem Versagen durch den Fokus auf Organisationsversagen zu schließen, und eine öffentliche Diskussion um moralische Dimensionen von Organisationen anzustoßen.

Die Autorin und Philosophin Lisa Herzog hat ein wichtiges und gesellschaftlich relevantes Thema erkannt und dieses ebenso praxisnah wie lesefreundlich aufbereitet. Sie erkennt auch die utopische Ausmaße ihrer Forderungen und die Grenzen dieser und räumt realistisch ein, dass es ein langer und mühsamer Prozess der Veränderung in Organisationen sein wird, sich dieser Verantwortung zu stellen. Es geht darum, das grundlegende Verstehen von moralischen Dilemmata in der Gegenwart zu fördern, die immer mehr in der Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert werden. Allerdings ist zu beachten, dass kein Weltgeist oder historischer Automatismus für eine Verbesserung der moralischen Qualität des Systems sorgen wird, und dass nicht-moralische Organisationsstrukturen tief verwurzelt und schwer zu ändern sind.

Fazit

Das System zurückerobern Moralische Verantwortung, Arbeitsteilung und die Rolle von Organisationen in der Gesellschaft“ von Lisa Herzog gibt einen guten Einstieg in die Thematik und erarbeitet schlüssig praxisnahe Umgangsweisen mit ethischen Fragen im Arbeitsalltag.

Rezension von
Allison Jebsen
Studentin im Masterstudiengang frühe Kindheit mit Schwerpunkt Management und Beratung, B.A., Sozialmanagerin im Bereich Kindertagesstätten
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Es gibt 1 Rezension von Allison Jebsen.

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Zitiervorschlag
Allison Jebsen. Rezension vom 22.02.2023 zu: Lisa Herzog: Das System zurückerobern. Moralische Verantwortung, Arbeitsteilung und die Rolle von Organisationen in der Gesellschaft. wbg Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Darmstadt) 2021. ISBN 978-3-534-74708-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30045.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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