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Ulrike Guérot, Hauke Ritz: Endspiel Europa

Rezensiert von Johannes Schillo, 01.12.2022

Cover Ulrike Guérot, Hauke Ritz: Endspiel Europa ISBN 978-3-86489-390-2

Ulrike Guérot, Hauke Ritz: Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist und wie wir wieder davon träumen können. Westend Verlag GmbH (Neu-Isenburg) 2022. 208 Seiten. ISBN 978-3-86489-390-2. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR.

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Thema

Thema des Buchs ist die Misere des Europaprojekts, die die Autoren vor allem an ihrem Schlusspunkt, dem – einem US-Diktat folgenden – Weg der EU zur (indirekten) Beteiligung am Ukrainekrieg, festmachen und die sie mit einer Vision konfrontieren. Diese hat eine wirkliche europäische Staatlichkeit als Motor einer kontinentalen Friedensordnung zum Inhalt, wobei in dem Konzept dem Ausgleich mit der Russischen Föderation und der europäischen Emanzipation von der weltpolitischen Führungsrolle der USA besonderes Gewicht zukommt.

Autoren

Die Politikwissenschaftlerin Dr. Ulrike Guérot, Autorin und Aktivistin in Sachen europäische Integration, hat seit dem Herbst 2021 eine Professur für Europapolitik an der Universität Bonn inne. Der Publizist Dr. Hauke Ritz war nach einer Dissertation zur Geschichtsphilosophie an verschiedenen Hochschulen tätig, zuletzt für den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) in Moskau.

Entstehungshintergrund

Guérot ist vor allem seit ihren Statements, die autoritäre Tendenzen in der Politik der Pandemiebekämpfung angriffen, zu einer Außenseiterin des öffentlichen Diskurses geworden. Nachfolgend wurde sie mit (bislang in ihrer Tragweite ungeklärten) Plagiatsvorwürfen konfrontiert. Es gibt Stimmen aus Medien und Wissenschaft, die ihre Entlassung als Hochschullehrerin oder ihre Ausgrenzung aus der seriösen Diskurskultur fordern. Auf diese Situation reagiert jetzt Guérot (samt Ko-Autor, dessen Beiträge nicht eigens ausgewiesen sind) mit ihrer neuen Schrift, die also nicht nur einen Beitrag zur öffentlichen Debatte, sondern auch einen wissenschaftspolitischen Akt darstellt.

Aufbau und Inhalt

Das Buch konstatiert eine weitgehende Formierung der westlichen Öffentlichkeit, in der „die pluralen demokratischen Medienlandschaften“ (156) zugunsten eines Propagandakriegs verloren gegangen seien, und will in der Form eines Essays dazu Stellung nehmen. Es ist also keine erschöpfende Abhandlung beabsichtigt, sondern im Anschluss an Adornos Überlegungen zum „Essay als Form“ eine gedankliche Suchbewegung, die sich einem – auch wissenschaftlich auftretenden – „Herrschaftsanspruch“ (Adorno) entgegen stellen will. Das kurze Vorwort benennt diese formale Besonderheit sowie den Hauptinhalt, der aus zwei Thesen besteht: „zum einen, dass die EU als politisches Projekt gescheitert ist; zum andern, dass das Russland-Bild im Westen falsch oder doch zumindest sehr unzureichend ist“ (14).

Die nachfolgende Einleitung skizziert die europäische Lage seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Durch die Parteinahme der EU für den „Stellvertreterkrieg der NATO gegen Russland“ sei Europa als Friedens- und kontinentales Versöhnungsprojekt gescheitert: „Verteidigt wird ein Nationalstaat, obwohl Europa die Überwindung des klassischen Nationalstaats sein sollte“ (21). Der Weg zu einem „europäischen Bundesstaat“ (22) sei nun definitiv aufgegeben, wobei dies einerseits auf das Versagen der Europapolitiker, andererseits auf die US-Strategie, „Europa wieder an sich zu binden und eine politische Emanzipation Europas zu unterminieren“ (27), zurückgeführt wird. Dabei wird das politische Europa immer wieder „als Idee“ (22), als „Traum“ (30) bestimmt, basierend auf einer kulturellen Tradition des Abendlands, die Russland konstitutiv einschließt.

Der erste Teil über die „europäischen Träume der 1990er Jahre“ geht der Entstehung dieses Politikversagens – der Kombination von eigener Unentschlossenheit und amerikanischer Entschiedenheit – im Einzelnen nach. Die Autoren, die sich auf amerikanische Quellen und Experten (Brzeziński, Wolfowitz, Mearsheimer) stützen, zielen darauf, „dass der russisch-ukrainische Krieg ein lange vorbereiteter amerikanischer Stellvertreterkrieg ist, eine Apotheose jahrzehntelanger amerikanischer Geostrategie, deren eigentliches Ziel die Verfestigung amerikanischer Dominanz in Europa ist“ (34). Der Nachweis wird zunächst am europäischen Aufbruch nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes durchgeführt – d.h. an einer Entwicklung, in der von Anfang an Halbherzigkeit der europäischen und zielstrebige Intervention der amerikanischen Politik zu verzeichnen gewesen seien.

Der zweite Teil über die 2000er Jahre thematisiert den Abbruch nach dem Aufbruch, was wieder in der doppelten Fassung geschieht: paradigmatisch auf der einen Seite das Faktum, dass die CDU 1998 das Ziel eines europäischen Bundesstaates aus ihrem Parteiprogramm entfernte (69), auf der anderen Seite, dass es US-Minister Rumsfeld im Vorfeld des (völkerrechtswidrigen) Irak-Kriegs gelang, Europa in „old“ und „new“ zu spalten (76). Die Folge waren demnach EU- und Osterweiterung unter der Leitlinie, dass sie sich gegen das unter Putin wieder erstarkende Russland richten und die US-Suprematie auf dem Globus nicht in Frage stellen.

Im Dritten Teil wird das bis zum Beginn des Ukrainekriegs fortgeführt, wobei die Autoren besonderen Wert darauf legen, den westlichen Beitrag zur Herbeiführung dieser Konfliktlage herauszuarbeiten – von der Fokussierung der US-Strategie auf die Ukraine (etwa gemäß den Machtprojektionen eines Brzeziński im Namen der „einzigen Weltmacht“ USA) bis hin zu den einzelnen Aus- und Aufrüstungmaßnahmen der NATO in Osteuropa, vor allem nachdem die Kiewer Regierung im März 2021 ihre neue Militärdoktrin verabschiedete, die auf die Rückeroberung der unbotmäßigen Ostprovinzen zielte. Diesen westlichen kriegsvorbereitenden Maßnahmen ist das Schlusskapitel „Die Eskalation beginnt“ (131-142) gewidmet. Laut den Autoren „werfen die beigebrachten Fakten durchaus die Frage auf, wer diesen Krieg wirklich begonnen hat“ (132).

Der Schlussteil fragt danach, „wie wir wieder von Europa träumen können“ (143), und entwirft dazu das Szenario einer „europäischen Republik“, womit ein „handlungsfähiger Staat“ gemeint ist, d.h. „ein funktionierender, souveräner Staat“ (167), der die nationale Borniertheit überwindet. Dabei seien vor allem die europäischen Werte und die kulturelle Tradition gefragt, wozu bestätigend der Europa-Politiker Monnet zitiert wird: „Wer Europa will, muss bei der Kultur anfangen“ (149). Den Topos vom Träumen ergänzen die Autoren dabei gelegentlich – dem Realismus Tribut zollend – um einen Rekurs auf die praktizierte Politik. So heißt es zur Vision eines „europäischen Staates“ mit Blick auf die amtierende BRD-Regierung: „Wer das für Spinnerei hält, der möge ins Koalitionsprogramm schauen“ (167).

Diskussion

„Der kontinentale, föderale Traum stellt eine lange, durchaus realistische Konstante deutscher oder auch französischer Nachkriegspolitik dar“ (30), heißt es resümierend in der Einleitung, die diesen – bereits im Titel des Buchs angesprochenen – politischen Traum vorstellig machen will. Damit wird der Widerspruch, von dem das Buch handelt, deutlich: Realistisch betrachtet – das liefert die starken Passagen des Buchs – ist das Gegenteil von dem der Fall, worauf es den Autoren ankommt. Und es wird zudem immer wieder deutlich, etwa beim Versagen des „deutsch-französischen Tandems“, bei der problembeladenen Einführung des Euro oder beim Streit über die europäische Verfassung, dass dies dem Aufbruchsprozess der EU von Anfang an einbeschrieben war. Die Autoren erwähnen auch konsequent und ehrlich solche retardierenden, widersprüchlichen Momente; insofern kann man ihnen nicht den Vorwurf der Einseitigkeit, der Auslassung wichtiger Informationen oder der Weltfremdheit machen, wie es in ersten Stellungnahmen mit deutlicher Schärfe geschah. So sprach der Bonner Kollege Guérots, der Osteuropa-Experte Martin Aust, kategorisch von der „Unwissenschaftlichkeit des Buches“ und forderte Guérot auf, von ihrer Professur zurückzutreten („Provokant, schrill und anmaßend“, General-Anzeiger, 12/13.11.2022).

Die Hauptprovokation des Buchs – die These, dass Putin den Krieg nicht aus heiterem Himmel begonnen hat, sondern durch einen von langer Hand geplanten NATO-Aufmarsch provoziert wurde, dass es also eine Vorgeschichte der Militarisierung gab – ist gut belegt und wird auch differenziert, ohne Schwarweißmalerei, die einer Seite allein die Schuld gibt, vorgetragen. Die offenkundige Schwäche des Buchs dagegen, dass es seinen Ausgangspunkt explizit bei einem „Traum“ von Europa nimmt, also gar nicht von der Sachlage, sondern von einer Wunschvorstellung herkommt (für die sich allerdings illustre Namen wie Monnet, Delors, Kohl, Gorbatschow anführen lassen), muss man konstatieren. Sie kann aber kein Grund für den Wissenschaftsbetrieb sein, eine solche Wortmeldung als unseriös auszugrenzen. Das Buch des Osteuropa-Experten und Hochschullehrers Stefan Creuzberger etwa über „Das deutsch-russische Jahrhundert“, das kurz vor der russischen Invasion erschien (und auf das sich Guérot/Ritz u.a. beziehen), geht in ähnlicher Weise kontrafaktisch vor. Der Autor lotet – in historischer Perspektive – Potenziale im binationalen Verhältnis aus, mit denen Deutschland eigentlich seine eigene „koordinierende Rolle“ auf dem Kontinent unter Beweis stellen könnte und sollte. Dies ist auch bewusst als Dementi des Urteils gemeint, das 20. sei ein amerikanisch geprägtes Jahrhundert gewesen. Ein solcher Idealismus, der „eigentliche“ Wirkkräfte oder verschüttete, noch nicht realisierte Potenziale zur Sprache bringt und damit eine wissenschaftliche Arbeit strukturiert, erregt im akademischen Betrieb oder in der interessierten Öffentlichkeit keinen Anstoß. Der heftige Widerspruch, auf den Guérot und Ritz stoßen, resultiert also nicht aus dem essayistisch vorgetragenen Spannungsverhältnis von eigenen, hoch gesteckten Zielvorstellungen und der dahinter zurückbleibenden Wirklichkeit des politischen Geschehens. Hier macht sich vielmehr die neue Ausrichtung des öffentlichen Diskurses seit der von Kanzler Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ bemerkbar: Die Konstruktion von Modellen und Szenarien zu einer möglichen Problemlösung geht in Ordnung, aber die Kritik an der NATO-Linie führt in einen akademischen No-Go-Bereich.

Fazit

Das Buch liefert einen fulminanten Essay zum Widerspruch von europäischer, transnationaler Idee und erneuter konfliktgeladener Realität auf dem europäischen Kontinent, wobei es sich bewusst in Widerspruch zur vorherrschenden Einordnung des transatlantischen Verhältnisses, der Genese des Ukrainekriegs und der Rolle der Russischen Föderation setzt. Es will dabei keine theoretisch erschöpfende Abhandlung über die Kriegsträchtigkeit des modernen Nationalismus leisten, sondern Möglichkeiten zu dessen Überwindung ausloten. Dazu riskiert es eine provokative Zuspitzung, die den akademischen wie öffentlichen Diskurs herausfordert, ohne aber die Faktenbasis aus dem Auge zu verlieren.

Rezension von
Johannes Schillo
Sozialwissenschaftler und Autor
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Es gibt 21 Rezensionen von Johannes Schillo.

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ISSN 2190-9245