Mara Kastein, Lena Weber (Hrsg.): Care-Arbeit und Gender in der digitalen Transformation
Rezensiert von Prof. Dr. Barbara Ketelhut, 01.02.2023

Mara Kastein, Lena Weber (Hrsg.): Care-Arbeit und Gender in der digitalen Transformation.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
220 Seiten.
ISBN 978-3-7799-6739-2.
D: 34,95 EUR,
A: 35,90 EUR.
Reihe: Arbeitsgesellschaft im Wandel. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779962601.
Thema
Die Herausgeberinnen Mara Kastein und Lena Weber konstatieren in ihrem einleitenden Beitrag: „Wechselseitiges Spannungsverhältnis zwischen digitalisierter Erwerbsarbeit, Fürsorgetätigkeiten und Geschlechterverhältnissen“ eine allgemeine Präsenz der Debatten zum Thema Digitalisierung. Kontrovers diskutiert werde die Frage inwiefern Digitalisierung zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen könne oder überwiegend dazu diene, soziale Ungleichheiten zu reproduzieren. Die Herausgeberinnen kritisieren, dass in arbeitssoziologischen Debatten „vor allem männlich geprägte Industrien, Arbeitsfelder und Branchen im Fokus“ (S. 8) stehen, während das Thema der Care-Arbeit einen großen Raum in internationalen feministischen Diskussionen einnimmt. „Der vorliegende Sammelband führt arbeits- und geschlechtersoziologische Perspektiven mit Forschungsperspektiven der feministischen Science and Technology Studies (STS), die sich schon länger mit digitalen Technologien befassen, zusammen. Der Sammelband möchte einen Beitrag dazu leisten, diese verschiedenen bislang noch wenig miteinander verknüpften Forschungsgegenstände und -perspektiven in Austausch zueinander zu bringen und konzeptionelle Erweiterungen sowie empirische Analysen anzuregen.“ (S. 9)
HerausgeberInnen
Dr. Mara Kastein ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und stellvertretende Leiterin der Fachgruppe Technik & Diversity an der Fakultät für Maschinenbau der Universität Paderborn. Dr. Lena Weber ist Teamleiterin des Kompetenzzentrums Frauen in Wissenschaft und Forschung (CEWS) beim GESIS-Leipniz-Institut für Sozialwissenschaften (Standort Köln).
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband ist in drei Schwerpunkte gegliedert
I. Digitale Transformation
II. Männlichkeiten
III. Care/Arbeit
I. Digitale Transformation
Jutta Weber beschreibt in: „Opazität versus Reflexivität. Zur Modellierung der Mensch-Roboter-Interaktion in der Dienstleistungsrobotik“ im Rahmen eines historischen Abrisses, wie seit der allgemeinen Verbreitung von Personal Computern die Benutzungsfreundlichkeit zu Lasten der Durchschaubarkeit ihrer Funktionsweise in den Vordergrund bei der Entwicklung digitaler Technologien rückte (vgl. S. 21). Seit den 1990er Jahren sei eine Tendenz zu beobachten, wonach Künstliche Intelligenz sich nicht mehr überwiegend auf vorprogrammierte Aufgaben beschränke, sondern zunehmend „genetische Algorithmen, evolutionäres Rechnen und andere biologisch inspirierte Berechnungsansätze“ einsetze (S. 22). Das gelte insbesondere für die Entwicklung von humanoiden Robotern, die einerseits auf Mimik, Gestik usw. reagieren und andererseits selbst z.B. über Gesten Emotionen vermitteln können (vgl. S. 24). Jutta Weber sieht in der dabei verbreiteten Verwendung des umstrittenen „Emotionsschemas nach Paul Ekman (1992), das von sechs grundlegenden und universellen Emotionen (Glück, Traurigkeit, Überraschung, Angst, Wut und Ekel) ausgeht“ (S. 24), die Gefahr der Reproduktion von Geschlechter- und ethnischen Stereotypen (vgl. S. 25). Jutta Weber konstatiert einen Paradigmenwechsel in der Konstruktion von sozialen Robotern weg von Robotern als klassisches „Werkzeug mit vorprogrammierten Verhaltensweisen“. Stattdessen werde versucht das Verhalten des Roboters im Nachhinein „durch die Veränderung seiner Rahmenbedingungen zu optimieren“ (S. 29). Dabei verzeichnet Jutta Weber einen Trend, die Funktionsweise der Technologie durch den Einsatz emotional konnotierter „Figuren, Tiere und Humanoide“ unsichtbar zu machen. Sie fordert abschließend „eine intensivierte gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir unsere technologische Kultur gestalten wollen.“ (S. 33)
Susanne Völker, Lisa Handel und Jakob Ginster wollen sich in ihrem Beitrag: „Mehr als menschliche Intraaktionen. Sorge und Ethik in >smarten Welten< “ für „ein Verständnis von Technik stark machen, das mit dem Sozialen verwoben ist“. (S. 38) Sie gehen davon aus, dass smarte Technologien nicht nur von Menschen gestaltet werden, sondern dass diese Technologien ihrerseits „das Soziale und die Machtrelationen in ihrer spezifischen Logik“ verändern (S. 39). Am Beispiel des Einsatzes eines humanoiden Roboters in der Altenpflege fragen sie nach der Gestaltung der Interaktion von Mensch und Maschine, wobei sich zeige, dass der Roboter von den alten Menschen nicht als „bloße Technik erlebt, sonder belebt“ wird, wenn sie z.B. davon ausgehen, dass der Roboter kitzlig sei (S. 43). Die Mensch/​Maschine-Interaktion als bloße Simulation zu verstehen (so Susanne Völker, Lisa Handel und Jakob Ginster), verstelle den Blick auf die Komplexität der Beziehung. Sie gehen ferner darauf ein, inwiefern die zunehmende Automatisierung Tätigkeiten in Pflege sichtbar oder unsichtbar macht und somit „zu Verschiebungen in einem stark stratifizierten, vergeschlechtlichten und degradierten Feld führen“ (S. 45) kann. Im Anschluss setzen sie sich mit Vorstellungen einer nicht-menschlichen Ethik auseinander. In Anlehnung an den Neuen Materialismus (nach Karen Barad) fassen sie zusammen, dass wir uns als Menschen nicht für oder gegen Ver-Antwortung entscheiden könnten „wir sind als Teil der Welt, konstituiert in Relationen, die ethisch sind. Ethik als Fähigkeit zu antworten ist ein Modus der Materialisierung, an dem wir Menschen beteiligt sind, den wir aber nicht beherrschen, der gerade nicht menschlich ist und der viele Beteiligungen – so auch techno-logische – hat.“ (S. 47) Schließlich seien Menschen z.B. in der Interaktion mit Robotern „selbst Teil eines nicht/​menschlichen Gefüges“ (S. 49).
Tanja Carstensen und Almut Peukert fragen in: „Digitale Transformationen in der Sorgearbeit. Wandel von Care durch Robotisierung, Plattformisierung und Virtualisierung“ nach Veränderungen im Kontext digitalisierte Care-Arbeit insbesondere auch in Bezug auf geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen. Sie geben einen kurzen Überblick über Care-Arbeit und -Forschung, worin sie herausarbeiten, dass Care-Arbeit im Kapitalismus „stets krisenhaft und gefährdet organisiert ist, d.h. dass auch unabhängig von Wohlfahrtsstaat und anderen Regulierungen die Möglichkeiten (gute) Sorgearbeit zu leisten von der >Sorglosigkeit< des Kapitalismus erschwert oder verunmöglicht wird“ (S. 55). Dies sei der Fall, wenn Pflege entweder den Privathaushalten und darin überwiegend Frauen auferlegt werde oder wenn professionelle (überwiegend weibliche) Pflegekräfte niedrig entlohnt werden. Ihren Schwerpunkt legen Tanja Carstensen und Almut Peukert auf drei Bereiche der Digitalisierung, indem sie sich auf aktuelle empirische Studien beziehen: den Einsatz von Robotern in der Pflege, die Vermittlung von Pflege- und Hausarbeit durch Internet-Plattformen sowie die Verwendung von „Apps und Social-Media für die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit“ (S. 61).
Durch den Einsatz von Robotern werde deutlich, welche Tätigkeiten neben den klassischen pflegerischen, beiläufig von Pflegenden erledigt und nicht von Robotern übernommen werden, was zu einer neuen Sichtbarkeit von vielfältigen bis her unbeachteten Tätigkeiten in der Pflegearbeit beitrage.
Die Vermittlung von Dienstleistungen durch Internet-Plattformen weise in den meisten Fällen ein hierarchisches Gefälle zwischen Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen auf. Letztere könnten sich die Dienstleistenden aussuchen und bewerten, was in der Regel für diese nicht vorgesehen sei und von der einzelnen Plattform abhänge. Tanja Carstensen und Almut Peukert sehen in dieser Art der Vermittlung zum einen Verbesserungsmöglichkeiten für Pflegende, wenn bisherige informelle Arbeit zur formellen werde, zum anderen aber auch die Gefahr der Verdrängung von qualifizierter Pflege (vgl. S. 60).
Social-Media und Apps, die vielfache Anwendung in den Privathaushalten finden, erleichterten die Alltagsorganisation, „befördern aber gleichzeitig dessen weitere Verdichtung und Orientierung an Effizienz“ (S. 62). Tanja Carstensen und Almut Peukert kommen zu dem Resümee: „Konstitutiv für Care-Arbeit bleibt, jenseits von Technik, die Art und Weise wie Arbeitsteilung, Arbeit und Geschlechterverhältnisse interaktiv prozessiert werden“ und wie sie „gesellschaftlich organisiert“ sind (S. 64).
Fabienne Décieux geht in ihrem Beitrag: „Transformationen der Sorgearbeit? Sozialinvestive Politiken in Kinderbetreuung und Altenpflege unter Vorzeichen (digitaler) Technologien“ von drei Tendenzen im neoliberalen Kapitalismus aus, die sie an Hand von Beispielen und Entwicklungen vor allem in Deutschland und Österreich beschreibt.
1. Es fände eine „Transnationalisierung von Arbeit und Politik“ auch in der Care-Arbeit statt, wenn mittelständische Familien Migrantinnen beschäftigen um eine 24-Stunden-Altenpflege zu gewährleisten.
2. Mit der Einführung der digitalen Dokumentation von Arbeitsabläufen im medizinischen und Pflegebereich habe sich eine Ökonomisierung von Pflege, d.h. eine betriebswirtschaftliche Orientierung, verschärft, die inzwischen bis zum Einsatz von Robotern reiche.
3. In Anlehnung an Gösta Esping-Andersen u.a. (2002) geht sie auf den „Umbau des Wohlfahrtsstaates hin zu „workfare“ mit sozialinvestiven Elementen“ ein. Hierbei werden „kostenintensive und einen Return of Investment versprechende Maßnahmen in der Sozialpolitik unterschieden.“ (S. 69) In Bezug auf den Einsatz digitaler Technologien ständen im Bereich der Pflege „Rationalisierungsaspekte klar im Vordergrund; es geht um eine effiziente und kostengünstige Bearbeitung der zunehmend aufkommenden Sorgebedarfe.“ (S. 79) Anders sähe es in der Kinderbetreuung aus, wo ein “digitaler Technikeinsatz in dem Umfang, wie er in der Pflege thematisiert wird, aktuell weniger denkbar“ sei (S. 79) Denn hier gehe es vor allem um pädagogische Hilfsmittel z.B. zur Vermittlung von Medienkompetenz, also einer Investition in Bildung und somit in die Zukunft kommender Generationen – also einem „Return of Investment“ (S. 69).
II. Männlichkeiten
In Anlehnung an theoretische Ansätze zur Subjektposition (nach Michèl Foucault und Pierre Bourdieu) und dem Konzept der hegemonialen Männlickeit (nach Raewyn W. Connell und Michael Meuser) gehen Tanja Paulitz und Bianca Prietl in ihrem Beitrag: „Wie männlich ist die digitale Avantgarde? Zum Verhältnis von Technik und Männlichkeit“ davon aus, dass die „Mechanismen der geschlechtlichen Kodierung des Ingenieurs … Aufschluss über die … Persistenz der Geschlechterasymmetrien im Bereich der Technik geben“ können (S. 86). Sie analysieren dazu Enzyklopädien, Diskurse in Fachzeitschriften und Ergebnisse ihrer qualitativen Interviews mit Vertreter*innen verschiedener technischer Bereiche. In Form eines kurzen historischen Abrisses zeigen Tanja Paulitz und Bianca Prietl, wie sich das Bild des Ingenieurs im deutschsprachigen Raum seit dem 19. Jahrhundert vom „Kriegsbaumeister“, dem „Maschinenwissenschaftler“ (S. 92) über die „Führungspersönlichkeit“ im Nationalsozialismus (S. 93) bis hin „zur Selbstpositionierung zwischen Theorieorientierung vs. Anwendungsorientierung“ (S. 94) immer wieder im Kontext gesellschaftlicher Strukturen verändert hat. Die männliche Konnotation des Ingenieurs sei gerade wegen dieser Flexibilität in Form von geschlechtlicher Neutralisierung und expliziter Maskulinisierung aufrecht erhalten worden (vgl. S. 95). Abschließend stellen sie die Frage nach Männlichkeitskonstruktionen in drei Veröffentlichungen der sogenannten „digitalen Bohème“ und finden dabei erste „Hinweise auf neutralisierende wie auf maskulinisierende Subjektentwürfe“ (S. 100).
Göde Both und Lena Weber zeigen in: „Männlichkeit im Forschungsfeld >autonomes Fahren<. Zwischen Restabilisierung und Verunsicherung“ an Hand einer Feldforschung (basierend u.a. auf ethnografischen Interviews und teilnehmender Beobachtung aus den Jahren 2012 bis 2015 eines Forschungsprojektes) zum autonomen Autofahren (S. 106), wie die daraus entstehenden speziellen Anforderungen von den männlichen Teilnehmenden konstruiert werden: So werden z.B. Probefahrten mit autonom fahrenden Testfahrzeugen zum Abenteuer und zu „einer Eroberung der Straßen“ (S. 115) oder die stete Fürsorge, die sich dabei sowohl für Wartung und Erhalt des Fahrzeugs als auch für andere im Straßenverkehr ergibt, zu einer „elitäre[n] Tätigkeit, die nur ausgewählten erfahrenen Mitgliedern des Teams zukommt“ (S. 115). „Die taking care of-Praktiken verunsichern das Männlichkeitsideal des selbstbestimmten, unabhängigen Individuums und die Vision des sorglosen autonomen Fahrens, daher wird dies von den Beteiligten verdeckt und heruntergespielt.“ (S. 116) Männlichkeitskonstruktionen, die traditioneller Weise mit Schrauben und Tunen oder mit der Identifikation mit besonders schnellen Fahrzeugen, verbunden sind, wechseln entsprechend den neuen Anforderungen zur Computerbegeisterung und bedienen so eine andere Männlichkeitskonstruktion.
An Hand von Auszügen aus qualitativen Interviews eines Forschungsprojektes (vgl. S. 120) schildern Mara Kastein, Josefine Finke, und Ilona Horwarth in: „Waschen, Warten, Wege ebnen. Ambivalente Fürsorge und der männliche Heldenmythos in der Feuerwehr“ wie das männlich dominierte Feuerwehrwesen dazu beiträgt, dass „hegemoniale Männlichkeit“ u.a. durch Ausgrenzung, wie z.B. einer Muslima, verstärkt wird (vgl. S. 130), aber auch Fürsorgepraktiken hervorbringen kann, wenn z.B. Feuerwehrleute, die mit der Reinigung einer Flüchtlingsunterkunft betraut sind, auf Eigeninitiative partiell an der Freizeitgestaltung dort untergebrachter Kinder mitwirken (vgl. S. 126).
III. Care/Arbeit
Lana Kaun, Edelgard Kutzner, Melanie Roski und Ninja Ulland vergleichen in ihrem Beitrag: „Potenziale für neue Geschlechterarrangements durch digitalisierte Arbeit“ im Rahmen von zwei qualitativen Studien, die sie u.a. basierend auf leitfadengestützten Interviews und Expert*innengesprächen durchgeführt haben, Auswirkungen von Digitalisierung auf Geschlechterverhältnisse im Bereich der eher männerdominierten industriellen Produktionsarbeit und der eher frauendominierten kaufmännischen Sachbearbeitung (S. 139). Ihre Analysekriterien sind „Arbeitsinhalte und Arbeitsteilungen, berufliche Entwicklungsmöglichkeiten, Arbeitsbewertung und Entlohnung sowie die Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit“ (S. 139). Sie kommen u.a. zu dem Ergebnis, dass Digitalisierung zur Verbesserung der Arbeitssituation von Frauen im Kontext der genannten Analysekriterien beitragen, z.B. in der Verwaltung von Immobilien (vgl. S. 143) oder im Gegenteil z.B. in der Verwaltung von Bestellungen zu mehr Routinetätigkeiten führen kann. Im Bereich der industriellen Produktion sei deutlich geworden, dass zum Teil auf Automatisierung zugunsten billiger Frauenarbeit verzichtet werde (vgl. S. 142). Dass Homeoffice zu einer verbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Sorgearbeit beiträgt, werde von vielen Befragten in Frage gestellt (vgl. S. 146). Die Autorinnen konstatieren resümierend: „Letztlich ist es aber weniger die Technik selbst, die zu Veränderungen führt, sondern die Organisation von Arbeit“ (S. 148).
Anja-Kristin Abendroth und Antje Schwarz stützen ihren Beitrag: „Crowdwork, Plattformabhängigkeit und geschlechtsspezifische Vereinbarkeitskonflikte von Erwerbsarbeit und Privatleben“ auf eine Auswertung quantitativer Daten, die zwar nicht auf einer zufallsgenerierten Stichprobe basieren (vgl. S. 165), aber dennoch Tendenzen aufzeigen könnten. Sie fragen danach, inwiefern Crowdworking, also über digitale Plattformen organisierte Erwerbsarbeit, Auswirkungen auf die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit hat. Gerade eine Plattformabhängigkeit, die durch finanzielle, örtliche oder zeitliche Einschränkungen von Flexibilität bedingt sei, könne dazu beitragen, Vereinbarkeitsprobleme eher noch zu verschärfen (vgl. S. 164).
Ausgehend von einer vertikalen und horizontalen Geschlechtersegregation auf dem Arbeitsmarkt fragt Katja Dill in ihrem Beitrag „Coding gender@work. Diskriminierung durch intelligente Tools“ nach der Reproduktion von Geschlechterverhältnissen im Kontext digitalisierter Verfahren zur Stellenbesetzung. An Hand verschiedener digitaler Systeme zur Formulierung von Stellenangeboten, zur „Kandidt:innensuche in internen Datenbanken und Social-Media-Kanälen“ (S. 174), zum Sichten und Prüfen von Bewerbungen sowie zu Auswahlverfahren zeigt sie u.a. exemplarisch auf, wie solche Systeme dazu beitragen können, Diskriminierungen zu reproduzieren. In Ergänzung zu den Begriffen „performance“ (von Judith Butler), „staging gender“ (von Gabriele Brandstetter) schlägt sie „codiering gender“ vor (S. 178 f.), um nicht nur zu erfassen, wie und auf welcher Bühne Menschen agieren, sondern zudem „die mimetischen Prozesse der Technologien, die in die Systeme codiert und in ihrer Multiplikation eingeschrieben und gefestigt werden.“ (S. 179). Zu diesen mimetischen Prozessen gehören u.a. die Gesichtserkennung und die Erstellung psychologischer Profile, was bedeutet, dass die Entwicklung der genannten Systeme auf Strategien und Kategorien bisheriger nicht-digitalisierter Verfahren basiere und somit Gefahr laufe Geschlechterstereotype zu reproduzieren.
Verena Rossow stellt in: „Sorge mittelbar. Online Vermittlung von Live-in-Settings und distance carers“ ihre qualitative empirische Studie mit 14 Frauen und Männern vor, die über eine Internet-Plattform migrantische Pflegekräfte engagiert haben, um ihre pflegebedürftigen Angehörigen rund um die Uhr in deren Haushalt pflegen zu lassen. Dabei erfolgt die Vermittlung der Pflegekräfte über Agenturen, die mit einer passgenauen Pflegekraft werben, die sie aufgrund von Typisierungen und Standardisierungen ermitteln. Als ein wesentliches Ergebnis hält Verena Rossow fest, dass „sorgende Angehörige“ „weiblich konnotierte, als familiär gerahmte Live-in-Arbeit“ kaufen, wobei sie sich selbst jedoch nicht als Arbeitgeber*innen“ sehen (S. 197), sondern vor allem als Kund*innen einer Agentur.
Miriam Fahimi befragte ausgehend von der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Pflege und einer „Entkoppelung von Technologieentwicklungsprozessen von den Pflegekräften“ sieben Pflegerinnen und einen Pfleger aus der „stationären, geriatrischen Langzeitpflege in Österreich“ im Rahmen einer qualitativen Studie nach Produktion und Reproduktion von „Geschlechterordnungen am Arbeitsplatz“ (S. 200 f.) im Kontext digitaler Pflegetechnologie. Sie stellt ihre Ergebnisse in: „Caring 4.0. Geschlechter(un)ordnungen in der digitalen Pflegearbeit“ vor: Computergestützte Dokumentation beeinflusst die Pflegetätigkeiten und die darin enthaltenen Zeitvorgaben passen oftmals nicht zu den Aufgaben. Technologisierte akute Kurzzeitpflege wird männlich konnotiert, beziehungsorientierte Langzeitpflege weiblich. Obwohl Technikaffinität allen Befragten männlichen Pflegekräften zugesprochen wird, sind es eher weibliche Pflegekräfte die einen therapeutischen Roboter einsetzen.
Diskussion
Der Sammelband vermittelt einen breiten Überblick über den Forschungsstand zum Thema. Zwar stellen die beiden Herausgeberinnen in ihrem einleitenden Beitrag: „Wechselseitiges Spannungsverhältnis zwischen digitalisierter Erwerbsarbeit, Fürsorgetätigkeiten und Geschlechterverhältnissen“ (S. 7) jeden einzelnen Beitrag kurz vor, verzichten aber leider auf ein abschließendes Resümee.
Einige Beiträge regen zu weiterführende Fragen an, die sich aus den Ergebnissen ergeben, aber nicht gestellt werden: Was bedeutet es, wenn wie in verschiedenen Beiträgen (z.B. in dem von Anja Carstensen und Almut Peukert) konstatiert wird, dass durch die Entwicklung von Robotern Tätigkeiten in der Pflege sichtbar werden, die sonst unberücksichtigt blieben? Wer stellt diese zusammen und macht daraus z.B. Vorschläge für die Festlegung von Pflegestufen? Was bedeutet es für die Pflegenden und Pflegebedürftigen, wenn die Arbeitsverhältnisse von den Angehörigen der zu Pflegenden, die die Vermittlung einer Agentur in Anspruch nehmen nicht als Arbeitsverhältnisse gesehen werden, wie Verena Rossow aufzeigt?
Für überdenkenswert halte ich die z.T. sehr breite Verwendung des Begriffs der Fürsorge, wenn er nicht nur für den Umgang mit Menschen, sondern auch mit Maschinen, z.B. Autos, verwendet wird, wie in dem Beitrag von Göde Both und Lena Weber, wo ein Auto zum „Gegenstand … fürsorglicher Praktiken wird“ (S. 112). Hier besteht m.E. auf Dauer die Gefahr, dass Wartungsarbeiten, die in der Regel von Männern vorgenommen werden, nicht mehr von den Sorgearbeiten, die überwiegend von Frauen durchgeführt werden zu unterscheiden sind und damit Geschlechterverhältnisse unsichtbar werden.
Es mag der Kürze der Beiträge von jeweils ca. 15 Seiten geschuldet sein, dass sich die empirischen Grundlagen, auf der die Ergebnisse basieren nicht in jedem Beitrag erschließt. So wird z.B. nicht immer deutlich, aus welchem Material Tanja Paulitz und Bianca Prietl ihre Ergebnisse jeweils erzielen und wie viele Interviews sie mit wem geführt haben.
Fazit
Die verschiedenen bislang noch wenig miteinander verknüpften Forschungsstränge von Arbeitssoziologie und internationaler feministischer Care-Forschung zu verbinden, stellt das explizite Anliegen des Sammelbandes dar. Zwölf Beiträge liefern insgesamt einen Überblick über Auswirkungen von Digitalisierungen in den Geschlechterverhältnissen im Kontext eines weit gefassten Sorge-Begriffes. Ergebnisse sind u.a., dass sich zwar Männlichkeitskonstruktionen verändern, aber erhalten bleiben, ähnliches gilt für Probleme der Vereinbarung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Zudem werden einzelne Tätigkeiten im Kontext der Pflege durch Automatisierung sichtbar, die sonst unbeachtet von Frauen geleistet werden.
Rezension von
Prof. Dr. Barbara Ketelhut
(im Ruhestand)
Hochschule Hannover, University of Applied Sciences and Arts
Homepage www.hs-hannover.de
E-Mail: barbaraketelhut@aol.com
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Es gibt 15 Rezensionen von Barbara Ketelhut.
Zitiervorschlag
Barbara Ketelhut. Rezension vom 01.02.2023 zu:
Mara Kastein, Lena Weber (Hrsg.): Care-Arbeit und Gender in der digitalen Transformation. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
ISBN 978-3-7799-6739-2.
Reihe: Arbeitsgesellschaft im Wandel. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779962601.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30069.php, Datum des Zugriffs 09.06.2023.
Urheberrecht
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